Sudetendeutsche Anstalt für Landes- und Volksforschung, Reichenberg

1. Kurzbeschreibung der Institution

Die Sudetendeutsche Anstalt für Landes- und Volksforschung (SALV) wurde am 13. Oktober 1940 in Reichenberg/Liberec als Zentrum der "sudetendeutschen" außeruniversitären Wissenschaft im Reichsgau Sudetenland gegründet.[1] Sie knüpfte an die seit 1925 unter der Leitung Erich Gierachs (1881–1943) bestehende "Anstalt für sudetendeutsche Heimatforschung"[2] an und stand für eine in der NS-Zeit wirkende, politisierte Wissenschaft, die sich in den Dienst des "Volkstumskampfes" stellte.

2. Aufgaben

Zu den Aufgaben der Anstalt gehörte laut Satzung die Erforschung der "Sudetenländer" und des östlichen und südöstlichen Europa.[3] Sie sollte vordringlich Fragen behandeln, die aus "volkspolitischen und wirtschaftlichen Gründen" wichtig erschienen.

Bild

Rückseite der Ackermann-Medaille
[Sudetendeutsche Landes- und Volks-
forschung, Reichenberg 1942, S. 2].

Enge Verbindungen bestanden zu der Deutschen Karls-Universität Prag, der Reinhard-Heydrich-Stiftung und der Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft (NOFG).[4] Die SALV entfaltete eine rege Publikationstätigkeit und setzte die Herausgabe bereits von der "Anstalt für sudetendeutsche Heimatforschung" veröffentlichter Periodika und Quelleneditionen fort. Zusammen mit der Reinhard-Heydrich-Stiftung gab sie die Zeitschrift Deutsche Volksforschung in Böhmen und Mähren heraus.

Die SALV verlieh jährlich die Ackermann-Medaille für eine "besonders verantwortungsbewusste kämpferische Wissenschaft im Dienste des Deutschtums der Sudetenländer".[5] Preisträger waren in den Jahren 1940–1943 Erich Gierach, Emil Lehmann (1880–1964),[6] Wilhelm Wostry (1877–1951) und Kleo Pleyer (1898–1942, posthum).

3. Organisation

Gauhauptmann Anton Kreißl (1895–1945) führte die Arbeiten der SALV als Anstaltsleiter. Ihm stand als Stellvertreter der Leiter der Abteilung für Kultur- und Gemeinschaftspflege des Reichsgaus Sudetenland, Kurt Oberdoffer (1900–1980),[7] zur Seite. Geschäftsführender Direktor war der Reichenberger Lehrer Franz Runge (1886–1956).

Im Jahre 1943 zählte die SALV 176 ordentliche, 138 außerordentliche bzw. fördernde Mitglieder sowie drei Ehrenmitglieder.[8] Die ordentlichen Mitglieder waren überwiegend Universitätsprofessoren an der Deutschen Prager Universität.

Die Arbeit der Anstalt fand in zehn Fachkommissionen statt:[9]

  1. Kommission für Raum- und Bodenforschung (Gerhard Ziegler)
  2. Kommission für Vor- und Frühgeschichte (Hermann Schroller[10])
  3. Kommission für Geschichte (Wilhelm Wostry[11])
  4. Kommission für Volkskunde (Bruno Schier[12])
  5. Kommission für Siedlungs- und Sprachforschung (Erich Gierach[13])
  6. Kommission für Rechts- und Wirtschaftsforschung (Wilhelm Saure[14])
  7. Kommission für Kunst- und Schrifttumsforschung (Rudolf Hönigschmid[15])
  8. Kommission für Slawenkunde (Franz Künzel[16])
  9. Kommission für Naturforschung (ab 1941) (Viktor [Czurda] Denk[17])
  10. Kommission für Rassen- und Sippenforschung (erst ab 1943 aktiv) (Karl Thums[18])

Außerdem bestand eine Forschungsstelle für Geologie in Friedeberg/Žulové. Der Volkskundler Josef Hanika betrieb in Eger/Cheb die Forschungsstelle für Volkskunde und ein Museum für Volkskunde.[19] Ab 1942 wirkte zudem im Rahmen der Historischen Kommission unter der Leitung Rudolf Jahns eine Forschungsstelle für Politik und Zeitgeschichte.

Der Forschungsrat der SALV setzte sich aus den Leitern der einzelnen Fachkommissionen und Vertretern der Gau- und NSDAP-Parteileitung des Reichsgaus Sudetenland zusammen und war vor allem für die Planung der Forschungsarbeit zuständig.

4. Geschichte

Eine genaue Untersuchung der SALV liegt bis heute trotz der Zugänglichkeit ihrer Archivbestände nicht vor und stellt ein Desiderat der Forschung dar.[20] Nach der Errichtung des Reichsgaus Sudetenland wurde die "Anstalt für sudetendeutsche Heimatforschung" – wie alle anderen Vereine, Stiftungen usw. – zunächst einem sog. Stillhaltekommissar unterstellt. Im August 1939 erfolgte die offizielle Auflösung. An ihrer Stelle entstand die SALV zunächst als Ressort der Abteilung für Kultur- und Gemeinschaftspflege der Gauselbstverwaltung, bis sie durch Gauleiter und Reichsstatthalter Konrad Henlein (1898–1945) im Sommer 1940 als Selbstverwaltungskörperschaft des Reichsgaus Sudetenland unter ihrem neuen Namen die Arbeit wieder aufnahm. Die Anstalt sollte laut Satzung die Arbeit von Partei und Staat durch wissenschaftliche Expertisen unterstützen. So lieferte sie bspw. Gutachten zur Eindeutschung tschechischer Orts- und Personennamen.[21] Geplante größere Forschungsprojekte waren eine zehnbändige Quellenedition zur "Geschichte des politischen Volkstumskampfes im Sudetenraum von seinen Anfängen im 19. Jahrhundert bis auf die Gegenwart". Deutlich sind in vielfacher Hinsicht die Kontinuitäten zwischen der "Anstalt für sudetendeutsche Heimatforschung" und der SALV. Letztere betrieb einerseits Untersuchungen zum Deutschtum, andererseits eine "Tschechen-Forschung". Beide Aktivitäten standen in der Tradition des "Volkstumskampfes" und waren wissenschaftlich zweifelhaft. So wollte Schier beispielsweise die wesentliche Beeinflussung der slawischen durch die deutsche Volkskultur nachweisen.[22] Hanika stellte bei volkskundlichen Untersuchungen über die Choden "blutsmäßig und kulturell einen ungemein starken deutschen Einfluss" fest.[23] Diese und weitere Untersuchungen - wie die der Kommission für Slawistik und Rassenforschung - arbeiteten der von den Nationalsozialisten langfristig geplanten Germanisierung des böhmischen Raumes zu.[24]

5. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Ingo Haar, Michael Fahlbusch (Hg.): Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen - Institutionen - Forschungsprogramme - Stiftungen. München 2008.
  • Milena Josefovičová: Sudetoněmecký ústav pro výzkum země a lidu/Sudetendeutsche Anstalt für Landes- und Volksforschung. In: Kristina Kaiserová, Miroslav Kunštát (Hg.): Hledání centra. Vědecké a vzdělávací instituce Němců v Čechách v 19. a první polovině 20. století [Die Suche eines Zentrums. Wissenschaftliche und Bildungsinstitutionen der Deutschen in Böhmen im 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts]. Ústí nad Labem 2011, S. 327–341.
  • Ota Konrád: Die Sudetendeutsche Anstalt für Landes- und Volksforschung 1940-1945. "Wissenschaftliche Gründlichkeit und völkische Verpflichtung." In: Stefan Albrecht, Jiří Malíř Ralph Melville (Hg.): Die "sudetendeutsche Geschichtsschreibung" 1918–1960. Zur Vorgeschichte und Gründung der Historischen Kommission der Sudetenländer. München 2008 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 114), S. 71–95.
  • Ota Konrád: Dějepisectví, germanistika a slavistika na Německé univerzitě v Praze [Geschichtsschreibung, Germanistik und Slawistik an der Deutschen Universität in Prag] 1918–1945. Praha 2011, S. 217–227.
  • Petr Lozoviuk: Interethnik im Wissenschaftsprozess. Deutschsprachige Volkskunde in Böhmen und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen. Leipzig 2008 (Schriften zur Sächsischen Geschichte und Volkskunde 26), S. 252–256.
  • Alena Míšková: Vývoj německých libereckých vědeckých a vlastivědných institucí a jejich archivních fondů (1925–1945) [Die Entwicklung der deutschen Reichenberger wissenschaftlichen und heimatkundlichen Institutionen und ihrer Archivbestände]. In: Sborník Severočeského muzea. Historia 11 (1993), S. 33–46.
  • Tobias Weger: Sudetendeutsche Anstalt für Landes- und Volksforschung, Reichenberg. In: Ingo Haar, Michael Fahlbusch (Hg.): Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen – Institutionen – Forschungsprogramme – Stiftungen. München 2008, S. 683–688.

Anmerkungen

[1] Franz Runge: Die Eröffnung der Sudetendeutschen Anstalt für Landes- und Volksforschung in Reichenberg (12.–14.9.1940). In: Zeitschrift für sudetendeutsche Geschichte 4 (1940/41), S. 219–222.

[2] Vgl. hierzu aus der Sicht des Leiters und im zeitgenössischen Kontext: Erich Gierach: Die Anstalt für Sudetendeutsche Heimatforschung in Reichenberg. In: Deutsche Hefte für Volks- und Kulturbodenforschung 1 (1930), S. 34–38; Weger: Sudetendeutsche Anstalt, S. 684f.

[3] Bekanntmachung der Satzung der Sudetendeutschen Anstalt für Landes- und Volksforschung vom 12.7.1940. In: Verordnungsblatt für den Reichsgau Sudetenland 21 (1940), S. 903–905.

[4] Lozoviuk: Interethnik, S. 252; Konrád: Dějepisectví, S. 223–226.

[5] Vgl. Anton Kreißl: Ein Jahr Sudetendeutsche Anstalt für Landes- und Volksforschung. Bericht des Anstaltsleiters. In: Sudetendeutsche Landes- und Volksforschung. Aufgabe und Leistung. Berichte und Vorträge anläßlich der ersten Jahrestagung der Sudetendeutschen Anstalt für Landes und Volksforschung (11.–13.Oktober 1941). Reichenberg 1942, S. 3–11, hier S. 11; Konrád: Die Sudetendeutsche Anstalt, S. 75f.

[6] Zu Lehmann siehe Lozoviuk: Interethnik, S. 242–250.

[7] Zu Oberdorffer siehe Jiří Němec: Kurt Oberdorffer. In: Haar, Fahlbusch (Hg.): Handbuch, S. 444–448.

[8] Weger: Sudetendeutsche Anstalt, S. 687.

[9] Es werden jeweils die Kommissionsleiter genannt.

[10] Schroller leitete zudem das Amt für Vorgeschichte in Teplitz/Teplice und war Landespfleger der Bodenaltertümer im Sudetengau. Konrád: Die Sudetendeutsche Anstalt, S. 78; vgl. Jan Blažek: Archeologie v okupovaném pohraničí [Archäologie im besetzten Grenzgebiet] 1938–1945. In: Zdeněk Radvanovský (Hg.): Historie okupovaného pohraničí 1938–1945. Bd. 5. Ústí nad Labem 2000, S. 135–155.

[11] Zu Wostry vgl. Karel Hruza: "Wissenschaftliches Rüstzeug für aktuelle politische Fragen." Kritische Anmerkungen zu Werk und Wirken der Historiker Wilhelm Weizsäcker und Wilhelm Wostry. In: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 54 (2005), S. 475–526, hier S. 494–521; Ders.: Wilhelm Wostry. In: Haar, Fahlbusch (Hg.): Handbuch, S. 772–776; Nina Lohmann: "Heimat und Volk". Der Historiker Wilhelm Wostry zwischen deutschböhmischer und sudetendeutscher Geschichtsschreibung. In: Albrecht, Melville (Hg.): Die sudetendeutsche Geschichtsschreibung, S. 127–150; Dies.: Wilhelm Wostry und die "sudetendeutsche" Geschichtsschreibung bis 1938. In: Acta Universitatis Carolinae - Historia Universitatis Carolinae Pragensis (AUC – HUCP) 44 (2004), S. 45–145.

[12] Vgl. Ota Konrád: "…nicht mehr schuldig." Das Fach- und Wissenschaftsverständnis des Volkskundlers Bruno Schier vor und nach 1945. In: Acta Universitatis Carolinae - Studia Territorialia 7 (2005), S. 333–364; Lozoviuk: Interethnik, S. 336–339.

[13] Vgl. Ingo Haar: Erich Gierach. In: Ders., Fahlbusch (Hg.): Handbuch, S. 193–198; Lozoviuk: Interethnik, S. 250–252.

[14] Saure war in den Jahren 1940–1942 Rektor der Deutschen Karls-Universität. Vgl. Alena Míšková: Die Deutsche (Karls-)Universität vom Münchener Abkommen bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Universitätsleitung und Wandel des Professorenkollegiums. Prag 2007.

[15] Vgl. die Kurzbiographie mit Schriftenverzeichnis des Kunsthistorikers und Denkmalpflegers in: K. Erik Franzen, Helena Peřinová (Bearb.): Biogramme der Mitglieder der Historischen Kommission der Sudetenländer im Gründungsjahr 1954. In: Albrecht, Melville (Hg.): Die sudetendeutsche Geschichtsschreibung (wie Anm. 11), S. 219–276, hier S. 235–236.

[16] Künzel war Leiter des Grenzlandamtes der NSDAP im Reichsgau Sudetenland. Vgl. Detlef Brandes: "Umvolkung, Umsiedlung, rassische Bestandsaufnahme". NS-"Volkstumspolitik" in den böhmischen Ländern. München 2012 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 125), S. 198–201; Volker Zimmermann: Die Sudetendeutschen im NS-Staat. Politik und Stimmung der Bevölkerung im Reichsgau Sudetenland (1938-1945). Essen 1999 (Veröffentlichungen der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission 9), S. 285–294.

[17] Der Leiter des Pflanzenphysiologischen Instituts der Deutschen Universität in Prag, Viktor Czurda, benutzte seit 1941 nur noch den deutschen Namen Denk. Vgl. Míšková: Die Deutsche (Karls-)Universität (wie Anm. 14).

[18] Thums leitete das Institut für Erb- und Rassenhygiene an der Deutschen Karls-Universität. Vgl. Michal Šimůnek: Ein neues Fach. Die Erb- und Rassenhygiene an der Medizinischen Fakultät der Deutschen Karls-Universität Prag 1939–1945. In: Antonín Kostlán (Hg.): Wissenschaft in den böhmischen Ländern 1939–1945. Praha 2004, S. 190–316, hier S. 203–239.

[19] Vgl. hierzu Tobias Weger: "Völkische Wissenschaft zwischen Prag, Eger und München. Das Beispiel Josef Hanika. In: Christiane Brenner, K. Erik Franzen, Peter Haslinger, Robert Luft (Hg.): Geschichtsschreibung zu den böhmischen Ländern im 20. Jahrhundert. Wissenschaftstraditionen - Institutionen - Diskurse. München 2006 (Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum 28), S. 177–208; Martin Zückert: Josef Hanika (1900–1963) Volkskundler. Zwischen wissenschaftlicher Forschung und "Volkstumskampf". In: Monika Glettler, Alena Míšková (Hg.): Prager Professoren 1938–1948. Zwischen Wissenschaft und Politik. Essen 2001 (Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa 17), S. 205–220; Lozoviuk: Interethnik, S. 165–168, 189–197.

[20] Vgl. Milena Josefovičová: Sudetoněmecký vlastivědný ústav v Liberci 1925–1945 a sbírka Sudetoněmecký archiv [Die sudetendeutsche heimatkundliche Anstalt in Reichenberg 1925–1945 und die Sammlung des Sudetendeutschen Archivs]. In: Práce z dějin Akademie věd 2 (2010), S. 77–79.

[21 Konrád: Die Sudetendeutsche Anstalt, S. 81.

[22] Vgl. hierzu auch Bruno Schier: Deutsche Aufbaukräfte in den Volkskulturen der Westslawen. In: Sudetendeutsche Landes- und Volksforschung (wie Anm. 5), S. 24–48.

[23] Zitiert nach Konrád: Die Sudetendeutsche Anstalt, S. 87. Vgl. auch Lozoviuk: Interethnik, S. 199–202 sowie Josef Hanika: Vom deutschen Anteil am Chodenbauerntum. Eine Forschungsaufgabe. In: Kurt Oberdorffer, Bruno Schier, Wilhelm Wostry (Hg.): Wissenschaft im Volkstumskampf. Festschrift für Erich Gierach zu seinem 60. Geburtstage überreicht von Freunden, Schülern und Fachgenossen. Reichenberg 1941, S. 233–250.

[24] Konrád: Die Sudetendeutsche Anstalt, S. 86–91; Lozoviuk: Interethnik, S. 225–234.

Zitation

Stefan Lehr: Sudetendeutsche Anstalt für Landes- und Volksforschung, Reichenberg. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2012. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32764 (Stand 19.11.2021).

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