Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft (NOFG)

1. Kurzbeschreibung

Die Ende 1933 gegründete „Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft“ (NOFG; zunächst: Nordostdeutsche Forschungsgemeinschaft) war die größte jener „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ (VFG), die „seit etwa 1930 mit der Aufgabe entstanden, die Erforschung der landes- und volksgeschichtlichen und landes- und volkskundlichen Fragen in den deutschen Grenzlanden zu fördern und die Vertreter der an dieser damals aufblühenden Forschung beteiligten Fächer mit Vertretern der betreffenden Volksgruppen und der an Volkstumsfragen interessierten Reichsbehörden zusammenzuführen.“[1] Sie ist im allgemeinen Ausbau der Forschungskapazitäten auf dem Feld der so genannten Ostforschung nach der Machtübertragung auf Adolf Hitler (1889–1945) zu verorten. Im Schnittfeld nationalkonservativer und völkisch geprägter Geschichts- und Politikauffassungen setzten sich die hier versammelten Wissenschaftler unter dem Vorsitz des Generaldirektors der preußischen Staatsarchive und Mittelalterhistorikers Albert Brackmann (1871–1952) für eine Revision der Grenzziehungen des Versailler Vertrages ein und stellten sich dabei vielfach in den Dienst des nationalsozialistischen Regimes.

2. Aufgaben

Die Arbeit der NOFG zielte in diesem Kontext vor allem auf die „wissenschaftlich[e] ,Abwehr‘ der polnischen Gebietsansprüche“,[2] ist also auch im Zusammenhang mit entsprechenden Bemühungen von polnischer Seite zu sehen.[3] Dazu wurden Übersetzungen polnischer Fachliteratur sowie Karten und Statistiken zu den Bevölkerungsverhältnissen in Ostmitteleuropa erarbeitet. Weitere Mittel der „Auseinandersetzung mit dem fremdvölkischen Schrifttum“ waren „Tagungen, Studienfahrten, Gewährung von Stipendien, Ermöglichung von Studienaufenthalten, Vermittlung von Arbeitsunterlagen, Unterstützung bei der Drucklegung, Herausgabe von Schriftenreihen und Zeitschriften.“[4] Die Veröffentlichung der Forschungsergebnisse und die Geschäftsführung erfolgten über die von Johannes Papritz (1898–1992) geleitete, bereits eher gegründete Publikationsstelle Berlin-Dahlem, die außerdem Material über die Arbeit polnischer Wissenschaftler sammelte. Durch Brackmann und seinen Stellvertreter, den sudetendeutschen Historiker Hermann Aubin (1885–1969), sollte zudem im Sinne eines „einheitliche[n] politisch ausgerichtete[n] Wirken[s]“[5] die Zusammenarbeit mit den Reichs- und den preußischen Ministerien sowie der NSDAP koordiniert werden. Das erarbeitete Material wurde verschiedenen Behörden wie dem Auswärtigen Amt (AA) und dem Reichsministerium des Innern (RMI), aber auch staatlich protegierten und „gleichgeschalteten“ Vereinen auf dem Gebiet der „Volkstumspolitik“ wie dem Bund Deutscher Osten oder dem Volksbund für das Deutschtum im Ausland zur Verfügung gestellt und diente mithin für Propagandazwecke: Die Publikationen „befanden sich häufig auf einem schmalen Grat zwischen seriöser Erörterung und deutschzentrierter Einseitigkeit, ja, politisch-propagandistischen Legitimationsversuchen nationalistischer Theorien“.[6] Der Verwirklichung des mit alledem verbundenen Ziels, „die deutsche Polenforschung zu zentralisieren, sie an völkisch-revisionistischen Zielen auszurichten und eine einheitliche Forschungsposition gegenüber Polen zu etablieren“, war gleichwohl „nur bedingte[r] Erfolg“[7] beschieden. Über dieses zentrale Ziel hinaus zeichnete die NOFG zusätzlich für entsprechende Unternehmungen gegenüber den anderen Staaten Ostmittel- und auch Nordeuropas verantwortlich.

3. Organisation

Zur aus Brackmann, Aubin und Papritz bestehenden Leitungsebene der NOFG trat 1944 noch nominell der Vor- und Frühzeithistoriker Carl Engel (1895–1947) als zweiter stellvertretender Vorsitzender hinzu. Die Leitung erfolgte gemeinsam mit einem jährlich neu gewählten Vorstand aus Vertretern der regionalen Forschungseinrichtungen und -verbände der „Ostforschung“ wie des Osteuropa-Instituts (OEI) in Breslau/Wrocław oder des Ostland-Instituts in Danzig/Gdańsk, die vielfach dem preußischen Archivwesen nahestanden. So war Walter Recke (1887–1962), von 1927 bis 1939 Leiter des Danziger Instituts, von 1929 bis 1939 auch Direktor des dortigen Staatsarchivs. 1938 wurde zudem ein Beirat installiert, dem regional und thematisch zugeordnete Vertreter angehörten. Hierzu zählten etwa der spätere Bundesvertriebenenminister Theodor Oberländer (1905–1998) und der spätere Direktor des Osteuropa-Instituts München Hans Koch (1894–1959). Die historischen Wissenschaften dominierten also die Arbeit, die gleichwohl durchaus interdisziplinär angelegt war.[8] In der täglichen Arbeit war die NOFG eng mit der Publikationsstelle verzahnt: „In der Publikationsstelle wurde ihre Korrespondenz geführt, die Publikationsstelle organisierte ihre Tagungen, sie übernahm die Verwaltung der Finanzen und leistete durch ihre Assistenten und Stipendiaten einen nicht unwesentlichen Anteil der wissenschaftlichen Ostarbeit.“[9] Die Schriftleitung der Verbandszeitschrift „Jomsburg“ oblag mit Papritz und seinem Stellvertreter Wolfgang Kothe (1907–1984) ebenfalls der Führungsriege der Publikationsstelle, die auch für die Schriftenreihe „Deutschland und der Osten“ mit verantwortlich zeichnete. Michael Fahlbusch sieht in den VFG im Allgemeinen und der NOFG im Besonderen einen streng hierarchisch organisierten und schlagkräftigen Großforschungsverbund („Brain trust“)[10], während andere Wissenschaftler hier „allenfalls einen losen Verbund von Forschern“[11] erkennen, der eher auf persönlichen als auf institutionellen Verbindungen beruhte. Angesichts der zahlreichen unterschiedlichen ideologischen Grundlagen und praktischen Ausführungsmuster in der Ostpolitik des NS-Regimes und Divergenzen sowohl der beteiligten Wissenschaftler untereinander als auch mit den offiziellen Stellen erscheint die stringente Darstellung, wie sie im Anschluss an Fahlbusch auch Ingo Haar und andere vorgenommen haben,[12] zumindest hinterfragbar.

4. Historischer Abriss

Ausgehend von den Aktivitäten der Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung wurden ab 1931 die ersten Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften ins Leben gerufen. Die Gründung der NOFG fand am 19./20. Dezember 1933 in Berlin statt – ohne dass deren Aktivitäten in der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden sollten – und war am 1. November 1933 auf einer Sitzung am OEI Breslau vorbereitet worden. Finanzielle Mittel wurden vor allem durch das RMI, das AA und die Deutsche Forschungsgemeinschaft bereitgestellt, Zuschüsse erfolgten durch regionale Behörden. Die NOFG und die Publikationsstellte erreichten dabei zusammen etwa 50 Prozent der Gesamtmittel der VFG. 1934 erhielten beide Einrichtungen zusammen 104.000 Reichsmark aus Mitteln der Ministerien, 1938 dann 161.000 RM, wovon 35.000 RM als Stipendien und Unterstützungszahlungen an Wissenschaftler weitergereicht wurden. Für die NOFG allein blieben auch während des Krieges knapp 40.000 RM die Obergrenze an Zuwendungen, während bei der Publikationsstelle der Mittelzufluss 1941 mit mehr als 415.000 RM allein durch das RMI seinen Höhepunkt erreichte.

Die Erweiterung des territorialen Fokus auf den skandinavischen Raum erfolgte 1935/1936, damit auch die Umbenennung von der „Nordostdeutschen“ zur „Nord- und ostdeutschen Forschungsgemeinschaft“. Im Durchschnitt fand einmal pro Jahr eine größere Tagung der Gemeinschaft in unterschiedlichen Orten in den beanspruchten Gebieten statt, dazu traten kleinere Treffen auf regionaler Ebene.

Mit dem Überfall auf Polen war besonders für die Publikationsstelle eine starke Inanspruchnahme – und bereitwillige Bereitstellung – für kriegswichtige Arbeiten verbunden: Kartenmaterial, statistische Arbeiten, Bevölkerungskarteien und Gutachten wurden erstellt, Archivgüter beschlagnahmt, mehrere Mitarbeiter waren an Grenzziehungskommissionen beteiligt. Die Tagungstätigkeit wurde demgegenüber eingeschränkt, zumal viele Mitarbeiter der einzelnen Einrichtungen zum Kriegsdienst eingezogen wurden. Gemeinsam mit den weiteren VFG und der Publikationsstelle wurde die NOFG 1943 dem Reichssicherheitshauptamt unterstellt und sollte so die Germanisierungspolitik der SS in den eroberten und besetzten Gebieten mitgestalten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Rolle der NOFG lange wenig beachtet. Erst 1988 erschien eine umfangreiche Studie zu Brackmann und der Publikationsstelle,[13] 1999 wurde der Gesamtkomplex der Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften intensiver in den Blick genommen.[14] Jenseits der allgemein akzeptierten empirischen Befunde bleibt die Deutung des Ausmaßes der Verstrickung in das NS-Regime jedoch weiter umstritten – die Pole reichen hier von der Charakterisierung einiger beteiligter Wissenschaftler als „Vordenker der Vernichtung“[15] bis hin zu starken Zweifeln am Einfluss der Forschungsgemeinschaften.[16] Fest steht, „dass sich Wissenschaftler nicht nur vereinzelt, sondern auf einer breiten Front bereitwillig der NS- und SS-Bürokratie sowie der Wehrmacht mit ihren fachspezifischen Kenntnissen zur Verfügung stellten“.[17] Hier bleibt jeweils nach dem konkreten Ausmaß zu fragen, wie es durch eine Reihe von biographischen Studien zu wichtigen Protagonisten in den letzten Jahren geschehen ist,[18] in vielen Fällen aber noch aussteht.

5. Bibliographische Hinweise

Quellen

  • Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (BArch) R 153: Publikationsstelle Berlin-Dahlem, 1931–1945 (darin knapp 300 Titel zu „Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft“).
  • Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem (GSta PK), VI. Hauptabteilung, Rep. 92: Nachlass Albert Brackmann (darin v. a. die Korrespondenzbände „Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft“, Nr. 81–85).

Literatur

  • Martin Burkert: Die Ostwissenschaften im Dritten Reich. Teil 1: Zwischen Verbot und Duldung. Die schwierige Gratwanderung der Ostwissenschaften zwischen 1933 und 1939. Wiesbaden 2000 (Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 55).
  • Michael Burleigh: Germany Turns Eastwards. A Study of Ostforschung in the Third Reich. Cambridge u. a. 1988.
  • Gabriele Camphausen: Die wissenschaftliche historische Russlandforschung im Dritten Reich 1933–1945. Frankfurt/M. u. a. 1990 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 3: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 418), S. 182–212.
  • Michael Fahlbusch: Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ von 1931–1945. Baden-Baden 1999, S. 178–247, 547–590.
  • Ingo Haar: Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten. Göttingen 2000 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 143), S. 150–306.
  • Ingo Haar: Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft. In: Ingo Haar, Michael Fahlbusch, Matthias Berg (Hg.): Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen – Institutionen – Forschungsprogramme – Stiftungen. München 2008, S. 432–443.

Anmerkungen

[1] Irmtraut Eder-Stein, Kristin Hartisch: Einleitung. In: Dies.: Publikationsstelle Berlin-Dahlem 1931–1945. Bestand R 153. Koblenz 2003 (Findbücher zu Beständen des Bundesarchivs 92). URL: invenio.bundesarchiv.de/invenio/main.xhtml (12.02.2021).

[2] Corinna Unger: Ostforschung in Westdeutschland. Die Erforschung des europäischen Ostens und die Deutsche Forschungsgemeinschaft 1945–1957. Stuttgart 2007 (Studien zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1), S. 54.

[3] Zum „Westgedanken“ (myśl zachodnia) als Entsprechung der Ostforschung siehe Roland Gehrke: Der polnische Westgedanke bis zur Wiedererrichtung des polnischen Staates nach Ende des Ersten Weltkrieges. Genese und Begründung polnischer Gebietsansprüche gegenüber Deutschland im Zeitalter des Nationalismus. Marburg 2001 (Materialien und Studien zur Ostmitteleuropa-Forschung 8); Jan M. Piskorski, Jörg Hackmann, Rudolf Jaworski (Hg.): Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. Disziplinen im Vergleich. Mit einem Nachwort von Michael Burleigh. Osnabrück, Poznań 2002 (Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung 1).

[4] BArch R153/6: Aufgabenkreis und gegenseitiges Verhältnis der Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften und Publikationsstellen sowie der Berliner Geschäftsstelle (Entwurf), März 1942.

[5] Aufgabenkreis und gegenseitiges Verhältnis der Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften (Anm. 4).

[6] Camphausen: Die wissenschaftliche historische Russlandforschung, S. 201f.

[7] Unger: Ostforschung in Westdeutschland (Anm. 2), S. 54.

[8] Zu diesem in der Interpretation umstrittenen Aspekt grundlegend Willi Oberkrome: Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945. Göttingen 1993 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 101).

[9] BArch R153/1519: Jahresbericht der Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft und der Publikationsstelle 1938/39, S. 1. Hervorhebungen im Original.

[10] Fahlbusch: Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik?, S. 19–27.

[11] So etwa Hans Böhm: Magie eines Konstruktes. Anmerkungen zu M. Fahlbusch „Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik?“. In: Geographische Zeitschrift 88 (2000), Nr. 3/4, S. 177–196, hier S. 193.

[12] Haar: Historiker im Nationalsozialismus.

[13] Burleigh: Germany Turns Eastwards.

[14] Fahlbusch: Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik?

[15] Zurückgehend auf Götz Aly, Susanne Heim: Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung. Überarb. Neuaufl. Frankfurt/M. 2013 (zuerst 1991). In der Untersuchung konkreter Beiträge zur Vernichtungspolitik darüber hinausgehend Fahlbusch: Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? und v. a. Haar: Historiker im Nationalsozialismus.

[16] So etwa Burkert: Die Ostwissenschaften im Dritten Reich, der eine Opfer- beziehungsweise Gegnerposition ausmachen will. Dem weitgehend zustimmend Christian Tilitzki: Vordenker der Vernichtung? Neue Beiträge zur Kontroverse über „Ostforschung“ und Politik im Dritten Reich. In: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 47 (2002), S. 301–318.

[17] Böhm: Magie eines Konstruktes (Anm. 11), S. 194.

[18] Vgl. als zwei instruktive Beispiele von vielen Christoph Nonn: Theodor Schieder. Ein bürgerlicher Historiker im 20. Jahrhundert. Düsseldorf 2013 (Schriften des Bundesarchivs 73); Eduard Mühle: Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung. Düsseldorf 2005 (Schriften des Bundesarchivs 65).

Zitation

Martin Munke: Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft (NOFG). In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2015. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32801 (Stand 12.02.2021).

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(Stand: 19.01.2024)  | 
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