Landsmannschaften

1. Kurzbeschreibung

Landsmannschaften sind Vertriebenenorganisationen, in denen sich Menschen zusammenschließen, die oder deren Vorfahren aus den gleichen Herkunftsgebieten stammen. Der sog. landsmannschaftliche Gedanke basiert auf der Überlegung, dass die als gegeben angenommene, überwiegend allerdings auf Konstruktionen ex post beruhende, "stammesmäßige" Zusammengehörigkeit aufrechterhalten werden muss. Die Unterscheidung zwischen Erlebnis- und Bekenntnisgeneration ist Ausdruck dieser Bemühungen. Mit der Schaffung eines erblichen Vertriebenenstatus im Bundesvertriebenengesetz (BVFG) von 1953, dessen sichtbarer Ausdruck der Vertriebenenausweis war, wurde dieses Selbstverständnis gleichsam bundesgesetzlich anerkannt. Erst das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz (KfbG) von 1992 beendete diese Praxis.

Eine wichtige Wurzel des landsmannschaftlichen Selbstverständnisses waren Erfahrungen und Denkweise der "auslandsdeutschen" Minderheiten der Zwischenkriegszeit, etwa der Deutschbalten, Westpreußen oder (Ost-)Oberschlesier, v. a. der sog. Sudetendeutschen. Dies zeigt besonders der Begriff "Volksgruppe", der ursprünglich nur in diesem Kontext verwendet wurde: Unter Integration verstanden die Landsmannschaften nach 1945 vor allem die Wahrung ihrer "Volksgruppenidentität"; eine Assimilation an die Aufnahmegesellschaft wurde folgerichtig abgelehnt.

Organisationssoziologisch weisen Landsmannschaften Gemeinsamkeiten mit vormodernen ständischen Vereinigungen auf: Gruppenloyalitäten und Gemeinschaftsnormen stellen über den rationalen Vereinszweck und individuelle Nutzenerwägungen hinaus einen nicht zu unterschätzenden "emotionalen Kitt" dar, der ihnen teilweise bis heute Loyalität und Mobilisierbarkeit ihrer Mitglieder sichert.

2. Geschichte und Programmatik

Erste landsmannschaftliche Organisationen bildeten sich trotz der restriktiven Lizenzierungspolitik der Westalliierten bereits 1945, lediglich in der SBZ/DDR wurden vergleichbare Aktivitäten von Anfang an unterbunden. Als überregionale Dachverbände entstanden Landsmannschaften in Westdeutschland und Österreich seit Ende der 1940er Jahre. Am 9. April 1949 wurden in Frankfurt am Main für die Westzonen die sog. Vereinigten Ostdeutschen Landsmannschaften (VOL) gegründet. Ursprünglich eine reine Versammlung der Sprecher bzw. Vorsitzenden ohne differenzierte Verbandsorganisation und Mehrheitsprinzip, wandelten sich die VOL gegen den Widerstand insbesondere der Schlesier und der Sudetendeutschen in den nächsten Jahren zu einem echten Dachverband und gründeten am 18. August 1952 in Bad Kissingen den Verband der Landsmannschaften (VdL). Besonders umstritten war im Vorfeld die Stimmverteilung in der Sprecherversammlung. Letztlich einigte man sich auf eine Art Kuriensystem und eine Stimmenspreizung nach Mitgliederzahl. Die Gründung des VdL verfestigte die seit 1949 bestehende organisatorische Spaltung der Vertriebenen. Es gab zwar mehrere Anläufe zur Fusion mit dem ebenfalls 1949 gegründeten Zentralverband vertriebener Deutscher (ZvD) unter dem Namen Bund vertriebener Deutscher (BVD), doch scheiterten diese endgültig 1953. Dass der ZvD sich im Jahr darauf demonstrativ in BVD umbenannte, war so gesehen ein Etikettenschwindel, welcher allerdings insofern eine gewisse Berechtigung hatte, als einzelne ZvD-Landesverbände, z. B. Hessen, von sich aus die Einigung mit den Landsmannschaften vollzogen hatten. Hauptgrund für das Scheitern der Bemühungen waren neben der Grundproblematik des Vertriebenenpartikularismus an sich und persönlichen Animositäten zwischen einzelnen Handlungsträgern die Ambitionen des mächtigen ZvD-Vorsitzenden Linus Kather (1893–1983) auf das Amt des Bundesvertriebenenministers. Dass es 1957/58 schließlich doch zur Gründung des nun "Bund der Vertriebenen. Vereinigte Landsmannschaften und Landesverbände (BdV)" genannten Einheitsverbandes kam, hängt maßgeblich damit zusammen, dass sich in beiden Verbänden die Erkenntnis durchsetzte, dass das bisher praktizierte Gegeneinander kontraproduktiv war. Kather war zuvor von seinem eigenen Verband weitgehend entmachtet worden und zog sich aus der Politik zurück. Auch unter dem Dach des BdV gab es weiterhin eine ständige Arbeitsgemeinschaft der Sprecher der Landsmannschaften. Die Landsmannschaften in der Republik Österreich hatten sich am 11. September 1954 zur "Arbeitsgemeinschaft volksdeutscher Landsmannschaften Österreichs" - heute "Verband der volksdeutschen Landsmannschaften Österreichs" (VLÖ) - zusammengeschlossen; organisatorische Verbindungen zu den bundesdeutschen Schwesterorganisationen bestehen insbesondere bei der Sudetendeutschen Landsmannschaft.

Der Anspruch der Landsmannschaften, die deutschen Ostgebiete bzw. deren vertriebene Bewohner in ihrer regionalen Vielfalt zu repräsentieren und so eine gesamtdeutsche Aufgabe wahrzunehmen, bedeutete im Kern nichts anderes, als dass sie sich gleichsam als Zwangsorganisationen verstanden, der sich die "Landsleute" weder entziehen konnten noch durften. Rein rechtlich gesehen waren die Landsmannschaften dagegen bürgerliche Vereine, die lediglich für ihre Mitglieder sprechen konnten, und das waren bereits Mitte der 1950er Jahre mit Ausnahme der Deutsch-Baltischen Landsmannschaft durchweg weniger als 30 Prozent der jeweiligen Klientel. Von Anfang an ging deshalb das Bestreben der Landsmannschaften dahin, ihren Status in irgendeiner Form öffentlich-rechtlich abzusichern. Obgleich dies misslang, gestalteten die Landsmannschaften ihre innere Organisation staatsähnlich (bzw. exilregierungsähnlich) aus und hielten weiterhin an ihrem Alleinvertretungsanspruch fest. Man bemühte sich auch, unterhalb der öffentlich-rechtlichen Ebene zu einer engeren Zusammenarbeit der Landsmannschaften zu kommen. Deshalb entstand 1959 neben dem BdV die "Arbeitsgemeinschaft ostdeutscher Provinzen" (später "Ständiger Rat der ostdeutschen Landesvertretungen"), ein Zusammenschluss der Landsmannschaften Ostpreußen, Westpreußen, Pommern, Berlin-Mark Brandenburg, Schlesien und Oberschlesien. Der Rat baute auf den einzelnen, parlamentsähnlichen Landesvertretungen auf und beanspruchte so etwas wie eine parlamentarische Vertretung der Deutschen aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße-Grenze darzustellen. Die Gründung des Rates war auch Ausdruck der überkommenen Lagerbildungen bei den Landsmannschaften: Auf der einen Seite die Sudetendeutschen mit ihrem "südostdeutschen" Anhang, auf der anderen Seite die sog. reichsdeutschen Landsmannschaften mit ihrem "nordostdeutschen" Anhang. Nicht immer eindeutig zuzuordnen waren die selbstbewussten und gut organisierten Deutschbalten und Oberschlesier.

Bei den Landsmannschaften ist seit den 1960er Jahren ein ähnlicher Bedeutungs- und Mitgliederverlust zu beobachten wie beim Dachverband BdV insgesamt. Dennoch erwies sich das landsmannschaftliche Organisationsprinzip bis heute in gewissem Sinne als tragfähig. Dazu trugen auch Patenschaften mit Bundesländern bei. Der Hauptgrund dürfte allerdings in dem erwähnten "emotionalen Kitt" zu suchen sein, den der "landsmannschaftliche Gedanke" einem Teil der Vertriebenen und ihren Nachkommen immer noch bietet, die nicht nur eine bloße Interessenvertretung, sondern Anschluss an eine "Heimatfamilie" (Ingeborg Zeiträg) suchen. In jüngster Zeit wird das überkommene landsmannschaftliche Selbstverständnis vereinzelt hinterfragt bzw. neu interpretiert, so benannte sich die in Darmstadt ansässige Deutsch-Baltische Landsmannschaft 2006 in Deutsch-Baltische Gesellschaft um.

3. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Pertti Ahonen: After the expulsion. West Germany and Eastern Europe 1945–1990. Oxford, New York 2003.
  • K. Erik Franzen: Der vierte Stamm Bayerns. Die Schirmherrschaft über die Sudetendeutschen 1954–1974. München 2010 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 120).
  • Michael Schwartz: Funktionäre mit Vergangenheit. Das Gründungspräsidium des Bundesverbandes der Vertriebenen und das "Dritte Reich". München 2013.
  • Matthias Stickler: "Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch" – Organisation, Selbstverständnis und heimatpolitische Zielsetzungen der deutschen Vertriebenenverbände 1949–1972. Düsseldorf 2004 (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte 46).
  • Matthias Stickler: Vertriebenenintegration in Österreich und Deutschland – ein Vergleich. In: Michael Gehler, Ingrid Böhler (Hg): Verschiedene europäische Wege im Vergleich. Österreich und die Bundesrepublik Deutschland 1945/49 bis zur Gegenwart. Festschrift für Rolf Steininger zum 65. Geburtstag. Innsbruck u. a. 2007, S. 416–435.
  • Tobias Weger: "Volkstumskampf" ohne Ende? Sudetendeutsche Organisationen 1945–1955. Frankfurt/M. u. a. 2008 (Die Deutschen und das östliche Europa 2).
  • Ingeborg Zeiträg: Die Selbstdarstellung der deutschen Vertriebenenverbände als Reflex ihrer gesellschaftlichen Situation. Diss. Hamburg 1970.

Weblinks

Zitation

Matthias Stickler: Landsmannschaften. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2012. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32706 (Stand 21.12.2021).

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(Stand: 19.01.2024)  | 
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