Minderheitenpolitik

1. Genese

Begriff

Ganz allgemein werden mit dem Begriff "Minderheitenpolitik" sämtliche staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen, Prozesse, Inhalte und Praktiken gegenüber einer zahlenmäßig geringeren Gruppe bezeichnet. Im internationalen Kontext versteht man unter "Minderheitenpolitik" die gezielte Förderung der Schaffung und Durchsetzung von internationalen Normen zum Minderheitenschutz durch Staaten, internationale Organisationen, regionale Institutionen und nicht-staatliche Akteure.

Träger, Gebrauch

Im heute politisch und politikwissenschaftlich üblichen Sinn sind Minderheiten durch relativ stabile Merkmale gekennzeichnet, entsprechend der Empfehlung 1201 der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, auf welche in verschiedenen internationalen, vor allem auch EU-Dokumenten, wiederholt Bezug genommen wird. Vorangegangen war die Arbeit der UN-Sonderberichterstatter der "UN-Unterkommission zur Verhütung von Diskriminierung und für Minderheitenschutz". Gemäß der Definitionen von Francesco Capotorti (1925–2002) und Jules Deschênes (1923–2000) zeichnet sich eine Minderheit in objektiver Hinsicht durch vier Elemente aus: (1) numerische Unterlegenheit im Vergleich zur Gesamtbevölkerung, (2) nicht-dominante Stellung im Staat, (3) ethnische, religiöse oder sprachliche Gemeinsamkeiten und (4) ein Solidaritäts- und Identitätsgefühl. Hinzugefügt werden muss noch die Staatsangehörigkeit (5) als ein allerdings umstrittenes Kriterium des Minderheitenbegriffs. An der Frage, ob nur alteingesessene ("autochthone") Minderheitengruppen von der jeweiligen Schutznorm erfasst werden sollen oder auch "neue" Minderheiten, d. h. Zuwanderer und Arbeitsmigranten, die nicht die Staatsangehörigkeit des jeweiligen Aufenthaltsstaates haben, entzündet sich regelmäßig Streit. Die traditionelle Völkerrechtsliteratur ist der Auffassung, dass nur alteingesessene Minderheitengruppen mit besonderen ethnischen, sprachlichen oder religiösen Merkmalen unter den Minderheitenbegriff fallen, die aus historischen Gründen zwar die Staatsangehörigkeit des betreffenden Staates haben, sich wegen ihrer speziellen kulturellen Merkmale aber von der Mehrheitsbevölkerung unterscheiden. Im Gegensatz dazu sollen nach dem "progressiven" Minderheitenbegriff auch "neue" Minderheiten eingeschlossen werden.

Im staatsrechtlichen Kontext stellen sich für Minderheiten Probleme ihrer Integration bzw. Assimilation aus der Sicht der Mehrheit, ihrer Bestandserhaltung/Separierung aus der Sicht der nicht integrations- bzw. assimilationsbereiten Minderheit. Ihrer Sicht zufolge erhoben die Minderheiten Forderungen nach Anerkennung als ethnische/religiöse/nationale Minderheit und Rechtsschutz, nach Aufrechterhaltung oder Gewährung von Sonderrechten (Sprachenrechte, eigene Schulen etc.) sowie ggf. nach politischer Selbstverwaltung, nach Schutz vor Majorisierung, nach sozialer Gleichstellung und besonderer Förderung (positive Diskriminierung).

Fremdsprachige Entsprechungen, Übersetzungen, Übernahmen

engl. minority policy; span. política de minorías; franz. politique des minorités; ital. politica per le minoranze; ung. kisebbségi politika; poln. polityka mniejszości; rum. politica de minoritate; slowak. menšinové politiky

2. Definition

Minderheitenpolitik ist ein essentially contested concept, also ein Begriff, über dessen Bedeutung nicht einfach durch konzeptionelle Präzision Klarheit erlangt werden kann, da er (vor allem aus politischen Gründen) umstritten ist. Es gibt bis dato keine verbindliche internationale Definition von "Minderheit". Bei der wissenschaftlichen "Arbeit am Begriff" wird "Minderheit" deshalb zunächst häufig von anderen, konkurrierenden Konzepten abgegrenzt. Neben dem Terminus "Minderheit" werden in der Wissenschaft sowie im internationalen Sprachgebrauch auch andere Termini verwendet, die sich nicht nur semantisch voneinander unterscheiden. Mit jeder Begriffsverwendung sind dabei bestimmte Konnotationen (und meist auch politische Interessen) verbunden. Der Begriff "Volksgruppe" etwa bezieht sich auf eine durch Staatsgrenzen getrennte ethnische Gemeinschaft im Rahmen eines größeren Volksverbandes oder Nationalstaats (kin-state). Dabei werden auch ganze Völker bzw. Ethnien (ohne eigenen Nationalstaat) als Volksgruppe bezeichnet, wie z. B. die Bretonen in Frankreich, die Sorben in Deutschland oder die Liven in Lettland. Obwohl beide Begriffe nicht gleichbedeutend sind, wird "Volksgruppe" oftmals synonym für "Minderheit" verwendet. Das Kriterium der zahlenmäßigen Unterlegenheit ist bei der Volksgruppe von minderer Bedeutung. Wenn mehrere Gruppen in einem Staatsgebilde zahlenmäßig in etwa gleich stark sind, gelten diese als einzelne "Volksgruppen". Gleichzeitig werden sehr häufig autochthone nationale Minderheiten mit diesem Begriff umfasst, so etwa deutschsprachige Minderheiten in Ostmitteleuropa. Der Begriff ist dementsprechend nur in wenige Sprachen übersetzbar (im Ungarischen existiert etwa das identische Wort népcsoport), in der internationalen Praxis wird dem etwas neutraleren Terminus der Minderheit der Vorzug gegeben. Dem Begriff "Volksgruppe" wird auch ein Akzent durch das klare Bestreben verliehen, die Gruppe als Adressaten der Minderheitenpolitik zu sehen. Der Begriff ist jedoch aus historischer Sicht nicht unproblematisch und durch die verbrecherische "Volksgruppenpolitik" im "Dritten Reich" vorbelastet.

Besonders wichtig bei der begrifflichen Einordnung von Minderheitenpolitik - vor allem aus völkerrechtlicher Sicht - ist die Abgrenzung zwischen den Begriffen "Volk" und "Minderheit". Die Begriffsbestimmung ist hier nicht nur von semantischer Bedeutung, sondern auch für den Status der betroffenen Gruppe relevant. Hierbei spielt vor allem der Bezug auf ein Territorium, häufig verstanden als ein zusammenhängendes, abgrenzbares Gebiet, in dem ein Volk die Bevölkerungsmehrheit stellt, eine besondere Rolle. Nach der völkerrechtlichen Drei-Elementen-Lehre steht das Staatsvolk in direkter Beziehung zum Staatsgebiet. Der territoriale Status ist das entscheidende Kriterium für das "Selbstbestimmungsrecht der Völker", das nationalen oder ethnischen Minderheiten nur in Ausnahmefällen, etwa bei direkter Gewalt gegen die Minderheit, zukommt. Da aber auch eine Minderheit einen territorialen Bezug aufweisen kann bzw. muss (Kriterium der Ansässigkeit), ist die trennscharfe Abgrenzung hier in der Regel schwierig.

Eine weitere zu treffende Differenzierung ist jene zwischen nationaler und ethnischer Minderheit. Der Begriff der nationalen Minderheit wird häufig zur Kennzeichnung solcher Gemeinschaften verwendet, die für sich allein oder als Teil eines außerhalb der Grenzen ihres Heimatstaats lebenden Nation zur selbständigen Organisation ihres Gemeinwesens fähig sind. Eine ethnische Minderheit im engeren Sinne befindet sich in der Regel unterhalb dieses sozial-politischen Entwicklungsniveaus. Der Ausdruck "ethnische Minderheit" wird häufig auch als Oberbegriff für nationale und ethnische Minderheiten gebraucht, um den Unterschied zu religiösen und sprachlichen Minderheiten herauszustellen.

Der Begriff "Nationalität" beschreibt die Zugehörigkeit einer Person oder einer Gruppe zu einer Nation oder einem Volk. So bezeichnen sich beispielsweise die Katalanen Spaniens als "Nationalität" (nacionalidad). Der Begriff gilt aber als historisch-veraltet und kann verschiedene Bedeutungen haben. Im Singular bedeuten das englische nationality, das französische nationalité und das italienische nazionalità lediglich "Staatsangehörigkeit".

Der herkömmliche Minderheitenbegriff ist außerdem zu unterscheiden von den Bezeichnungen "Sprachgruppe", "Sprachgemeinschaft" und "Sprachminderheit". Diese Begriffe finden häufig im innerstaatlichen Recht Verwendung. So sind die Flamen in Belgien offiziell eine "Sprachgemeinschaft", die staatstragenden Gemeinschaften der Schweiz heißen "Sprachgruppen". Im Art. 6 der italienischen Verfassung ist dagegen von "sprachlichen Minderheiten" (minoranze linguistiche) die Rede, die durch besondere Bestimmungen geschützt werden sollen. Die begriffliche Unterscheidung kann dazu dienen, eine ethnische oder nationale Minderheit zu einer Sprachgruppe zu "degradieren". Die mit der ethnischen oder nationalen Minderheit verbundenen Problematiken sowie mögliche Autonomiebestrebungen werden dabei bewusst heruntergespielt und die potentiell vielfältigen Unterscheidungsmerkmale der Minderheiten auf das Element Sprache reduziert.

3. Diskurse/Kontroversen

In der Verfassungsdiskussion und der politischen Theorie seit der Antike erhielt die Minderheitenpolitik ihre Bedeutung im engeren Sinne mit der Ausbildung des Begriffspaares "Minorität" und "Majorität" und mit dessen Rezeption durch die Französische Revolution. Mit dem hier erhobenen Gleichheitspostulat aller Menschen in Politik und Gesellschaft wurden Besonderheiten, Abweichungen und Differenzen erstmals zum Problem gesellschaftlicher und politischer Integration. Daraus ergaben sich die Diskurse und Kontroversen der Minderheitenpolitik im Spannungsfeld unterschiedlich stark aufeinander bezogener Gebiete: (1) im Verfassungs- und Staatsrecht bei zu treffenden politischen Entscheidungen, (2) in religiöser Sicht als Abweichung von der dominierenden Religionsgemeinschaft unter Beanspruchung gleicher Geltung, (3) im Bereich der politischen Geschichte und des Völkerrechts als Politik bezüglich und gegenüber einer Gruppe von Menschen mit bestimmten Merkmalen (s. o.), (4) in sozialpsychologischer/sozialwissenschaftlicher Sicht für Menschen, die sich in ihrer Persönlichkeitsstruktur, in ihrem Verhalten und in ihrer Konstitution von den gesamtgesellschaftlich bestimmenden Merkmalen, den anderen Bevölkerungsteilen bzw. deren sozialen Normen unterscheiden.

Es ist in der Forschung umstritten, ob sich sämtliche Bedeutungsfelder unter einen Begriff subsumieren lassen, da z. B. "Anderssein" einer Bevölkerungsgruppe nicht mit zahlenmäßiger Unterlegenheit einhergehen muss. Zum anderen ist fraglich, ob verschiedene gesellschaftliche Randgruppen überhaupt unter denselben Minderheitenbegriff fallen, da ihnen außer der Abweichung vom mainstream weitere verbindende Merkmale fehlen und die Bedingungen ihres gesellschaftlichen "Außenseitertums" stark voneinander abweichen. Minderheitenpolitik bezieht sich also nicht nur auf einen vorhandenen Tatbestand, auch nicht ausschließlich auf ein Zahlen- oder Machtverhältnis, sondern auf die Gesamtheit der sozialen Beziehungen, innerhalb derer, durch die Normen einer bestimmenden Gruppe, andere Menschen, Gruppen oder Verhaltensweisen mit weniger Anerkennung ausgestattet werden und infolgedessen in ihren Lebens- und Durchsetzungschancen begrenzter sind, als es die bestehenden Möglichkeiten zulassen.

Minderheitenpolitik (verstanden als Politik im Sinne einer Förderung des Minderheitenschutzes) wird gemeinhin der Assimilationspolitik entgegengestellt. Assimilation (auch Assimilierung) bezeichnet in der Soziologie das Einander-Angleichen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen bzw. Bevölkerungsteile. Assimilation (von lateinisch assimilare: ähnlich machen) beschreibt den Prozess, in dessen Verlauf Individuen oder Gruppen die dominante Kultur einer anderen Gruppe übernehmen und in deren Gesellschaft integriert werden. Sie kann zur Verschmelzung der minoritären mit der majoritären Kultur oder auch zur Verdrängung einer Gruppenidentität, Kultur, Sprache usw. führen. Dieser Prozess kann auf der kollektiven oder individuellen Ebene stattfinden. Assimilation kann zur Dominanz einer Mehrheit über eine Minderheit führen und auf kultureller (Übernahme von Sprache, Traditionen und Sitten), struktureller (Platzierung auf dem Arbeitsmarkt, im Gesundheits-, Renten- und Schulsystem u. ä.), sozialer oder emotionaler Ebene erfolgen. Innerhalb eines politischen Systems kann eine Assimilierung etwa durch Sperrklauseln für kleinere Parteien oder durch Mehrheitswahlrecht forciert werden.

Beim Minderheitenschutz lassen sich eine "passive" Minderheitenpolitik und eine "aktive" Minderheitenpolitik unterscheiden. Erstere bedeutet die Vermeidung von Diskriminierung. Letztere baut auf diesen Vorbedingungen auf und ergänzt diese durch "aktive" Maßnahmen zur Erreichung von materieller oder "vollkommener" Gleichheit. Auf der Basis des allgemeinen Gleichheitssatzes und der üblichen Diskriminierungsverbote können die allgemeinen Freiheitsrechte auch von den Angehörigen einer Minderheit gebraucht werden. Auf dieser Ebene ist der Minderheitenschutz als Teilbereich des allgemeinen Menschenrechtsschutzes auch im Gemeinschaftsrecht der EU verankert. Das Diskriminierungsverbot an sich schützt jedoch nur vor negativer Diskriminierung und beinhaltet noch keine Förderung von Gruppen oder Individuen durch positive Diskriminierung (affirmative action). Der Staat wird verpflichtet, aktiv Minderheitenangehörige vor Diskriminierungen auch durch Privatpersonen, beispielsweise im Privatrechtsverkehr, zu schützen. Dabei ist die Minderheit das Objekt einer passiven Minderheitenpolitik.

Auf der individuellen Ebene wird Minderheitenpolitik durch Rechte verwirklicht, deren Träger das Individuum und nicht eine Gruppe oder ein Kollektiv ist. Minderheitenrelevante Individualrechte werden etwa durch den Gleichheits- und Gleichberechtigungssatz konstituiert, vor allem mit Hinblick auf dessen Spezifizierung in Form des Verbotes der Diskriminierung aufgrund rassistischer, ethnischer, sprachlicher oder religiöser Zugehörigkeit (Diskriminierungsverbot). Daneben gehören die nationale Bekenntnisfreiheit, das Recht auf den Gebrauch der Muttersprache und des Namens in muttersprachlicher Form oder das Recht auf freie religiöse oder kulturelle Betätigung zu den individuellen Rechten. Ein klassisches Instrument der Minderheitenpolitik in diesem Zusammenhang ist auch das Recht auf muttersprachlichen Unterricht, welches jedoch staatliche Mitwirkung voraussetzt und zumeist einem gesetzlichen Ausgestaltungsvorbehalt unterliegt.

Diese Rechte können so ausgestaltet sein, dass sie auch zu positiver Diskriminierung führen. Hierzu werden den Minderheitenangehörigen Rechtspositionen eingeräumt, die über den Rechtskreis des "Normalbürgers" hinausgehen. Dieses Konzept kann den Staat zu einer Besserbehandlung der Minderheit verpflichten, wenn dies zur Bewahrung ihrer (kulturellen, sprachlichen, politischen) Identität erforderlich ist. Grundlage der positiven Diskriminierung ist die Annahme, dass sich Minderheiten im Vergleich zur Mehrheit der Staatsnation in einer schwächeren Position befinden. Die aus der Minderheitenexistenz entstehenden Nachteile können auf Dauer oder zumindest bis zum Erreichen einer faktischen Gleichstellung mit den Mehrheitsangehörigen durch besondere fördernde Maßnahmen ausgeglichen werden.

Gruppenrechte unterscheiden sich von individuellen Rechten insofern, als für die Träger kollektiver Rechte die Minderheiten als solche in Frage kommen. Subjektive Rechte setzen jedoch ein klar bestimmbares Rechtssubjekt voraus. Folglich muss die Gruppe in eine rechtlich greifbare Form gebracht werden. Adressat der kollektiven Minderheitenpolitik ist die Minderheit als Personenverband. Damit kann die Minderheit als Rechtssubjekt als Trägerin der kollektiven Minderheitenrechte am Rechtsverkehr ebenso wie am sozialen und wirtschaftlichen Leben teilnehmen. Letztlich können auch hoheitliche und andere - über die Summe der Rechte der einzelnen Minderheitenangehörigen hinausgehende - Befugnisse zugewiesen werden. Kollektiv ausgerichtete Minderheitenrechte betreffen etwa die Sprachenrechte, die parlamentarische Repräsentation oder den minderheitenspezifischen Rechtsschutz.

Als höchste Stufe der Minderheitenpolitik sind Autonomiekonzepte aufzufassen. Sie unterscheiden sich qualitativ von den "einfachen" Minderheitenrechten. Bei der Autonomie werden den organisierten Minderheiten nicht nur einzelne Rechte oder Angelegenheiten übertragen, sondern umfassende Kompetenzen zugestanden. Die inhaltliche Ausgestaltung von weitgehenden Befugnissen für Minderheiten führen zur Verwirklichung von minderheitenrechtlichen Autonomieformen. Dabei ist die Personalautonomie, die an die Minderheitenangehörigen als Personen unabhängig von den Siedlungsgebieten anknüpft, zu unterscheiden von der Territorialautonomie. Letztere schafft auf einem bestimmten, von einer Minderheit bewohnten Gebiet eine Körperschaft, welche mit einem besonderen Rechtsstatus ausgestattet wird. Diese Regelungskonzepte können in Form des innerstaatlichen Föderalismus sowie als regionale und kommunale Autonomie in Erscheinung treten.

In einigen EU-Staaten bzw. Regionen wurden bereits Autonomiemodelle für Minderheitengruppen geschaffen, so etwa in Südtirol, Kärnten, Katalonien, Galizien, dem Baskenland, in Portugal (Azoren und Madeira), in Ungarn, Rumänien, in Ostbelgien, im dänisch-deutschen Grenzraum sowie in Dänemark (Färöer-Inseln) und Finnland (Åland-Inseln). Dabei wurden verschiedene abgestufte Konzepte von Territorial- und Personalautonomie angewendet. Die Schaffung von solchen umfassenden Autonomieformen für Minderheiten ist jedoch umstritten. Von Kritikern wird immer wieder eingewendet, dass diese die Integration der Minderheiten in das Staatsgebilde erschweren, dadurch die Segregation stärken und letztlich die Konflikte zwischen Mehrheits- und Minderheitsbevölkerung nicht lösen.

4. Historischer Abriss

Historisch lässt sich Minderheitenpolitik bis in die Anfänge sozialer Organisationen zurückverfolgen. Für die Entwicklung der Minderheitenpolitik im neuzeitlichen Europa und deren weltweite Auswirkungen sind Entwicklungsschritte zu unterscheiden, die ihrerseits als Reaktionen auf die im Zuge der Entwicklung der modernen Gesellschaft erfahrenen Umwälzungen zu sehen sind. Erst die wachsende wechselseitige Abhängigkeit immer größerer Bevölkerungsgruppen voneinander bei zugleich steigenden Möglichkeiten zu individueller Autonomie entfaltete zu Beginn der Neuzeit auch den sozialen, politischen und juristischen Handlungsraum, innerhalb dessen Minderheiten als politisches und soziales Phänomen in Erscheinung traten.

Das bereits seit der Antike vereinzelt diskutierte Minderheitenproblem wurde in der Neuzeit zunächst in religiöser Hinsicht virulent. Am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit führte die Aufsplitterung der katholischen Kirche zu einer Fülle unterschiedlicher religiöser Gruppierungen, die entgegen den kirchlichen und staatlichen Einigungsbestrebungen fortan eine religiöse Vielfalt darstellten und im Laufe der Jahrhunderte religiöse Freiheitsrechte und Toleranz einforderten. Der nicht zuletzt als Reaktion auf die Reformation hervorgegangene Homogenisierungsdruck der frühen neuzeitlichen Gesellschaften machte das Problem der religiösen Minderheiten auch zu einem politischen Problem. Ein zweiter Schritt zur Homogenisierung war die Ausbildung universaler und egalitärer Menschenrechte durch die Philosophie der Aufklärung. Bereits die religiösen Minderheiten hatten das Recht auf eigene Besonderheit gefordert und gleichzeitig den Anspruch auf gleiche, d. h. für alle geltende Grundsätze erhoben. Diese Entwicklung führte zur Menschenrechtsdiskussion im 18. und 19. Jahrhundert. Die in diesen Forderungen beschlossene Minderheitenproblematik trat insbesondere mit der Ausrichtung der politischen Organisationsmodelle an nationalstaatlichen Vorstellungen hervor. Die Wurzeln des Minderheitenschutzes in Europa reichen also zumindest bis ins Mittelalter zurück; von nationalen Minderheiten im engeren Sinne spricht man erst seit dem 18. Jahrhundert, nachdem mit der Französischen Revolution die Nationalstaatsidee geboren wurde. Mit der Bildung der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert traten zunehmend auch nationale Minderheiten auf, die sich in ihren Selbstbestimmungsansprüchen einerseits auf die "nationalen" Ideen stützen konnten, andererseits den bestehenden Nationalstaaten zuwiderliefen und deren Existenz bedrohten. Die Nationalstaaten traten den Bestrebungen der Minderheiten durch eine forcierte Assimilation (etwa Russifizierung, Magyarisierung und Germanisierung) entgegen.[1]

Die Veränderung der politischen Landkarte nach dem Ersten Weltkrieg kann in völkerrechtlicher Sicht als Folge (oder: Widerspiegelung) der besonderen Bedeutung der nationalen Minderheiten angesehen werden, welcher durch die Minderheitenschutzverträge Rechnung getragen wurde. Mit dem Ende des Völkerbundes und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs scheiterte auch der erste Versuch zur Etablierung eines internationalen Minderheitenschutzsystems. In der Nachkriegszeit zeigten regionalistische, sezessionistische und terroristische Bewegungen in Westeuropa erneut das Problem nationaler Minderheiten (u. a. Bretonen, Basken, Iren) auf. Im Ostblock wurden Minderheitenfragen unter dem kommunistischen Einheitsgedanken tabuisiert oder (gewaltsam) unterdrückt. Nach dem Umbruch von 1989/90 in Osteuropa und der nachfolgenden Auflösung der Sowjetunion wurde die dortige Staatenwelt durch Unabhängigkeitsbewegungen in den baltischen Republiken, der Ukraine, Aserbaidschan und Armenien erschüttert. Besonders virulent waren diese in Russland selbst (Tschetschenien) und Georgien (Abchasien, Südossetien) sowie im ehemaligen Jugoslawien, wo die Minderheitenproblematik internationale Bemühungen um den Minderheitenschutz verstärkte. Dabei war es zunächst die Organisation über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (bis 1995 KSZE) und später der Europarat, der sich für die Lösung der ethnischen Konflikte durch bilaterale und multilaterale Vertragswerke einsetzte. Das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten und die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen bildeten wichtige Bestandteile des europäischen Minderheitenschutzregimes. Parallel dazu wurden zwischen einigen mittel- und osteuropäischen Ländern angesichts der bevorstehenden Annäherung an die Europäische Union bilaterale Nachbarschaftsverträge geschlossen, die auch Bestimmungen zum Minderheitenschutz enthielten. Einen weiteren Schub erhielt der internationale Minderheitenschutz dann durch die Konditionalität der EU-Minderheitenpolitik im Rahmen der Osterweiterung gegenüber den Ländern in Ostmittel- und Südosteuropa.

5. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Georg Brunner: Nationalitätenprobleme und Minderheitenkonflikte in Osteuropa. 2., aktual. und vollst. überarb. Fassung Gütersloh 1996 (Strategien für Europa).
  • Stefan August Lütgenau: Regionalization and Minority Policies in Central Europe. Case Studies from Poland, Slovakia, Hungary and Romania. Innsbruck 2011 (Foster Europe - International Studies Series 1).
  • Dieter Nohlen: Minderheit/ Minderheitenrechte/ Minderheitenschutz. In: Dieter Nohlen, Florian Grotz (Hg.): Kleines Lexikon der Politik. 4., aktual. Auflage Bonn 2008 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung 759).
  • Maximilian Opitz: Die Minderheitenpolitik der Europäischen Union. Probleme, Potentiale, Perspektiven. Berlin 2007 (Studien zu Migration und Minderheiten 16).
  • Gabriel N. Toggenburg, Günther Rautz: ABC des Minderheitenschutzes in Europa. Wien 2010.

Periodika

  • Journal of Ethnic and Migration Studies, Abingdon (1998ff.)
  • International Journal on Minority and Group Rights, Leiden (1996/97ff.)
  • Ethnopolitics (früher The Global Review of Ethnopolitics), Abingdon (2005ff.)
  • Journal of Ethnopolitics and Minority Issues in Europe, Flensburg (2000ff.)

Anmerkungen

[1] Als Russifizierung werden alle Maßnahmen der russischen bzw. sowjetischen Innen- und Außenpolitik bezeichnet, den Einflussbereich der russischen Sprache und der russischen Kultur zulasten der anderen Sprachen und Kulturen auszuweiten. Bei der Magyarisierung unterscheidet die Geschichtsforschung zwischen einer Magyarisierung im weiteren Sinne, das heißt "natürliche Assimilation" oder auch Akkulturation der nichtmagyarischen Bevölkerung des Königreichs Ungarn, und einer Magyarisierung im engeren Sinne. Letztere meint ein oftmals gewaltsam forciertes Bestreben, im Königreich Ungarn ansässige Nichtmagyaren im 18. und 19. Jahrhundert mit staatlichen Mitteln zu einem Teil der magyarischen Nation zu machen. Der Begriff Germanisierung bezeichnet die Verbreitung der deutschen Kultur in bestimmten historischen Phasen und die gewöhnlich damit einhergehende Überformung oder Verdrängung anderer, nicht-deutscher Kulturen. Die Germanisierung wurde in Zeiten des Nationalsozialismus besonders gewaltsam und rücksichtlos vorangetrieben, etwa durch die Umbenennung von Ortsnamen sowie das Verbot anderer Sprachen als der deutschen in Publikationen, Presseerzeugnissen, Schulen etc.

Zitation

Christoph Schnellbach: Minderheitenpolitik. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2013. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32740 (Stand 13.12.2021).

Der Beitrag entstand im Rahmen der Tätigkeit des Autors als Junior Visiting Research Fellow der Andrássy Universität Budapest, TÁMOP-Projekt Nr. 4.2.2/B-10/1-2010-0015.

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(Stand: 19.01.2024)  | 
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