Deutsche Volksliste

1. Genese

Die Deutsche Volksliste (DVL) regelte staatsbürgerschaftsrechtliche Fragen in den polnischen Territorien, die das Deutsche Reich am 26. Oktober 1939 annektiert hatte.[1] Anfangs wollten die NS-Entscheidungsträger die polnische und jüdische Bevölkerung in das Generalgouvernement aussiedeln und nur der verbleibenden „deutschstämmigen“ Bevölkerung die deutsche Staatsbürgerschaft verleihen. Diese Idee erwies sich als undurchführbar, weil die Gebiete überwiegend von Polen bewohnt wurden.[2]

Arthur Greiser (1897–1946) führte als Reichsstatthalter in Posen/Poznań bereits am 28. Oktober 1939 ein Volkslisten-System ein.[3] Erfasst wurden nur Deutsche, die in Organisationen der Minderheit engagiert (Gruppe A) oder zumindest – nach NS-Vorstellung „eindeutig“ – als Deutsche zu identifizieren waren (Gruppe B); 1940 und Anfang 1941 fügte Greiser für „wiedereindeutschungsfähige Deutschstämmige“ die Gruppen C und D hinzu.[4] Das System galt nur im Reichsgau Wartheland.

2. Rechtliche Bestimmungen

Die Einführung der Deutschen Volksliste wurde am 4. März 1941 im Reichsgesetzblatt verkündet. Sie richtete sich an ehemalige polnische und Danziger Staatsangehörige. In den betroffenen Provinzen Wartheland, Danzig-Westpreußen, Oberschlesien und Ostpreußen wurden je eine Zentralstelle und auf den unteren Verwaltungsebenen Nebenstellen eingerichtet. Ein „Oberster Prüfungshof“ unter Vorsitz des „Reichskommissars für die Festigung des deutschen Volkstums“ Heinrich Himmler (1900–1945) war oberste Revisionsinstanz.[5]

Ein separater Erlass des Reichsinnenministers vom 13. März 1941 regelte die Unterteilung der DVL in vier Gruppen:

  • Gruppe I: Deutsche, „die sich vor dem 1. September 1939 im Volkstumskampf aktiv für das Deutschtum eingesetzt haben“,
  • Gruppe II: Deutsche, „die sich in der polnischen Zeit zwar nicht aktiv für das Deutschtum eingesetzt haben, die sich aber gleichwohl ihr Deutschtum nachweislich bewahrt haben“,
  • Gruppe III: „deutschstämmige Personen, die im Laufe der Jahre Bindungen zum Polentum eingegangen sind“, zudem „Angehörige der völkisch nicht klar einzuordnenden, blutmäßig und kulturell zum Deutschtum hinneigenden Bevölkerungsgruppen mit slawischer Haussprache“, wobei explizit gesagt wird, dass damit die Kaschuben, Masuren, „Wasserpolen“, Schlonsaken (Oberschlesier) und 100.000 Polen in Danzig-Westpreußen, die „zum Deutschtum neigen“, gemeint sind,
  • Gruppe IV: „deutschstämmige Personen […], die politisch im Polentum aufgegangen sind“.[6]

Alle übrigen Polen in den annektierten Gebieten galten als „Schutzangehörige“ des Deutschen Reiches.[7]

Mitglieder der Gruppen I und II bekamen die deutsche Staatsangehörigkeit, die Gruppen III und IV konnten sie auf Antrag durch Einbürgerung erwerben, bei der Gruppe IV sollte dies auf Widerruf erfolgen. Den Mitgliedern der Gruppen III und IV, den sogenannten „Eingedeutschten“, konnte die deutsche Staatsbürgerschaft innerhalb von zehn Jahren wieder entzogen werden.[8] Gemäß der „Zweiten Verordnung über die Deutsche Volksliste“ vom 31. Januar 1942 bekam auch die Gruppe III automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit.[9]

3. Anwendung

Für das Verfahren hatte das Reichsinnenministerium den „Fragebogen zur Feststellung des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Ostgebieten[10] und den „Ergänzungsfragebogen zur Ermittlung der deutschen Volkszugehörigkeit“[11] ausgegeben. In den einzelnen Provinzen wurde das Verfahren gemäß den politischen Vorstellungen der jeweiligen Gauleiter sehr unterschiedlich gehandhabt: In Oberschlesien und Danzig-Westpreußen nahm man die Bevölkerung ab 1942 massenhaft in die Deutsche Volksliste auf, vor allem in die Gruppe III. In Oberschlesien waren dafür pragmatische Gründe ausschlaggebend: In dem Industrierevier war man auf sämtliche Arbeitskräfte zwingend angewiesen und wollte sie an das Deutsche Reich binden. Der Gauleiter von Danzig-Westpreußen Albert Forster (1902–1952) unterstellte der alteingesessenen, auch polnischen Bevölkerung größtenteils mittelalterliche deutsche Wurzeln und strebte eine umfassende „Eindeutschung“ an; der Gau sollte „polenfrei“ werden. Viele Polen wurden zur Antragstellung gezwungen, ansonsten drohten Enteignung, Lagerhaft oder andere Strafen. Im Wartheland und den polnischen Gebieten, die zu Ostpreußen gekommen waren, waren die Gauleiter Arthur Greiser und Erich Koch (1896–1986) hingegen bemüht, Polen keine deutsche Staatsbürgerschaft zu verleihen; dieses „Privileg“ sollte nur vermeintlich Deutschstämmigen vorbehalten sein. Die Antragstellung war hier in erster Linie freiwillig.[12]

Im Januar 1944 waren 2,75 Millionen Menschen in die DVL eingetragen, davon 1,6 Millionen in der Gruppe III in Westpreußen und Oberschlesien.[13] Sie konnten ihren Besitz behalten oder zurückbekommen, erhielten bessere Lebensmittelkarten als die polnische Bevölkerung, hatten Anspruch auf deutsche Sozialleistungen, und die Kinder konnten zur Schule gehen. Mitglieder der Gruppe III unterlagen der Wehrpflicht, Angehörige der Gruppe IV hingegen nicht. In Oberschlesien und Westpreußen wurden vor allem ab 1943 viele Polen – meist unter Zwang – in die Gruppe III eingeordnet, um somit neue Soldaten zu rekrutieren.[14] Ungefähr 250.000 Polen kamen als DVL-Angehörige zur Wehrmacht, wobei zahlreiche Soldaten den Heimaturlaub nutzten, um zu den Partisanen zu gehen. Viele entzogen sich der Einberufung.[15]

Bevölkerung der eingegliederten Ostgebiete (Januar 1944)[16]


 

Volksliste

 



 
Gr. 1 Gr. 2 Gr. 3 Gr. 4 Reichs-deutsche Umsiedler Polnische Schutzan-gehörige u. Sonstige Insgesamt
Wartheland 230.000 190.000 65.000 25.000 195.000 245.000 3.450.000 4.400.000
Danzig-Westpreußen
(ohne Stadt Danzig)
115.000 95.000 725.000 2.000 50.000 58.000 605.000 1.650.000
Oberschlesien
(eingegliederte Gebiete)
130.000 210.000 875.000 55.000 100.000 40.000 1.040.000 2.450.000
Südostpreußen
(Ciechanów), Suwałki
9.000 22.000 13.000 1.000 25.000 10.000 920.000 1.000.000
Insgesamt 484.000 517.000 1.678.000 83.000 370.000 353.000 6.015.000 9.500.000

4. Nach dem Zweiten Weltkrieg

Die Volkslistenproblematik war eines der schwierigsten Themen der Aufarbeitung der NS-Zeit in Polen, weil es direkt das nachbarschaftliche Zusammenleben betraf. Die in der Volksliste erfassten Menschen galten als Kollaborateure, der Begriff „volksdeutsch“ (folksdojcz) hat bis heute in Polen eine pejorative Bedeutung.[17]

Angehörige der Volksliste, die in Polen bleiben wollten, mussten sich einer Rehabilitation unterziehen, die für Gruppe II vor Gericht stattfand, für die Gruppen III und IV vor einer Kommission. Angehörige der Gruppen I und II haben Polen meist freiwillig oder durch Ausweisung verlassen, während die der Gruppen III und IV größtenteils in Polen bleiben wollten und dies unter gewissen Schwierigkeiten auch konnten.[18]

Das Staatsbürgerschaftsrecht der Bundesrepublik Deutschland betrachtete die DVL-Angehörigen und deren Nachkommen als deutsche Staatsbürger. Auf diesem Wege sind bis in die 1990er Jahre viele polnische Staatsbürger als Spätaussiedler in die Bundesrepublik eingewandert, wobei nicht statistisch erfasst wurde, wer sich auf die DVL berief.[19]

5. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Martin Broszat: Nationalsozialistische Polenpolitik 1939–1945. Stuttgart 1961.
  • Sylwia Bykowska: Rehabilitacja i weryfikacja narodowościowa ludności polskiej w województwie gdańskim po II wojnie światowej [Rehabilitation und Verifikation der Nationalität der polnischen Bevölkerung in der Woiwodschaft Danzig nach dem Zweiten Weltkrieg]. Gdańsk 2012.
  • Johannes Frackowiak: Die „Deutsche Volksliste“ als Instrument der nationalsozialistischen Germanisierungspolitik in den annektierten Gebieten Polens 1939–1945. In: Ders. (Hg.): Nationalistische Politik und Ressentiments. Deutsche und Polen von 1871 bis zur Gegenwart. Göttingen 2013 (Berichte und Studien. Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden 64), S. 181–220.
  • Isabel Heinemann: Die „Germanisierung“ der annektierten westpolnischen Gebiete. Juden, Polen und Volksdeutsche. In: Dies.: „Rasse, Siedlung, deutsches Blut“. Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas. Göttingen 2003, S. 187–303.
  • Ryszard Kaczmarek: Górny Śląsk podczas II wojny światowej [Oberschlesien während des Zweiten Weltkriegs]. Katowice 2006.
  • Ryszard Kaczmarek: Polacy w Wehrmachcie [Polen in der Wehrmacht]. Kraków 2010.
  • Jerzy Kochanowski: Verräter oder Mitbürger? Staat und Gesellschaft in Polen zum Problem der Volksdeutschen vor und nach 1945. In: Ders., Maike Sach (Hg.): Die „Volksdeutschen“ in Polen, Frankreich, Ungarn und der Tschechoslowakei. Mythos und Realität. Osnabrück 2006 (Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau 12), S. 333–352.
  • Christoph Pallaske (Hg.): Die Migration von Polen nach Deutschland. Zu Geschichte und Gegenwart eines europäischen Migrationssystems. Baden-Baden 2001.
  • Krzysztof Stryjkowski: Położenie osób wpisanych w Wielkopolsce na niemiecką listę narodowościową w latach 1945–1950 [Die Lage von Angehörigen der Deutschen Volksliste in Großpolen in den Jahren 1945–1950]. Poznań 2004.

Weblinks

Anmerkungen

[1] Dieser Eintrag befasst sich mit der Deutschen Volksliste in den polnischen Gebieten, die zum 26. Oktober 1939 in das Deutsche Reich eingegliedert wurden. Für das Gebiet des Generalgouvernements wurden am 26. Januar 1940 die „Verordnung über die Einführung einer Kennkarte für deutsche Volkszugehörige“ sowie am 29. Oktober 1941 die „Verordnung über die Einführung eines Ausweises für Deutschstämmige“ erlassen. Teilweise werden auch diese Regelungen als „Volksliste“ bezeichnet, sind aber nicht Gegenstand dieses Textes. Beide Verordnungen und weitere dazugehörige Erlasse in: Karol Marian Pospieszalski (Hg.): Hitlerowskie „prawo“ okupacyjne w Polsce. Część II: Generalna Gubernia [Das NS-Besatzungsrecht in Polen. Teil 2: Generalgouvernement]. Poznań 1958 (Documenta occupationis 6/2), S. 174–208.

[2] Broszat: Polenpolitik, S. 118f.; Christopher Browning: Die Entfesselung der „Endlösung“. Nationalsozialistische Judenpolitik 1939-1942. München 2003, S. 30–64.

[3] Verordnungsblatt des Chefs der Zivilverwaltung beim Militärbefehlshaber von Posen Nr. 6, abgedruckt in: Karol Marian Pospieszalski (Hg.): Niemiecka lista narodowa w „Kraju Warty“. Wybór dokumentów [Die Deutsche Volksliste im „Wartheland“. Dokumente]. Poznań 1949 (Documenta occupationis teutonicae 4), S. 46.

[4] Ausführlich zum System in Posen der sogenannte Strickner-Bericht von 1942 oder 1943. Herbert Strickner: Die „Deutsche Volksliste“ in Posen, abgedruckt in: Pospieszalski: Niemiecka lista narodowa [Die Deutsche Volksliste] (Anm. 3), S. 19–130; Broszat: Polenpolitik, S. 122f.

[5] [Erste] Verordnung über die Deutsche Volksliste und die deutsche Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Ostgebieten vom 4. März 1941. In: Reichsgesetzblatt, Jahrgang 1941, Teil 1, S. 118f., § 1–2.

[6] Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch ehemalige polnische und Danziger Staatsangehörige, abgedruckt in: Karol Marian Pospieszalski (Hg.): Hitlerowskie „prawo“ okupacyjne w Polsce. Część I: Ziemie „wcielone“ [Das NS-Besatzungsrecht in Polen. Teil 1: „Eingegliederte“ Gebiete]. Poznań 1952 (Documenta occupationis 6/1), S. 122–139, hier S. 125–129.

[7] [Erste] Verordnung (Anm. 5), S. 119, § 7.

[8] [Erste] Verordnung (Anm. 5), S. 119, § 3–6. Danziger Staatsangehörige erhielten unter Umgehung der DVL direkt die deutsche Staatsangehörigkeit, es sei denn, sie erfüllten nicht die Voraussetzungen für die Gruppen I und II. In erster Linie richtete sich die DVL an bislang polnische Staatsangehörige.

[9] Zweite Verordnung über die Deutsche Volksliste und die deutsche Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Ostgebieten vom 31. Januar 1942. In: Reichsgesetzblatt, Jahrgang 1942, Teil 1, S. 51f., § 5.

[10] Dieser Fragebogen wurde vom Reichsinnenminister bereits am 25. November 1939 in einem Erlass ausgegeben: Fragebogen zur Feststellung des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Ostgebieten, abgedruckt in: Pospieszalski (Hg.): Hitlerowskie „prawo“ okupacyjne (Anm. 6), S. 112–114.

[11] Ergänzungsfragebogen zur Ermittlung der deutschen Volkszugehörigkeit, in: Pospieszalski, Hitlerowskie „prawo“ okupacyjne [Das NS-Besatzungsrecht] (Anm. 6), S. 136f.

[12] Broszat: Polenpolitik, S. 126–131; Kaczmarek: Górny Śląsk [Oberschlesien], S. 192–194; Dieter Schenk: Hitlers Mann in Danzig. Albert Forster und die NS-Verbrechen in Danzig-Westpreußen. Bonn 2000, S. 205–212.

[13] Broszat: Polenpolitik, S. 133.

[14] Kaczmarek: Górny Śląsk [Oberschlesien], S. 184f.

[15] Kaczmarek: Polacy w Wehrmachcie [Polen in der Wehrmacht], S. 173–178.

[16] Aus: Broszat: Nationalsozialistische Polenpolitik, S. 134.

[17] Stryjkowski: Położenie osób wpisanych [Die Lage von Angehörigen], S. 687.

[18] Kaczmarek: Polacy w Wehrmachcie [Polen in der Wehrmacht], S. 377f.; vgl. Bykowska: Rehabilitacja i weryfikacja [Rehabilitation und Verifikation].

[19] „Die Sammeleinbürgerungen, insbesondere über die ‚Verordnung über die Deutsche Volksliste und die deutsche Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Ostgebieten vom 4. März 1941 in der Fassung der Zweiten Verordnung über die Deutsche Volksliste und die deutsche Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Ostgebieten vom 31. Januar 1942‘ sind durch § 1 Abs. 1 Buchstabe d des Gesetzes zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit (StARegG) vom 22. Februar 1955 (BGBl. I S. 65) für die deutschen Volkszugehörigen anerkannt worden, sofern sie nicht die deutsche Staatsangehörigkeit durch ausdrückliche Erklärung ausgeschlagen haben.“ Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion der SPD, Deutscher Bundestag, Drucksache 12/2680 vom 16. Juni 1992.

Zitation

Roland Borchers: Deutsche Volksliste. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2014. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32838 (Stand 11.01.2021).

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