Ostforschung

1. Genese

Begriff

Der Begriff 'Ostforschung' bezeichnet eine multidisziplinäre Forschungsrichtung, die im deutschsprachigen Raum nach dem Ersten Weltkrieg entstand. Sie befasste sich aus einem deutschtumszentrierten Blickwinkel mit den Gebieten Ostmittel- und Osteuropas und betrachtete die dortigen Völker und Staaten nicht als gleichberechtigte Subjekte, sondern lediglich als Objekte der von ihr proklamierten deutschen Hegemonie in diesem Gebiet.

Träger, Gebrauch

Prominenten Gebrauch fand der Begriff in dem zweibändigen Werk Deutsche Ostforschung. Ergebnisse und Aufgaben seit dem Ersten Weltkrieg.[1] Es war Albert Brackmann (1871–1952), dem Leiter der Nordostdeutschen Forschungsgemeinschaft, gewidmet und stellte auf dem Höhepunkt des deutschen Vernichtungskrieges eine Zwischenbilanz des bisherigen Wirkens dar.

Nach 1945 nahm der Forschungsrat des Johann Gottfried Herder-Instituts in Marburg die Tradition der Nordostdeutschen Forschungsgemeinschaft wieder auf und gab ab 1952 die Zeitschrift für Ostforschung heraus.[2] Die Umbenennung in Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung markierte 1994 die Abkehr vom Paradigma der Ostforschung.

Im Kontext der deutsch-deutschen Konfrontation fand der Begriff ab dem Ende der 1950er Jahre Verwendung. Von der DDR wurden die institutionellen und personellen Kontinuitäten in der Ostforschung im Rahmen einer Kampagne gegen die als 'revanchistisch' gebrandmarkte Bundesrepublik instrumentalisiert.[3]

Heute ist der Begriff 'Ostforschung' als Selbstbezeichnung einer Forschungsrichtung kaum noch gebräuchlich. Dafür hat sich die Aufarbeitung ihrer Geschichte seit dem Ende der 1990er Jahre deutlich intensiviert.

Fremdsprachige Entsprechungen, Übersetzungen, Übernahmen

Vom Begriff existieren Übersetzungen in andere Sprachen, etwa Badania wschodnie im Polnischen, Research of the East, Research on the East sowie Eastern Research im Englischen und Recherche sur l'Est im Französischen. Zumeist wird der Terminus jedoch aufgrund seiner spezifisch deutschen Genese und Konnotation als deutsches Lehnwort übernommen.[4]

Als Entsprechung zur deutschen Ostforschung findet in der Forschung der Begriff der polnischen 'Westforschung' Verwendung,[5] als Bezeichnung für die polnische Beschäftigung mit den Westgebieten der Zweiten Polnischen Republik nach 1918 sowie den nach 1945 als 'wiedergewonnene Gebiete' (ziemie odzyskane) bezeichneten ehemaligen deutschen Ostgebieten. Der Begriff 'Westforschung' ist jedoch nicht unproblematisch, da er in Anlehnung an den deutschen Begriff 'Ostforschung' gebildet wurde und keine Entsprechung im Polnischen hat. Dort ist vielmehr in der Regel vom polnischen Westgedanken (polska myśl zachodnia) die Rede. Der Gebrauch des Begriffs 'Westforschung' impliziert somit bereits die Betonung von Parallelen zur deutschen Ostforschung, was von polnischen Autoren kritisiert worden ist.[6]

2. Historischer Abriss

Im Unterschied zur "Osteuropäischen Geschichte", die von Beginn an universitär verankert war und deren Ursprünge im deutschen Kaiserreich liegen,[7] entwickelte sich die deutsche Ostforschung nach dem Ersten Weltkrieg und primär außeruniversitär. Ihrem Selbstverständnis nach sah sie sich in einer Frontstellung gegen das so bezeichnete 'Versailler System' und zielte auf eine Revision der Nachkriegsgrenzen.[8] Aus einer deutschtumszentrierten Perspektive ging es im Kern darum, 'deutsche' Faktoren im historischen Prozess zu betonen und diese gegenüber polnischen, tschechoslowakischen und anderen 'Anteilen' hervorzuheben. Das zunächst vorherrschende Konzept hierfür lieferte der Geograph Albrecht Penck (1858–1945) mit seinem Paradigma des deutschen "Volks- und Kulturbodens". Penck unterschied zwischen dem "Volksboden", den er überall dort erblickte, "wo deutsches Volk siedelt",[9] und dem "Kulturboden", der nach Penck so weit reichte, wie sich Spuren "deutscher Kultur" nachweisen ließen: "Der deutsche Kulturboden ist die größte Leistung des deutschen Volkes. […] Die Inseln deutschen Volksbodens, die weitab von dessen mitteleuropäischem Hauptgebiete liegen, sind ebenso wie letzteres von deutschem Kulturboden begleitet."[10]

Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme erfuhr die Ostforschung im Gegensatz zur Osteuropäischen Geschichte, für die das Jahr 1933 eine tiefe Zäsur darstellte, einen Ausbau ihrer Kapazitäten. Die Forschungen zur Biographie von Ostforschern und zu Institutionen der jüngeren Zeit haben deutlich gemacht, in welchem Ausmaß sich viele Ostforscher in den Dienst des NS-Regimes stellten und den Kulturraub sowie den deutschen Vernichtungskrieg in Osteuropa unterstützten.[11]

Trotz dieser zweifellos hohen Belastung gab es nach 1945 eine Reinstitutionalisierung der Ostforschung in der Bundesrepublik. Die inhaltliche Brücke bildete ungeachtet der Rolle, die die deutsche Ostforschung in der nationalsozialistischen Politik gespielt hatte, der Antikommunismus, der sich an einen völkisch definierten Abendland- bzw. Europa-Gedanken anschließen ließ. Göttingen[12] und Marburg bildeten die wichtigsten Zentren, in denen Ostforscher ihre Tätigkeiten fortsetzen konnten. Erst mit der neuen Ostpolitik begann ab Ende der 1960er Jahre infolge sich ändernder politischer Prämissen ein sukzessives Abrücken vom Paradigma der Ostforschung.

3. Diskurse, Kontroversen und Forschungsdesiderate

Der Forschungsstand zur Geschichte der deutschen Ostforschung hat sich inzwischen deutlich verbreitert und verbessert. Nachdem erst 1988 mit Michael Burleighs Germany turns Eastwards die erste, auf umfangreichen Archivstudien beruhende Gesamtdarstellung der Thematik erschienen war,[13] entwickelte sich der 42. Deutsche Historikertag 1998 in Frankfurt/Main mit seinen kontroversen Diskussionen zum Ausgangspunkt für zahlreiche neue Forschungen.[14] Inzwischen liegen sowohl biographische Arbeiten zu wichtigen Vertretern der Ostforschung als auch Studien zur institutionellen Entwicklung nach 1945 vor.[15] Damit ist heute ein deutlich breiterer und gesicherterer Wissensstand erreicht.

Zugleich gibt es nach wie vor wichtige Aspekte, die einer Bearbeitung harren. So liegt bisher keine kritische Aufarbeitung der zentralen Rolle des Marburger Herder-Instituts bei der Reinstitutionalisierung der Ostforschung nach 1945 vor.[16] Und auch die Verflechtungen und Wechselwirkungen zwischen deutscher Ostforschung und polnischem Westgedanken sind bisher nur in Ansätzen erforscht. Es bleibt also zu hoffen, dass die Beschäftigung mit dieser wichtigen Thematik auch nach dem Abebben der öffentlichkeitswirksamen Kontroversen weitergehen wird.

4. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Markus Krzoska: Ostforschung. In: Ingo Haar, Michael Fahlbusch (Hg.): Handbuch der völkischen Wissenschaften. München 2008, S. 452–463.
  • Hans-Christian Petersen: Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik. Eine biographische Studie zu Peter-Heinz Seraphim (1902–1979). Osnabrück 2007 (Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau 17).
  • Hans-Christian Petersen, Jan Kusber: Osteuropaforschung zwischen Osteuropäischer Geschichte und Ostforschung. In: Jürgen Elvert, Jürgen Nielsen-Sikora (Hg.): Kulturwissenschaften und Nationalsozialismus. Stuttgart 2008 (Historische Mitteilungen, Beihefte 72), S. 289–312.
  • Jan M. Piskorski in Verb. m. Jörg Hackmann, Rudolf Jaworski (Hg.): Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. Disziplinen im Vergleich. Osnabrück, Poznań 2002 (Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung 1).
  • Corinna Unger: Ostforschung in Westdeutschland. Die Erforschung des europäischen Ostens und die Deutsche Forschungsgemeinschaft 1945–1957. Stuttgart 2007 (Studien zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1).

Anmerkungen

[1] Hermann Aubin, Otto Brunner, Wolfgang Kohte, Johannes Papritz (Hg.): Deutsche Ostforschung. Ergebnisse und Aufgaben seit dem Ersten Weltkrieg. 2 Bde. Leipzig 1942/43 (Deutschland und der Osten. Quellen und Forschungen zur Geschichte ihrer Beziehungen 20 u. 21).

[2] Verwiesen sei auf den programmatischen Aufsatz von Hermann Aubin: An einem neuen Anfang der Ostforschung. In: Zeitschrift für Ostforschung 1 (1952), S. 3–16.

[3] Hierzu Christoph Kleßmann: DDR-Historiker und "imperialistische Ostforschung". Ein Kapitel deutsch-deutscher Wissenschaftsgeschichte. In: Deutschland-Archiv 1 (2002), S. 13–31.

[4] Z. B. Michael Burleigh: Germany Turns Eastwards: a Study of Ostforschung in the Third Reich. Cambridge u. a. 1988; Jan M. Piskorski: Polish "myśl zachodnia" and German "Ostforschung": an Attempt at a Comparison. In: Michael Fahlbusch, Ingo Haar (Hg.): German Scholars and Ethnic Cleansing. New York 2004, S. 260–271.

[5] Piskorski (Hg.): Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung.

[6] Dies wird auch an dem von Piskorski herausgegebenen Band deutlich (Anm. 5), in welchem zumeist vom 'Westgedanken' und nicht von 'Westforschung' die Rede ist.

[7] Für eine vergleichende Betrachtung sei verwiesen auf Petersen, Kusber: Osteuropaforschung zwischen Osteuropäischer Geschichte und Ostforschung.

[8] Zur Begriffsbestimmung: Eduard Mühle: 'Ostforschung'. Beobachtungen zu Aufstieg und Niedergang eines geschichtswissenschaftlichen Paradigmas. In: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung (ZfO) 46 (1997), H. 3, S. 317–350, bes. S. 326–331; Jörg Hackmann: Deutsche Ostforschung und Geschichtswissenschaft. In: Piskorski (Hg.): Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung (Anm. 5), S. 25–47, bes. S. 31–34.

[9] Albrecht Penck: Deutscher Volks- und Kulturboden. In: Karl Christian von Loesch (Hg.): Volk unter Völkern. Breslau 1925, S. 62–73, hier S. 62.

[10] Penck: Deutscher Volks- und Kulturboden (Anm. 9), S. 69.

[11] U. a. Gabriele Camphausen: Die wissenschaftliche historische Russlandforschung im Dritten Reich 1933–1945. Frankfurt/Main u. a. 1990; Michael Fahlbusch: Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die "Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften" von 1931–1945. Baden-Baden 1999; Ingo Haar: Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der "Volkstumskampf" im Osten. Göttingen 2000 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 143). Zu einer vom übrigen Forschungsstand deutlich abweichenden Wertung gelangte Martin Burkert, der für die Jahre 1933 bis 1939 das Bild eines Antagonismus zwischen Ostforschung und NS-Politik zeichnete: Die Ostwissenschaften im Dritten Reich, Teil I: Zwischen Verbot und Duldung. Die schwierige Gratwanderung der Ostwissenschaften zwischen 1933 und 1939. Wiesbaden 2000 (Forschungen zur Osteuropäischen Geschichte 55).

[12] Kai Arne Linnemann: Das Erbe der Ostforschung. Zur Rolle Göttingens in der Geschichtswissenschaft der Nachkriegszeit. Marburg 2002.

[13] Vgl. Anm. 4.

[14] Die überarbeiteten Vorträge und Kommentare finden sich in Winfried Schulze, Otto Gerhard Oexle (Hg.): Deutsche Historiker im Nationalsozialismus. Frankfurt/M. 1999.

[15] U. a. Eduard Mühle: Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung. Düsseldorf 2005 (Schriften des Bundesarchivs 65); Petersen: Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik; Unger: Ostforschung in Westdeutschland; Thekla Kleindienst: Die Entwicklung der bundesdeutschen Osteuropaforschung im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Politik. Marburg 2009 (Materialien zur Ostmitteleuropa-Forschung 22); Sabine Arendt: Studien zur deutschen kunsthistorischen "Ostforschung" im Nationalsozialismus – die Kunsthistorischen Institute an den (Reichs-)Universitäten Breslau und Posen und ihre Protagonisten im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. Berlin 2010, URL: edoc.hu-berlin.de/docviews/abstract.php?id=37336; sowie demnächst die Dissertation von Eike Eckert zu Gotthold Rhode: Zwischen Ostforschung und Osteuropahistorie. Zur Biographie des Historikers Gotthold Rhode (1916–1990). Osnabrück 2012.

[16] Erste wichtige Ansätze hierzu liefert die biographische Arbeit von Eduard Mühle zu Hermann Aubin (Anm. 15).

Zitation

Hans-Christian Petersen: Ostforschung. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2012. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32793 (Stand 09.02.2021).

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(Stand: 19.01.2024)  | 
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