Charta der deutschen Heimatvertriebenen

1. Genese und Definition

Die am 5./6. August 1950 in Stuttgart verkündete Charta der deutschen Heimatvertriebenen wird verkürzt auch als "Charta der Heimatvertriebenen", "Vertriebenen-Charta" oder "Stuttgarter Charta" bezeichnet. Das Datum war gewählt mit Blick auf den fünften Jahrestag der Unterzeichnung des Potsdamer Protokolls, der Ort Stuttgart deshalb, weil dort eine repräsentative Großveranstaltung ausgerichtet werden konnte. An der Auftaktkundgebung im Kursaal von Bad Cannstatt mit ca. 1.000 geladenen Gästen am 5. August wurde durch den Beifall der anwesenden Vertriebenenvertreter eine quasi-plebiszitäre Annahme der Charta inszeniert. Anwesend war mit Vizekanzler Franz Blücher (FDP; 1896–1959) auch ein Mitglied der Bundesregierung;[1] die Besatzungsmächte waren durch politische Beamte der Hohen Kommissare der USA und Frankreichs vertreten. Am 6. August fand dann, wiederum in Gegenwart prominenter politischer Gäste, unter ihnen Bundesvertriebenenminister Hans Lukaschek (CDU; 1885–1960), eine Großkundgebung vor der Ruine des Stuttgarter Neuen Schlosses mit ca. 100.000 Teilnehmern statt, bei der die Verkündung der Charta wiederholt wurde. Den Abschluss bildete die Unterzeichnung der Charta durch die Vertreter des Zentralverbandes der vertriebenen Deutschen (ZvD) und der Vereinigten Ostdeutschen Landsmannschaften (VOL), beides Vorläufer des heutigen Bundes der Vertriebenen (BdV), bei einem Empfang durch die Landesregierung von Württemberg-Baden in der Villa Reitzenstein. Parteiübergreifend wurde und wird von führenden Politikern der Bundesrepublik wie etwa Helmut Kohl (1930–2017), Roman Herzog (1934–2017), Otto Schily, Gerhard Schröder und Angela Merkel immer wieder der Beitrag der Charta zur Aussöhnung Deutschlands mit seinen östlichen Nachbarn hervorgehoben. Auch für den BdV und seine Mitgliederverbände bildet sie ein maßgebliches Fundament des Selbstverständnisses.

2. Diskurse / Kontroversen

Eine wissenschaftlichen Ansprüchen voll genügende Analyse von Entstehung und Wirkungsgeschichte der Charta stellt bis heute ein Desiderat dar. Vorhanden sind lediglich Überblicksdarstellungen, von denen der überwiegende Teil weniger dem wissenschaftlichen als vielmehr dem historisch-publizistischen Diskurs zuzurechnen ist. Zu nennen ist hier vor allem Ralph Giordanos 1987 erschienenes Buch Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein, in dem dieser mit der Charta in scharfen Worten abrechnet. Diese sei "ein klassisches Beispiel historischer Unterschlagungen. Sie kappt jede Kausalität zwischen Ursache und Wirkung, ignoriert die Chronologie der Ereignisse, verschweigt also die Vorgeschichte der Vertreibung, trägt damit ihren Teil zur Verdrängung und Verleugnung der ersten Schuld bei und macht sich zu einem Unikat der zweiten."[2] Die Kritikpunkte Giordanos wurden seither immer wieder von anderen Autoren wiederholt und partiell noch verschärft. Zu nennen ist insbesondere Micha Brumlik, der die Charta als "eine im Geist von - im vermeintlichen Verzicht um so stärker gewünschter - Rache, Selbstmitleid und Geschichtsklitterung getragene, ständestaatliche, völkisch-politische Gründungsurkunde" bezeichnete.[3] Ferner verweist Brumlik unter Berufung auf den Journalisten Erich Später[4] darauf, dass ein Drittel der Erstunterzeichner der Charta überzeugte Nationalsozialisten gewesen seien. Dieser führt u. a. aus, dass die Hälfte der 30 Unterzeichner der Charta keine Heimatvertriebenen gewesen seien, sondern "NS-Funktionäre und Aktivisten", deren Biographien repräsentativ für die deutschen Vertriebenenfunktionäre seien. Stichhaltige Beweise für diese These bleibt Später allerdings überwiegend schuldig; vielmehr spricht er implizit abschwächend sogar davon, dies sei seine "Einschätzung", und verweist auf fehlende einschlägige Forschungsergebnisse.[5] In Polen überwiegen bisher kritische Stellungnahmen zur Charta.[6] Positiv gewertet wird diese von dem US-amerikanischen Völkerrechtler Alfred M. de Zayas[7] und der Politologin Marion Frantzioch-Immenkeppel. Letztere sprach 1999 von einem "Musterbeispiel politischer Kultur" und einem bemerkenswerten "Dokument des Gewaltverzichts".[8] Die Historiker Jürgen Danyel und Christoph Klessmann ordneten 2003 die Charta, wie das Tübinger Memorandum, die Ost-Denkschrift der EKD, den Briefwechsel der polnischen und deutschen Bischöfe und das Bensberger Memorandum, in den Kontext der Versöhnungsinitiativen zwischen Deutschland und seinen östlichen Nachbarn ein.[9]

3. Historischer Abriss

Dass sich unmittelbar nach der Gründung von ZvD und VOL diese zum Zwecke der Verkündung der Charta zusammenfanden, ist kein Zufall. Es galt, die zwischen beiden miteinander konkurrierenden Dachverbänden offen zutage getretenen Differenzen durch ein machtvolles gemeinsames Auftreten zu übertünchen und sich als Mitspieler im politischen System der noch jungen Bundesrepublik zu positionieren. Bereits am 20. November 1949 hatten ZvD und VOL im Göttinger Abkommen vereinbart, "ihre gemeinsamen Forderungen und Ziele in einer Magna Charta[10] der Heimatvertriebenen" festzulegen. Im Februar 1950 wurde zu diesem Zweck ein von beiden Verbänden paritätisch besetzter Ausschuss gebildet, der wegen unüberbrückbarer Differenzen bald zu einer erweiterten Kommission vergrößert wurde. Dieses Gremium arbeitete den Text der Charta aus, der in vieler Hinsicht Kompromisscharakter hatte, galt es doch, die sehr heterogenen, auch konfessionell-weltanschaulich begründeten, Vorstellungen von ZvD und VOL bzw. innerhalb dieser Verbände auf einen Nenner zu bringen.

Hauptanliegen der Stuttgarter Charta war es erstens, die heimatpolitischen Forderungen der Vertriebenen, also nach dem Recht auf Rückkehr und Grenzrevision, mit einem feierlichen "Verzicht auf Rache und Vergeltung" und dem Ziel der Einheit Europas zu verbinden. Zweitens wollten die Vertriebenen ihren Anspruch auf politische Mitwirkung zum Ausdruck bringen und Forderungen im Hinblick auf die drängenden Eingliederungsfragen formulieren. Als politisches Signal war die Charta deshalb keineswegs nur nach außen, sondern auch und vor allem nach innen gerichtet.

Von Kritikern wird oft bemängelt, dass in der Charta die deutsche Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg nicht explizit zur Sprache kommt. Dieser Befund ist richtig, dennoch wird man die Stuttgarter Geste nicht gering schätzen dürfen, ging sie doch von einer Opfergruppe aus, deren zutiefst traumatisierende Erfahrungen erst wenige Jahre zurücklagen. Die Forderung, auf Rache und Vergeltung zu verzichten, tauchte explizit erstmals 1948 bei der sudetendeutschen Ackermanngemeinde auf, ist also letztlich christlich motiviert. Schwer nachzuvollziehen aus heutiger Perspektive ist angesichts der Dimension der Verbrechen des Nationalsozialismus v. a. der Satz "Die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortung am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen empfinden." Erklärbar ist diese geradezu autistische Sicht der Dinge aus dem zeitgenössischen Opferdiskurs heraus, gehörte es doch zum erinnerungspolitischen Grundkonsens der frühen Bundesrepublik, sich als schuldloses Opfer zu begreifen. Gleichzeitig ist zu berücksichtigen, dass sich innerhalb Westdeutschlands die Vertriebenen in einer Opferkonkurrenzsituation mit anderen deutschen Kriegsopfern befanden, in der es sich zu profilieren galt. Insofern weisen solche Aussagen bereits auf die heftigen Auseinandersetzungen um den Lastenausgleich voraus.

Die Verkündung der Charta der deutschen Heimatvertriebenen war für die Vertriebenenverbände ein wichtiger Prestige-Erfolg. Zum ersten Mal hatten sie sich prominent zu Wort gemeldet und ihren Anspruch, ernstzunehmende Mitspieler in der neuen Demokratie zu sein, zum Ausdruck gebracht. Von großer Bedeutung für die Fernwirkung der Charta war, dass sich die politischen Eliten der jungen Bundesrepublik parteiübergreifend mit dem Text identifizierten. Auch wenn aus der Distanz von mehr als 60 Jahren manche Formulierungen heute befremdlich wirken und die Forderung nach Rückkehr und Recht auf die Heimat in einer deutlichen Spannung zum Ziel der Eingliederung steht, so wird man die Charta der deutschen Heimatvertriebenen doch als bemerkenswertes Zeitzeugnis bezeichnen können, das den Integrationswillen der Vertriebenen und ihre Bereitschaft zur Aussöhnung mit den östlichen Nachbarn Deutschlands dokumentiert.

4. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Ralph Giordano: Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein. Hamburg 1987 (Polizei + Forschung, Sonderband).
  • Michael Schwartz: Funktionäre mit Vergangenheit. Das Gründungspräsidium des Bundesverbandes der Vertriebenen und das "Dritte Reich". München 2013.
  • Matthias Stickler: Gegenspieler der Aussöhnung? Die Haltung der Vertriebenenverbände zur deutsch-polnischen Verständigung 1949 bis 1969. In: Friedhelm Boll, Wiesław Wysocki, Klaus Ziemer (Hg.), Thomas Roth (Mitarb.): Versöhnung und Politik. Polnisch-deutsche Versöhnungsinitiativen der 1960er-Jahre und die Entspannungspolitik. Bonn 2009 (Archiv für Sozialgeschichte, Beiheft 27), S. 224–244. Übersetzung ins Polnische: Przeciwnicy pojednania? Stanowisko związków wypędzonych wobec polsko-niemieckiego porozumienia w latach 1949–1969. In: Friedhelm Boll, Wiesław J. Wysocki, Klaus Ziemer (Hg.), Thomas Roth (Mitarb.): Pojednanie i polityka. Polsko-niemieckie inicjatywy pojednania w latach sześćdziesiątych XX wieku a polityka odpręzenia. Warszawa 2010, S. 201–220].
  • Matthias Stickler: "Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung" – Die Stuttgarter Charta vom 5./6. August 1950 als zeithistorisches Dokument. In: Jörg-Dieter Gauger, Hanns-Jürgen Küsters (Hg.): "Zeichen der Menschlichkeit und des Willens zur Versöhnung". 60 Jahre Charta der Heimatvertriebenen. Sankt Augustin 2011 (Eine Veröffentlichung der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.), S. 43–74. Internet-Publikation unter: www.kas.de/wf/doc/kas_22454-544-1-30.pdf?110406114811 (letzter Zugriff 23.07.2021).

Anmerkungen

[1] Ursprünglich war in der Einladung Bundeskanzler Konrad Adenauer (1876–1967) als Festredner angekündigt gewesen, dieser hatte aber kurzfristig abgesagt. Ganz offensichtlich wollte sich Adenauer in der damals angespannten weltpolitischen Lage vertriebenenpolitisch nicht exponieren.

[2] Giordano: Die zweite Schuld, S. 284.

[3] Micha Brumlik: Wer Sturm sät. Die Vertreibung der Deutschen. Berlin 2005, S. 99.

[4] Erich Später: Kein Frieden mit Tschechien. Die Sudetendeutschen und ihre Landsmannschaft. Hamburg 2005, S. 83–105.

[5] Ebenfalls negativ bewertet wird die Charta von Kurt Nelhiebel: 60 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen. Ursprung und Rezeption eines umstrittenen Dokuments. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 9 (2010), S. 730-743, Tobias Weger: "Volkstumskampf" ohne Ende? Sudetendeutsche Organisationen 1945–1955. Frankfurt/M. u. a. 2008, S. 465–476 und Eva Hahn, Hans Henning Hahn (Hg.): Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte. Paderborn u. a. 2010, S. 443–448.

[6] Vgl. etwa Jan M. Piskorski: Vertreibung und deutsch-polnische Geschichte. Eine Streitschrift. Osnabrück 2005 (Veröffentlichung der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Bundesverband 8), S. 36.

[7] Alfred M. de Zayas: Anmerkungen zur Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Stuttgart u. a. 1986.

[8] Marion Frantzioch-Immenkeppel: Vertrieben in Nachkriegsdeutschland. Die Integration der Deutschen aus dem Osten und ihr Einfluss auf die Bundesrepublik Deutschland. In: Hans-Martin Hinz (Hg.): Zuwanderungen - Auswanderungen. Integration und Desintegration nach 1945. Wolfratshausen 2001, S. 145–185, hier S. 155.

[9] Jürgen Danyel, Christoph Klessmann: Unterwegs wie die Flüchtlinge und Vertriebenen. Zur Debatte über ein europäisches Zentrum gegen Vertreibungen. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 1 (2003), S. 31–35, hier S. 32.

[10] Diese Begrifflichkeit knüpft an die Magna Charta Libertatum von 1215 an, den königlichen Freibrief, den der anglonormannische Adel König Johann Ohneland (1167–1216) abrang. Möglicherweise sollte mit der Wortwahl der Charakter der Charta der Heimatvertriebenen als 'Verfassungsurkunde' für die Vertriebenenverbände verdeutlicht werden, immerhin ist dort einleitend auch davon die Rede, dass die Erklärung das 'Grundgesetz' der Vertriebenen darstelle.

Zitation

Matthias Stickler: Charta der deutschen Heimatvertriebenen. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2012. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32842 (Stand 23.07.2021).

Nutzungsbedingungen für diesen Artikel

Copyright © Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (BKGE), alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk entstand im Rahmen des Projekts „Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa“ und darf vervielfältigt und veröffentlicht werden, sofern die Einwilligung der Rechteinhaber vorliegt. Bitte kontaktieren Sie:

Wenn Sie fachliche Hinweise oder Ergänzungen zum Text haben, wenden Sie sich bitte unter Angabe von Literatur- und Quellenbelegen an die Redaktion.

(Stand: 19.01.2024)  | 
Zum Seitananfang scrollen Scroll to the top of the page