'Drang nach Osten'

1. Begriff

Der Begriff 'Drang nach Osten', der sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts herausbildete, wird in der wissenschaftlichen Literatur unterschiedlich definiert – u. a. als Schlagwort, Mythos, Topos, Stereotyp, Ideologie, intellektuelles Konstrukt oder historisches Konzept. Diese Bezeichnungen stehen nicht im Widerspruch zueinander, sondern entsprechen der sich wandelnden Wahrnehmung und Nutzung des Begriffs zu unterschiedlichen Zeiten sowohl durch die Deutschen als auch durch ihre östlichen Nachbarn.

2. Genese des Begriffes

Das Wort 'Drang' war seit der Epoche der Romantik als philosophischer Begriff gebräuchlich und bezeichnete ein "nicht bewusstes Wollen"[1]. Als 'deutscher Drang nach Osten' avancierte es zum Stereotyp und suggerierte, dass "ein bestimmter dumpfer, weder steuer- noch umkehrbarer 'Drang' das deutsche Volk nach Osten getrieben habe."[2] Diese Idee stützte sich auf eine seit Johann Gottfried Herder (1744–1803) verbreitete und auch von Adam Mickiewicz (1798–1855) und František Palacký (1798–1876) vertretene stereotype Gegenüberstellung friedliebender Slawen einerseits und kämpferischer, aggressiver Germanen andererseits, die von z. B. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831), Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852) oder Ernst Moritz Arndt (1769–1860) umgedeutet wurde in eine vermeintliche kulturelle und zivilisatorische Überlegenheit der Germanen über die Slawen.

Der Begriff wird auch in der nicht-deutschsprachigen Publizistik auf Deutsch verwendet, was lange Anlass zu der Annahme gab, es handle sich um einen ursprünglich aus Deutschland stammenden, danach von anderen Nationen übernommenen Begriff. Nach dem derzeitigen Stand der Forschung lässt sich dies weder bestätigen noch widerlegen. Die älteste bislang nachgewiesene Verwendung (sowohl als "Zug" als auch als "Drang nach Osten") findet sich 1849 in der deutschsprachigen politischen Schrift des Polen Julian Klaczko (1825–1906) mit dem Titel Die deutschen Hegemonen.[3] Er sandte diese als offenen Brief an Georg Gervinus (1805–1871), um seiner Enttäuschung über die Polen-Debatte in der Frankfurter Paulskirche Ausdruck zu verleihen. Da er den Begriff in Anführungszeichen setzte, lässt sich nicht eindeutig sagen, ob er ihn hervorheben wollte oder bereits (von einem unbekannten Autor) übernommen hat. Der Slowake Ľudovit Štúr (1815–1856) sprach in seinem 1851 geschriebenen, allerdings erst später veröffentlichten Werk über das Slawentum von einem "Andrang" und "Vordringen des Germanentums".[4] In Polen benutzte Karol Szajnocha (1818–1868) den Begriff in seinem 1861 veröffentlichten Buch über Jadwiga und Jagiello.[5]

3. Vom Schlagwort zum historisch-politischen Konzept

In dieser ersten Zeit wurde der Begriff nur vereinzelt und nicht systematisch als Schlagwort verwendet. Er bezog sich zunächst auf die – historisch nicht korrekt als ein zusammenhängendes Ereignis dargestellte – sogenannte mittelalterliche deutsche Ostkolonisation, die von deutscher Seite rückwirkend als 'kulturschaffender Prozess' und als Rückgewinnung ehemals germanischer Gebiete gedeutet wurde. In diesem Sinn fand er in den 1860er Jahren Eingang in die deutsche Historiografie als "Versuch einer ideologischen Rechtfertigung der preußischen und später deutschen Ostpolitik"[6]. Der breiten Öffentlichkeit blieb der Begriff jedoch zunächst unvertraut – nicht zuletzt deshalb, weil das politische Augenmerk des wilhelminischen Reiches weniger auf das östliche Europa als vielmehr auf die 'Weltpolitik' gerichtet war.

Größere Verbreitung fand er im 19. Jahrhundert als Heterostereotyp im slawischen Raum. Vor allem der russische Publizist Michail Katkov (1818–1887) nutzte ihn ab 1865 "as an instrument of psychological projection in his own political campaign against the entrenched but decaying power of the Baltic German elites"[7].

In Polen fanden die Überlegungen von Szajnocha Eingang in literarische Werke, von denen insbesondere der 1900 erschienene Roman Die Kreuzritter (Krzyżacy) von Henryk Sienkiewicz (1846–1916) zu nennen ist. Vor dem Hintergrund der Bismarck'schen Germanisierungspolitik des späten 19. Jahrhunderts wurden in Polen sowohl die mittelalterliche 'Ostkolonisation' als auch die Existenz des Deutschen Ritterordensstaates als aggressive deutsche Haltung gegenüber den polnischen Nachbarn und der 'deutsche Drang nach Osten' als dem deutschen Nationalcharakter innewohnend gedeutet. Auf diese Weise entwickelte sich im späten 19. Jahrhundert das Schlagwort zu einem historisch-politischen Konzept.

4. Mythologisierung und Ideologisierung

Dieses Konzept entbehrte jedoch jeder historischen Realität. Weder waren die mittelalterlichen Siedlungsbewegungen Teil einer aggressiven Ausbreitung der 'deutschen Nation' gewesen noch vermehrte sich die Anzahl deutscher Bewohner in den Provinzen Pommern, Westpreußen, Ostpreußen, Posen und Schlesien in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts. Im Gegenteil: Im Zuge der sogenannten Ostflucht verringerte sich der Anteil der deutschen Bewohner hier stetig.[8] Eine etwaige Kontinuität zwischen den mittelalterlichen Migrationsbewegungen und der preußisch-deutschen Politik des späten 19. Jahrhunderts gegenüber den slawischen Nachbarn ist lediglich konstruiert. Dennoch erfuhr der Begriff bis 1914 eine rasante Verbreitung, da er vermeintlich die Ziele deutscher Politik erklärte und sich aufgrund seines emotionalen Gehaltes leicht in ein Feindbild integrieren ließ. Diese Deutung fand nun auch Eingang in die französische und britische Presse. Die "Abwehr oder Verhütung des 'deutschen Dranges nach Osten'" erhielt im Ersten Weltkrieg "den Rang eines Kriegsziels"[9] und nahm damit realpolitische Züge an. "Insofern war der 'deutsche Drang nach Osten' Ideologie und Wirklichkeit zugleich."[10]

In der Zwischenkriegszeit leistete die offensive Nutzung des Begriffs durch deutsche und polnische Historiker und Publizisten dem Mythos einer 'tausendjährigen deutsch-polnischen Erbfeindschaft' Vorschub.[11] Wie sehr die Nutzung des Begriffs von der politisch-ideologischen Konjunktur abhing, lässt sich auch anhand der Entwicklung in der Sowjetunion ablesen: Da weder die mittelalterliche 'Ostkolonisation' noch die preußische Politik in den polnischen Provinzen eine Rolle im Geschichtsbild der jungen Sowjetunion spielte, geriet der Begriff hier zunächst in Vergessenheit. Dies änderte sich in der Zeit des Nationalsozialismus: Zwischen 1935 und 1939 wurde er wieder verwendet, nach dem Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffspakt fallen gelassen und infolge des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion 1941 erneut aufgegriffen.[12]

Tatsächlich erfuhr die Verwendung des Begriffs durch die aggressive nationalsozialistische Außenpolitik mit dem Ziel, 'Lebensraum' im Osten zu erobern, einen neuen Kulminationspunkt. Das in ihm transportierte Bild des 'deutschen Nationalcharakters' schien sich zu bestätigen. Das historisch-politische Konzept wurde zu einem integralen Teil sowohl der im Nationalsozialismus konstruierten Eigenwahrnehmung als auch der Perzeption der Deutschen durch die von ihnen unterdrückten Nationen.

5. Verwendung des Begriffes in der Nachkriegszeit

Der Mythos blieb auch nach 1945 insbesondere in Polen und in der Sowjetunion erhalten, denn er "bot eine irrationale Schein-Erklärung für einige Phänomene in der Geschichte des Verhältnisses der Deutschen zu ihren östlichen Nachbarn"[13]. Die hohe sozialintegrative Wirkung, die auch in Zeiten des Kalten Krieges funktionierte, wurde von polnischen, sowjetischen und sogar DDR-Politikern zu Zwecken der Konsolidierung der Macht und zur Darstellung der moralischen Überlegenheit des eigenen Systems genutzt. Zwar gab es immer auch kritische Stimmen, wie z. B. Antoni Gołubiew (1907–1979) in Polen,[14] die auf die Unwissenschaftlichkeit und Unhaltbarkeit des Konzepts hinwiesen, doch konnten sie sich nicht gegen den ideologisch aufgeladenen Mythos eines 'deutschen Drangs nach Osten' durchsetzen. Allenfalls kam es zu einer etwas differenzierteren, doch weiterhin eindeutig sozialistisch geprägten Interpretation: "In narrowing down the Drang nach Osten to the period of feudalism and capitalism attention should be drawn to the class character of this expansion. […] From this point of view, it seems absolutely necessary to distinguish between the industrious activity of the German peasant and the parasitic activity of the German feudal lord."[15] Es galten nicht mehr alle Deutschen als aggressiv, nur die Elite – doch die Kontinuität eines 'deutschen Drangs nach Osten' über die Jahrhunderte wurde nicht infrage gestellt.

6. Erneuter Wandel

Erst mit dem Ende der ideologischen Konfrontation wurde eine Neubetrachtung und Entlarvung des Mythos möglich. Von seinem historisch-politischen Konzept abgetrennt, wird das Schlagwort vom 'Drang nach Osten' allerdings bis heute im Bereich der Kapitalismuskritik verwendet, um vor einer befürchteten wirtschaftlichen und politischen Vereinnahmung der ehemaligen Ostblockstaaten zu warnen.[16] Dies zeugt von der – Stereotypen oft eigenen – hohen Flexibilität des Begriffes und wirft die Frage auf, ob und in welcher Form er unter den veränderten gesellschaftlich-politischen Rahmenbedingungen im Sprachgebrauch verbleiben wird.

7. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Stephan Guth: Mythen und Stereotypen der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte in der Zwischenkriegszeit. In: Heidi Hein-Kircher, Hans Henning Hahn (Hg.): Politische Mythen in Mittel- und Osteuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Marburg 2006 (Tagungen zur Ostmitteleuropa-Forschung 24), S. 207-224.
  • Jerzy Krasuski: Polska i Niemcy. Dzieje wzajemnych stosunków politycznych do 1932 roku [Polen und Deutschland. Die Geschichte der politischen Beziehungen bis 1932]. Warschau 1989.
  • Gerard Labuda: A Historiographic Analysis of the German Drang nach Osten. In: Polish Western Affairs 5 (1964), S. 221-265.
  • Hans Lemberg: Der 'Drang nach Osten' - Mythos und Realität. In: Ewa Kobylińska, Andreas Lawaty, Rüdiger Stephan (Hg.): Deutsche und Polen. 100 Schlüsselbegriffe. München, Zürich 1992, S. 22-28.
  • Henry Cord Meyer: Drang nach Osten. Fortunes of a Slogan-concept in German Slavic Relations 1849-1990. Bern u. a. 1996.
  • Jan Wiktor Tkaczyński: Der 'Drang nach Osten'. Mythos und Realität eines Schlagwortes. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 45 (1997), S. 5-20.
  • Wolfgang Wippermann: Der 'deutsche Drang nach Osten'. Ideologie und Wirklichkeit eines politischen Schlagwortes. Darmstadt 1981 (Impulse der Forschung 35).

Anmerkungen

[1] Lemberg: Der 'Drang nach Osten', S. 24.

[2] Wippermann: Der 'deutsche Drang nach Osten', S. 9.

[3] J[ulian] K[laczko]: Die deutschen Hegemonen. Offenes Sendschreiben an Herrn Georg Gervinus.

Berlin 1849.

[4] Ľudovit Štúr: Das Slawenthum und die Welt der Zukunft/Slovanstvo a svět budoucnosti. Hg. von Josef Jirásek. Bratislava 1931.

[5] Karol Szajnocha: Jadwiga i Jagiełło 1374–1412. Opowiadanie historyczne [Jadwiga und Jagiello 1374–1412. Historische Erzählung]. Lwów 1861.

[6] Tkaczyński: Der 'Drang nach Osten', S. 9.

[7] Meyer: Drang nach Osten, S. 133.

[8] Vgl. Tkaczynski: Drang nach Osten, S. 11f.

[9] Lemberg: Drang nach Osten, S. 26.

[10] Wippermann: Der 'deutsche Drang nach Osten', S. 6.

[11] Vgl. Guth: Mythen und Stereotypen, S. 207–224.

[12] Vgl. Wippermann: Der 'deutsche Drang nach Osten', S. 59–70.

[13] Lemberg: Drang nach Osten, S. 27.

[14] Antoni Gołubiew: Mit o Drang nach Osten [Der Mythos vom Drang nach Osten]. In: Tygodnik Powszechny Nr. 9 vom 28.02.1960. Vgl. auch Jan Kurzok: Das Schlagwort vom deutschen Drang nach Osten. Ein polnischer Publizist gibt der historischen Wahrheit die Ehre. In: Die Zeit Nr. 14 vom 01.04.1960.

[15] Labuda: A Historiographic Analysis, S. 258.

[16] Hannes Hofbauer: Osterweiterung. Vom Drang nach Osten zur peripheren EU-Integration. Wien 2003 (Brennpunkt Osteuropa).

Zitation

Berit Pleitner: 'Drang nach Osten'. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2013. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32832 (Stand 05.01.2021).

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(Stand: 19.01.2024)  | 
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