Minderheitenrecht

1. Fremdsprachige Entsprechungen

engl. minority rights; span. derecho de las minorías; ital. minoranza di legge; ungar. kisebbségi jóg; poln. prawo mniejszości; rumän. drept minoritar; slowak. menšinový zákon

2. Definition

Minderheitenrecht bezeichnet im Völkerrecht das Anrecht ethnischer und nationaler Minderheiten auf Minderheitenschutz. Als Anknüpfungspunkte minderheitenrechtlicher Regelungskonzepte sind grundsätzlich zwei Möglichkeiten denkbar. Wenn ein einzelner Angehöriger einer Minderheit Adressat einer solchen Regelung ist, handelt es sich um Individualrecht. Wird eine Minderheit als Ganzes zum Subjekt besonderer Rechte, liegen kollektive Rechte vor. Zum Schutz nationaler Minderheiten existieren zahlreiche nationale Vorschriften und internationale Abkommen wie etwa das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten und die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen.

3. Diskurse/Kontroversen

Die Grundzüge des Minderheitenrechts gehen auf das Minderheitenschutzsystem des Völkerbundes zurück, insbesondere auf die Minderheitenschutzverträge der Pariser Friedenskonferenz von 1919. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kann der Minderheitenschutz als Teil des internationalen Menschenrechtsschutzes angesehen werden. Überlegungen und Bestimmungen zu Minderheitenrechten finden sich in allen drei Generationen der Menschenrechte (die erste Generation der Menschenrechte umfasst die bürgerlichen Freiheitsrechte, die zweite und dritte Generation zielen auf Teilhabe- und Solidarrechte des Einzelnen bzw. von Gruppen als Anspruchsrechte gegenüber dem Staat). Seit den 1990er Jahren ist eine lineare Weiterentwicklung der Minderheitenrechte durch Staaten, internationale Organisationen und Nichtregierungsorganisationen im Rahmen des europäischen Menschenrechtssystems zu erkennen.

Im Spannungsfeld zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und der Staatenintegrität ist die normative Einordnung des Minderheitenschutzes als Teilbereich des internationalen Menschenrechtsschutzes umstritten. Sie bringt besondere Konsequenzen für das politische Konzept "Minderheitenschutz" mit sich: Als Gegenstand des universellen und unteilbaren Menschenrechtsschutzes ist der Minderheitenschutz nicht mehr nur als "innere Angelegenheit" der betroffenen Staaten anzusehen, sondern auch als Aufgabe der Staatengemeinschaft als solcher. Diese Entwicklung zeigt sich in der Ratifikation der völkerrechtlichen Verträge, wenngleich den Staaten noch ein weiter Ermessensspielraum bei der Umsetzung internationalen Rechts zugestanden wird. Die politische und rechtliche Gratwanderung zwischen klaren Regelungen über die Reichweite des Minderheitenschutzes einerseits und genügend Spielraum für die Anpassung der Maßnahmen an den Einzelfall andererseits äußert sich noch in einer weiteren Frage: der Abgrenzung des Minderheitenschutzes vom "äußeren" Selbstbestimmungsrecht der Völker.

Das "äußere" Selbstbestimmungsrecht betrifft die Lossagung vom bisherigen Staatsverband und erzeugt neue Völkerrechtssubjekte. Der Minderheitenschutz betrifft dagegen die Gewährung von Rechten an Gruppen, ohne dass diese die Souveränität des Staates in Frage stellen. Innerhalb des Spannungsverhältnisses dieser Rechtsinstitute kommt dem Minderheitenschutz die Aufgabe zu, für die Minderheiten einen Ausgleich für die Versagung des Sezessionsrechts und für die Forderung nach Respektierung des Staatsverbandes zu schaffen.

Das Selbstbestimmungsrecht und der Minderheitenschutz stellen dabei verschiedene Instrumente zur Verwirklichung desselben Ziels dar, nämlich des Erhalts der nationalen oder ethnischen Identität. Die beiden Instrumente unterscheiden sich jedoch gravierend in ihren Voraussetzungen, Funktionen und rechtlichen Folgen.

Bei der inhaltlichen Bestandsaufnahme zeigt sich, dass sich das völkerrechtliche Minderheitenrecht derzeit im Wesentlichen auf einen individualrechtlichen Zugang beschränkt. Kollektive Minderheitenrechte sind kaum vorzufinden, der Gruppenschutz beschränkt sich bisher allenfalls auf den Schutz vor direkter Gewalt. Weitergehende Gruppenrechte, etwa Verpflichtungen zu bestimmten Autonomieformen, sind bisher in keinem völkerrechtlich verbindlichen, multilateralen Vertrag enthalten. Lediglich in politischen Absichtserklärungen wie der Kopenhagener Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) von 1990 wird auf solche kollektiven Rechte hingewiesen. Da diese Dokumente nur als soft law zum europäischen Minderheitenschutzregime beitragen, bleiben für das Schutzniveau der europäischen Minderheitengruppen primär das nationale Recht und die Vereinbarungen in bilateralen Verträgen ausschlaggebend. Die Ausgestaltung nationaler Rechtsordnungen hinsichtlich der Stellung nationaler Minderheiten ist aber sehr heterogen und spiegelt die speziellen demographischen, historischen, ökonomischen, politischen und sozialen Merkmale der einzelnen Staaten wider. Etwa drei Viertel der europäischen Rechtsordnungen beinhalten zumindest eine verfassungsrechtliche Absicherung der grundlegenden Minderheitenrechte.

4. Historischer Abriss

Mit der Europäischen Menschenrechtskonvention aus dem Jahr 1950 (EMRK) und dem dazugehörigen Überwachungsmechanismus des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) wurden beachtliche Maßstäbe gesetzt. Die EMRK enthält jedoch nur vage Vorschriften zum Schutz von Minderheiten. Direkte Erwähnung finden Minderheitenrechte nur im Diskriminierungsverbot des Artikels 14 und in einigen Entwürfen für ein Zusatzprotokoll zur EMRK. Ein vorsichtiger Wandel in der Haltung zum Schutz von Minderheiten durch völkerrechtliche Verträge setzte in den 1960er Jahren ein und führte zur Aufnahme des Artikels 27 in den inzwischen in praktisch allen europäischen Staaten geltenden Internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) vom 19. Dezember 1966. Diese wohl wichtigste vertragliche Regelung des Völkerrechts zum Minderheitenschutz untersagt es den Staaten, Angehörigen von Minderheiten Rechte vorzuenthalten, die die Pflege ihrer Kultur, Religion und Sprache betreffen. Trotz seiner völkerrechtlichen Bedeutung entstand aus dem IPBPR kein Momentum für den internationalen Minderheitenschutz. Erst in den 1990er Jahren - nach dem Zusammenbruch der Vielvölkerstaaten Sowjetunion, Jugoslawien und Tschechoslowakei - gewannen Minderheitenfragen erneut an politischer Bedeutung und kamen in den wichtigsten europäischen Foren wieder auf die Tagesordnung. Dabei waren es zunächst der Europarat und die KSZE, die sich für die Lösung der ethnischen Konflikte durch bilaterale und multilaterale Vertragswerke einsetzten. Parallel dazu wurden zwischen einigen mittel- und osteuropäischen Ländern bilaterale Verträge abgeschlossen, die Bestimmungen zum Minderheitenschutz enthielten. Zum Minderheitenschutz im EU-Binnenbereich lässt sich sagen, dass er seit dem Vertrag von Amsterdam (1998) über verschiedene Aktionslinien und Instrumente verfügt, um – bei entsprechendem politischen Willen – Maßnahmen zugunsten von Minderheiten zu ergreifen. Es wurde zwar unionsintern noch kein spezielles Minderheitenrecht in Bezug auf nationale Minderheiten entwickelt, die individualrechtliche Seite des Minderheitenschutzes wird aber mittlerweile unter anderem durch die Gemeinschaftsgrundrechte und die Nichtdiskriminierungsbestimmungen im gemeinsamen Besitzstand (acquis) gewährleistet.

5. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Stephan Hobe: Einführung in das Völkerrecht. Tübingen 2008.
  • Rainer Hofmann: Der Schutz von Minderheiten in Europa. In: Werner Weidenfeld (Hg.): Die Europäische Union. Politisches System und Politikbereiche. Bonn 2006 (Schriftenreihe Bundeszentrale für Politische Bildung 442), S. 380–397.
  • Angela Kaiser: Minderheitenschutz in der Europäischen Union. Eine Untersuchung des "doppelten Standards" des EU-Minderheitenschutzes unter besonderer Berücksichtigung der Europäischen Grundrechtecharta. Frankfurt/M. u. a. 2005 (Schriften zum Staats- und Völkerrecht 114).
  • Michael Krugmann: Das Recht der Minderheiten. Legitimationen und Grenzen des Minderheitenschutzes. Berlin 2004 (Schriften zum öffentlichen Recht 955).
  • Gaetano Pentassuglia: Minorities in International Law. An Introductory Study. Strasbourg 2002 (Minority Issues Handbook).

Weblinks

Zitation

Christoph Schnellbach: Minderheitenrecht. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2012. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32813 (Stand 10.12.2021).

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(Stand: 19.01.2024)  | 
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