Pernau/Pärnu

1. Toponymie

Deutsche Bezeichnung

Pernau

Amtliche Bezeichnung

estn. Pärnu

Anderssprachige Bezeichnungen

lett. Pērnava; lit. Pernu; poln. Parnawa; russ. Пернов (Pernov); lat. Perona

Etymologie

Zur etymologischen Herkunft des Stadtnamens existieren mehrere Theorien: Herleitung vom germanischen Wort „bernu“ (Bär), vom botanischen Gattungsnamen „pernä“/„pärnä“ (Linde), der aus der mittelsteinzeitlichen Kunda-Kultur tradiert wurde, oder vom wepsischen (einem Zweig der finno-ugrischen Sprachen) Begriff „pern“/„pernan“ (abschüssiges Ufer).[1]

2. Geographie

Lage

Pernau liegt auf 58° 23’ nördlicher Breite, 24° 31’ östlicher Länge, etwa 116 km südlich von Reval/Tallinn und 200 km nördlich von Riga/Rīga.

Topographie

Pernau liegt an der südlichen Westküste Estlands, am nördlichen Ufer der Rigaer Bucht (estn. Liivi laht), an der Mündung des gleichnamigen Flusses. Die Stadt prägt ein etwa drei km langer Sandstrand.

Region

Westestland; historisch: Livland

Staatliche und administrative Zugehörigkeit

Estland. Hauptstadt des Landkreises Pernau (est. Pärnu maakond, Pärnumaa).

3. Geschichte und Kultur

Gebräuchliche Symbolik

Das Stadtwappen von Pernau zeigt, aus einer Wolke kommend, den Arm Gottes im roten Ärmel. Die Hand umfasst ein goldenes Kreuz; daneben ein goldener Stadtschlüssel.

Vor- und Frühgeschichte

Unweit von Pernau befinden sich Überreste einer mesolithischen Kunda-Siedlung. Ein bedeutendes Fundstück des Neolithikums ist die „Madonna aus der Steinzeit“, die älteste Menschenfigur des Ostseeraums.

Mittelalter

Die erste Erwähnung des Flusses Bernu findet sich in den Aufzeichnungen des arabischen Geographen Abu Abdallah Muhammed al-Idrisi (1100−1166) aus dem Jahr 1154. Am rechten Flussufer entstand die Siedlung Perona (Alt-Pernau). Nach der Eroberung der Insel Ösel/Saaremaa 1227 durch den Livländischen Schwertbrüderorden wurde auch Pernau dem neu gegründeten Bistum Ösel-Wiek unterstellt; mit der Weihe der Domkirche 1251 fungierte es als Bischofsresidenz. Nach der Zerstörung Alt-Pernaus 1263 durch litauische Angriffe errichtete der Deutsche Orden (in dem der Schwertbrüderorden 1237 aufgegangen war) um 1265 eine Ordensburg bei Embeke (Neu-Pernau). 1318 erhielt Pernau das Stadtrecht; fortan entwickelte es sich, an der Handelsstraße zwischen Riga und Reval liegend, zur Handels- und Hansestadt.

Neuzeit

Im 16. Jahrhundert kollabierte die Herrschaft des Deutschen Ordens. Während des Livländischen Krieges (1558–1583) kämpften Polen-Litauen, Russland und Schweden um die Oberherrschaft über die Region; Pernau wurde ab 1560 von Polen-Litauen und ab 1617 von Schweden regiert. Unter schwedischer Herrschaft wurde das Stadtgebiet durch Befestigungsanlagen mit Bastionen militärisch verstärkt. 1710 eroberten zaristische Truppen im Zuge des Großen Nordischen Krieges die Stadt, welche 1721 durch die Bestimmungen des Friedens von Nystad als Teil des neu geschaffenen Gouvernements Livland an das Zarenreich angegliedert wurde.

1838 eröffnete die erste Badeanstalt, und Pernau wurde durch den Abriss der historischen Stadtbefestigung und die Errichtung von Sanatorien zum Kurort ausgebaut. 1896 wurde der Bahnhof fertiggestellt.

Zeitgeschichte

Am 23. Februar 1918 wurde vom Balkon des Pernauer Endla-Theaters die Republik Estland (Eesti Vabariik) ausgerufen, die kurz danach von Truppen des Deutschen Kaiserreichs besetzt wurde. Nach dessen Niederlage im November 1918 führten estnische Truppen einen Befreiungskampf sowohl gegen die deutsche Landwehr als auch gegen nachgerückte bolschewistische Truppen. In Pernau gründete sich im Januar 1919 das Pernauer Abwehrbataillon (im Mai 1919 umbenannt in 9. Unabhängiges Infanteriebataillon) zum Schutz der estnischen Staatsgrenzen. Nach dem Frieden von Dorpat/Tartu (2. Februar 1920) blieb das Pernauer Bataillon noch bis zum 13. Februar 1920 im ostestnischen Narwa/Narva stationiert.

In den Folgejahren setzte sich Pernaus Ausbau als See- und Heilbad fort. 1939 und 1940 verließ die deutschbaltische Bevölkerung auf Geheiß Adolf Hitlers (1889−1945) die Stadt. 1940 wurde Pernau von der Roten Armee eingenommen, am 8. Juli 1941 von der deutschen Wehrmacht erobert und am 24. September 1944 wieder von der Roten Armee besetzt. Sowjetische Luftangriffe zerstörten die Stadt zu großen Teilen. Nach dem Wiederaufbau entwickelte sich Pernau ab den 1950er Jahren zu einer durch die sowjetische Oberschicht frequentierten Kur- und Badestadt. Neben dem Tourismus spielen heute insbesondere die Textilindustrie, Holzverarbeitung und Möbelherstellung, Elektronik und Metallverarbeitung eine wirtschaftliche Rolle. Kleine Unternehmen mit bis zu zehn Mitarbeitern erbringen etwa 80 Prozent der Wirtschaftsleistung.

Bevölkerung

Jahr 1881 1897 1922 1934 1959 1970 1979 1989 2000 2011
Einwohner2 12.966 12.898 18.499 20.334 22.367 46.316 49.623 52.389 45.500 39.728

 

Von den 20.334 Einwohnern Pernaus 1934 waren 18.436 (90,7 Prozent) Esten, 871 (4,2 Prozent) Deutschbalten, 469 (2,3 Prozent) Russen und 248 Juden (1,2 Prozent).[ 1979 war der Anteil der Esten auf 74,1 Prozent gesunken, der Anteil der Russen auf 19,5 Prozent gestiegen. Der Zensus von 2011 verzeichnet 83,1 Prozent Esten, 12,8 Prozent Russen, 1,7 Prozent Ukrainer, 0,6 Prozent Finnen und 1,8 Prozent Andere.

Religions- und Kirchengeschichte

Ab dem 13. Jahrhundert gehörte Pernau zum Bistum Ösel-Wiek. Es folgte der Bau der Domkirche und der Stadtkirche St. Nikolai, die bis zum Wegzug der Deutschbalten 1939/40 deren religiöses Zentrum war und 1944 bei Bombenangriffen zerstört wurde. Die Reformation fasste in Pernau nur langsam Fuß. 1525 eignete sich die deutschbaltische Stadtregierung kirchliche Besitztümer an, am 15. Mai 1526 kam es zu einem Bildersturm. Unter schwedischem Einfluss ab Mitte des 16. Jahrhunderts dominierte der Protestantismus. Die 1747 erbaute Elisabethkirche war die erste estnische evangelisch-lutherische Kirche. Katharina die Große (1729−1796) ließ 1768 die russisch-orthodoxe Jekaterina-Kirche für die russische Garnison in Pernau errichten. Die 1904 erbaute historistische Christi-Verklärungskirche ist heute Pernaus größte orthodoxe Kirche. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich ein jüdisches Gemeinschafts- und Kulturleben. Im Zweiten Weltkrieg wurde die jüdische Bevölkerung zum großen Teil ausgelöscht.

Bildung und Wissenschaft

Von 1699 bis 1710 war die Universität Dorpat aufgrund des Nordischen Krieges in Pernau untergebracht. Heute befinden sich eine Außenstelle der Estonian Entrepreneurship University for Applied Sciences sowie das Pernau Kolleg der Universität Dorpat in der Stadt. Pernau hat elf städtische und drei private Schulen sowie ein Berufsbildungszentrum und die Deutsche Technologieschule (Saksa tehnoloogiakool) des international agierenden Bildungsdienstleisters Stiftung Bildung & Handwerk.

Architektur und Kunstgeschichte

Mit der Stadtgründung durch den Deutschen Orden wurde 1251 die Domkirche am rechten Flussufer errichtet. Um 1265 folgte am linken Flussufer eine Ordensburg, bestehend aus zwei Vorburgen und einem Kloster (gebaut 1311), welche um eine Stadtmauer erweitert wurde. Während des Livländischen Krieges Ende des 16. Jahrhunderts wurde die Burg stark beschädigt und ab 1710 geschleift. Von der mittelalterlichen Stadtbefestigung zeugt der Rote Turm (Punane torn), erhalten ist auch das barocke Revaler Tor (Tallinna värav).

Das klassizistische Rathaus wurde 1797 von dem deutschbaltischen Kaufmann P. R. Harder als Wohnhaus gebaut. Ein Beispiel für den frühen Jugendstil ist die 1905 fertiggestellte Villa des deutschbaltischen Kaufmanns Hermann Leopold Ammende (1855−1934). Das Stadtzentrum ist geprägt von charakteristischen Holzhäusern, die unter anderem der Sommerfrische dienten. In Strandnähe wurde 1880 der Kursaal (Kuursaal) gebaut, in den 1920er Jahren folgte eine neoklassizistische Schlammbadeanstalt. Der sowjetische Funktionalismus zeigt sich in dem von Anton Soans (1885−1966) und Olev Siinmaa (1881−1948) von 1935 bis 1937 errichteten Strandhotel (heute Scandic Rannahotell).

Buch-, Druck- und Mediengeschichte, Film

Die an einen deutschbaltischen Leserkreis gerichteten Pernauschen Wöchentlichen Nachrichten erschienen von 1811 bis 1821. Von 1822 bis 1869 wurde das Pernausche Wochenblatt herausgegeben, danach die Pernausche Zeitung. Pernau ist Geburtsstadt der estnischen Dichterin Lydia Koidula (1843−1886), Tochter des Zeitungsverlegers Johann Voldemar Jannsen (1819−1890). Dieser veröffentlichte von 1857 bis 1885 mit dem Perno Postimees die erste estnischsprachige Zeitung des Landes.

Pernau ist Drehort des ersten estnischen Spielfilms Bärenjagd im Pernauer Land (Karujaht Pärnumaal) von Johannes Pääsuke (1892−1918) aus dem Jahr 1914, der den Konflikt zwischen Esten und Deutschbalten anhand der Bürgermeisterwahlen am 18. Dezember 1913 behandelt.

Gedächtnis- und Erinnerungskultur

Der estnischen Nationalbewegung wird seit 1945 im Koidula-Museum, dem ehemaligen Wohnhaus (1850 bis 1863) des Publizisten Johann Voldemar Jannsen und seiner Tochter Lydia Koidula, gedacht. Seit 1929 steht im Stadtpark eine Statue Lydia Koidulas. 1993 wurde an der Stadtgrenze ein deutscher Soldatenfriedhof mit 960 Gefallenen aus beiden Weltkriegen eingeweiht. In der Nähe befindet sich ein Gräberfeld des Estnischen Freiheitskrieges 1919/1920. Seit 1997 erinnert eine Skulptur an das 1994 untergegangene Fährschiff Estonia.

4. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Matthias Asche: Die baltischen Lande im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Bd. 3. Münster 2011 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 71) [insb. S. 17−99].
  • Hans Feldmann, Gertrud Westermann: Baltisches Historisches Ortslexikon. Estland (einschliesslich Nordlivland). Köln, Weimar 1985 [insb. S. 444−446].
  • Heinrich Laakmann: Geschichte der Stadt Pernau in der Deutsch-Ordenszeit (bis 1558). Marburg 1956 (Wissenschaftliche Beiträge zur Geschichte und Landeskunde Ostmitteleuropas 23).
  • Constantin Mettig: Baltische Städte. Skizzen aus der Geschichte Liv-, Est- und Kurlands. 2., erw. Auflage. Riga 1905 [insb. S. 59−81].
  • Inna Põltsam-Jürjo: Liivimaa väikelinn varase uusaja lävel. Uurimus Uus-Pärnu ajaloost 16. sajandi esimesel poolel [Eine livländische Kleinstadt in der Frühen Neuzeit. Eine Studie über Neu-Pernau in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts]. Tallinn 2008. URL: www.digar.ee/arhiiv/nlib-digar:18742.
  • Raimo Pullat: Die Nachlassverzeichnisse der Einwohner der Stadt Pernau. 1702−1800. Tallinn 2005.
  • Toivo U. Raun: Estonia and the Estonians. Studies of Nationalities. 2., überarb. Auflage. Stanford 2001 [insb. S. 33, 70f., 90f., 131, 206f.].
  • Rolf Dietrich Schmidt: Pernau. Eine livländische Hafenstadt. Essen 1986 (Schriftenreihe der Carl-Schirren-Gesellschaft 5).

Weblinks

Anmerkungen

[1] Marje Joalaid: Estonian Toponyms of the Baltic-Finnic Background. In: Biblioteca Tècnica de Política Lingüística: Els noms en la vida quotidiana. Actes del XXIV Congrés Internacional d’ICOS sobre Ciències Onomàstiques. Barcelona 2014, Annex. Secció 6, S. 1199−1206.

[2] Statistics Estonia: Päring Statistikaamenti andmebaasist [Abfrage der statistischen Datenbank]. URL: pub.stat.ee/px-web.2001/I_Databas/Population_Census/databasetree.asp (Abruf 10.10.2015).

[3] Rahvused administratiiv-üksuste järgi 1934 a. − Nationalité (ethnique) d'après les unités administratives en 1934. In: Herder-Institut (Hg.): Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul „Estland in der Zwischenkriegszeit“. URL: www.herder-institut.de/resolve/qid/2189.html (Abruf 21.11.2015); Eugenia Gurin-Loov, Gennadi Gramberg: Eesti Juudi Kogukond – The Jewish Community of Estonia. Tallinn 2001.

[4] Raun: Estonia and the Estonians, S. 207.

[5] Statistics Estonia (Anm. 1).

Zitation

Anna Derksen: Pernau/Pärnu. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2015. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32504 (Stand 15.02.2022)

Nutzungsbedingungen für diesen Artikel

Copyright © Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (BKGE), alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk entstand im Rahmen des Projekts „Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa“ und darf vervielfältigt und veröffentlicht werden, sofern die Einwilligung der Rechteinhaber vorliegt. Bitte kontaktieren Sie: ome-lexikon@uol.de

Wenn Sie fachliche Hinweise oder Ergänzungen zum Text haben, wenden Sie sich bitte unter Angabe von Literatur- und Quellenbelegen an die Redaktion.

OME-Redaktion (Stand: 30.07.2024)  | 
Zum Seitananfang scrollen Scroll to the top of the page