Sprachinselforschung

1. Begriff

Die Sprachinselforschung widmet sich der Erforschung relativ geschlossener Siedlungseinheiten (Dorf, Stadt, mehrere Orte), die von anderssprachigen Siedlungen umgeben sind. In der Insel-Metapher kommt dabei zum einen eine gewisse Isolation, zum anderen eine Gefährdung durch das umgebende ‚Meer‘ und die Vorstellung eines ‚vorgeschobenen Postens/Vorpostens‘ zum Ausdruck.

Das Konzept der ‚Sprachinsel‘ stammt aus der Sprachwissenschaft und galt am Anfang der Erforschung von Minderheitensprachen und -dialekten. Dementsprechend war zunächst die Sprache das wichtigste Kriterium zur Abgrenzung und Beschreibung des Forschungsgegenstandes. Herausgehobene Bedeutung hat jener Zweig der Sprachinselforschung, der darüber hinaus historische, kulturelle und ethnische Merkmale einbezog und damit zwischen Sprachwissenschaft, Volkskunde/Europäischer Ethnologie und Geschichte angesiedelt war. Dieser wurde zunehmend Teil des völkischen Diskurses und beinhaltete im Kontext der gesellschaftlich verbreiteten Kritik an der neuen Staatenordnung Mitteleuropas nach dem Ersten Weltkrieg und daraus resultierender politischer Revisionswünsche eine Fürsorgeverpflichtung für die außerhalb des Staates lebenden Deutschen.

Fremdsprachige Entsprechungen des Begriffs „Sprachinsel“

Engl.: linguistic enclave/island; poln.: wyspa językowa; tsch.: jazykový ostrov

2. Geschichte der Sprachinselforschung

Die älteste Literatur, die sich als Sprachinselforschung im engeren Sinne einordnen lässt, setzte um 1830 ein und betraf vor allem Sprache/Mundart und (Volks-)Dichtung. Im Zuge aufklärerisch-statistischer Landesbeschreibungen erfolgte die Ausweitung um historische und kulturelle Aspekte, bis der Begriff ‚Sprachinsel‘ als synonyme Verkürzung für ein umfassenderes, ethnographisch erforschbares Phänomen verwendet wurde.[1]

Die außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets gelegenen ‚Inseln‘ wurden wegen ihrer Abgelegenheit als sprachliche und kulturelle Reliktgebiete angesehen und aufgesucht. Im östlichen Europa waren dies beispielsweise die Zips und die Gottschee, die mährischen Städte Brünn/Brno und Iglau/Jihlava. Den deutschsprachigen Enklaven in Russland wurde um 1860 erstmals wissenschaftliche Beachtung geschenkt, ihre systematische Erforschung setzte jedoch erst nach 1917 ein.

Die Monographie „Die deutsche Sprachinsel Gottschee“ des aus Laibach/Ljubljana stammenden Literaturhistorikers und Volkskundlers Adolf Hauffen (1863–1930) erschien 1895 gegen Ende dieser ersten intensiven Phase der Sprachinselforschung und vereinigt historische, sprachwissenschaftliche und volkskundlich-ethnographische Aspekte. Hauffen verwendete für seine Darstellung sowohl bis dato erschienene Publikationen als auch eigene Erhebungen.

Solche empirischen Forschungen gewannen nach 1900, vor allem aber ab den 1920er Jahren in Form von teilnehmender Beobachtung und Befragungen sogenannter Gewährsleute in dem Maße an Bedeutung, in dem die gegenwärtige Situation der Deutschen im Ausland politisch in den Vordergrund rückte und auch solche ‚Sprachinseln‘ entdeckt und erforscht wurden, über die kaum ältere Aufzeichnungen existierten.

Das wieder auflebende Interesse an den ‚Sprachinseln‘ nach 1918 war Teil der intensivierten Beschäftigung mit dem sogenannten Grenz- und Auslandsdeutschtum, dem sich verschiedene Vereine, Institutionen und Wissenschaften widmeten, darunter das Deutsche Ausland-Institut in Stuttgart und der Verein/Volksbund für das Deutschtum im Ausland. Aufgrund ihrer Zahl und Vielfalt, aber auch wegen der im Zuge der Gebietsabtretungen und daraus erwachsenden Revisionsbestrebungen nach dem Ersten Weltkrieg zunehmenden politischen Bedeutung spielten die ‚Sprachinseln‘ in Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa eine besondere Rolle.

Walter Kuhn (1903–1984) aus Bielitz/Bielsko-Biała in Österreichisch-Schlesien begründete die theoretische und angewandte Sprachinselforschung. Seine 1930 publizierte Wiener Dissertation über „Sprachinseln in Galizien“ behandelt neben der Siedlungsgeschichte Wirtschaft, Bevölkerungsdaten, religiöse und nationale (ethnische) Verhältnisse sowie Schule, Kirche und „völkische Organisation“. Weitere theoretische und methodische Überlegungen lieferte er vier Jahre später in dem Band Deutsche Sprachinselforschung (1934). Darin definierte er die ‚Sprachinsel‘ völkisch akzentuiert als „ein Stück Volksboden, das vom geschlossenen Gebiete seines eigenen Volkes räumlich getrennt und allseitig von fremdem Volkstum umgeben ist“[2], und begründete ihre Erforschung als Teil einer „allgemeinen Deutschtumskunde“, die sich interdisziplinär mit „deutschen Dingen“[3] befasse und deren Ziel ein „geschlossenes Lebensbild der Sprachinsel“[4] sei. Während bei ihm die Volkskunde neben den übrigen Teildisziplinen stand, rückte Gustav Jungbauer (1886–1942) in Prag/Praha die Volkskunde in den Vordergrund und begründete eine Sprachinselvolkskunde.[5]

(Kleinere) ‚Sprachinseln‘ galten wegen ihrer überschaubaren Größe als geeignete Untersuchungsobjekte. Zudem glaubten die Forscher vor allem in agrarisch geprägten Siedlungen eine besonders reiche und rein erhaltene Volkskultur anzutreffen, die die als Kolonisten bezeichneten Siedler aus der deutschsprachigen „Urheimat“ mitgebracht hätten. Die Gründe hierfür sahen sie in der räumlichen Abgeschiedenheit vom Mutterland sowie in der besonderen Bedeutung der Volkskultur als identitätsstiftendes Element in der Selbstbehauptung gegenüber der ‚fremdvölkischen‘/andersethnischen Umgebung. Vielen galten die Bewohner von ‚Sprachinseln‘ gleichsam als idealtypische Deutsche, ausgezeichnet durch Ausdauer, Fleiß, Sparsamkeit, Reinlichkeit und ein ausgeprägtes Pflicht- und Gemeinschaftsgefühl.

Die Ergebnisse der Sprachinselforschung wurden in Form von Monographien wie der Hauffens oder Kuhns publiziert; sie behandelten einzelne ‚Sprachinseln‘ wie die Gottschee oder auch ‚Sprachinsellandschaften‘ wie Galizien, Wolhynien oder Siebenbürgen. In weit größerer Zahl erschienen jedoch kleinere Arbeiten zu Einzelphänomen wie traditionellen Erzählformen (z. B. Sagen), Liedern oder Schauspielen in Zeitungen, (populär-)wissenschaftlichen Zeitschriften und Büchern, die zur Popularisierung der Sammlungs- und Forschungsergebnisse sowie zur Bekanntheit der außerhalb Deutschlands gelegenen Siedlungsgebiete wesentlich beitrugen.

Die Sammlung, Publikation und Bewahrung dieser Volkskultur sahen die Wissenschaftler und Publizisten als eine ihrer wesentlichen Aufgaben an. Die Sprachinselforschung wurde als angewandte und politische Forschung für den Erhalt des Deutschtums im Ausland verstanden und leistete einen Beitrag zur Entstehung und Festigung kollektiver Identitäten.

Mit dem Kriegsende 1945 endete die historische und empirische Erforschung von ‚Sprachinseln‘ im östlichen Europa. Einzelne Nachklänge finden sich in der Volkskunde der Heimatvertriebenen, zu deren Protagonisten einige vormalige Sprachinselforscher wie Josef Hanika (1900–1963), Alfred Karasek(-Langer) (1902–1970), Josef Lanz (1902–1981) und Karl Horak (1908–1992) gehörten. Dabei stellte vor 1945 gesammeltes Material, teilweise ergänzt um die Ergebnisse von Erhebungen unter Flüchtlingen und Vertriebenen, die Grundlage der Veröffentlichungen dar. Der Begriff ‚Sprachinsel‘ verschwand jedoch aus dem allgemeinen wissenschaftlichen Diskurs, lediglich in der Dialektforschung findet er nach wie vor Anwendung.[6]

3. Kritik der Sprachinselforschung

Die wissenschaftliche Kritik an der Sprachinselforschung richtete sich vor allem gegen die behauptete Geschlossenheit und Einheitlichkeit der untersuchten Orte und Landschaften, die Phänomene wie Zwei- oder Mehrsprachigkeit, sprachliche und kulturelle Entlehnungen und Transfers weitgehend ignorierte, sowie gegen die Beschränkung auf das so genannte „Altgut“, das heißt auf kulturelle Erscheinungen, die als Relikte angesehen und deshalb als besonders wertvoll hervorgehoben wurden. Auch die mit der besonderen Wertschätzung angeblich genuin deutscher Kultur einhergehende Abwertung und Kränkung der als „Umvölker“ bezeichneten anderssprachigen beziehungsweise andersethnischen Nachbarn und das daraus abgeleitete Kulturgefälle zwischen Deutschen und insbesondere slawischen Völkern hielt der Wissenschaftskritik nicht stand. Die in der Volkskunde Mitte der 1960er Jahre einsetzende Ideologiekritik dekonstruierte zudem die völkischen Grundlagen nicht nur der Sprachinselforschung.[7]

Gegen das überkommene Konstrukt der ‚Sprachinsel‘ stellte Ingeborg Weber-Kellermann (1918–1993), die zunächst selbst in dieser wissenschaftlichen Tradition stand, das Konzept der Interethnik, das Austauschprozessen besondere Aufmerksamkeit schenkte und nationaler Voreingenommenheit offensiv begegnete.

Die in der Sprachinselforschung zusammengetragenen Materialien stellen teilweise bis heute die umfangreichsten Informationen über weite Teile „volkskundlicher Überlieferungen“ der deutschsprachigen Bevölkerung einiger Regionen, zum Beispiel Wolhyniens, vor 1945 dar; ihre Verwendung bedarf jedoch besonders sorgfältiger Quellenkritik und wissenschaftsgeschichtlicher Kontextualisierung.

4. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Adolf Hauffen: Die deutsche Sprachinsel Gottschee. Geschichte und Mundart, Lebensverhältnisse, Sitten und Gebräuche, Sagen, Märchen und Lieder. Graz 1895. (Quellen und Forschungen zur Geschichte, Litteratur und Sprache Österreichs und seiner Kronländer 3). Nachdruck Hildesheim 1979.
  • Gustav Jungbauer: Sprachinselvolkskunde. In: Sudetendeutsche Zeitschrift für Volkskunde 3 (1930), S. 143–150, 196–204, 244–256.
  • Alfred Karasek: Sprachinselvolkstum. In: Deutsche Blätter in Polen 3 (1926), H. 11/12, S. 569–594.
  • Konrad Köstlin: Volkskulturforschung in Grenzräumen. In: Jahrbuch für ostdeutsche Volkskunde 33 (1990), S. 1–19.
  • Walter Kuhn: Die jungen deutschen Sprachinseln in Galizien. Ein Beitrag zur Methode der Sprachinselforschung. Graz 1930 (Deutschtum und Ausland 26/27).
  • Walter Kuhn: Deutsche Sprachinsel-Forschung. Geschichte, Aufgaben, Verfahren. Plauen i.V. 1934 (Ostdeutsche Forschungen / Historische Gesellschaft im Wartheland 2).
  • Petr Lozoviuk: Interethnik im Wissenschaftsprozess. Deutschsprachige Volkskunde in Böhmen und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen. Leipzig 2008 (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 26).
  • Ingeborg Weber-Kellermann: Zur Frage der interethnischen Beziehungen in der „Sprachinselvolkskunde“. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde XIII/62 (1959), S. 19–47.
  • Ingeborg Weber-Kellermann: Zur Interethnik. Donauschwaben, Siebenbürger Sachsen und ihre Nachbarn. Frankfurt/M. 1978.

Anmerkungen

[1] So explizit etwa bei Adolf Ficker: Die Völkerstämme der österreichisch-ungarischen Monarchie, ihre Gebiete, Gränzen und Inseln. Wien 1869, S. 34.

[2] Kuhn: Sprachinsel-Forschung, S. 15.

[3] Kuhn: Sprachinsel-Forschung, S. 16.

[4] Kuhn: Sprachinsel-Forschung, S. 15.

[5] Jungbauer: Sprachinselvolkskunde; vgl. dazu Lozoviuk: Interethnik, S. 173.

[6] Zum Beispiel in Nina Berend: Russlanddeutsches Dialektbuch. Die Herkunft, Entstehung und Vielfalt einer ehemals blühenden Sprachlandschaft weit außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachgebiets. Halle/S. 2011.

[7] Zu nennen sind hier als frühe Arbeiten: Hermann Bausinger: Volksideologie und Volksforschung. In: Andreas Flitner (Hg.): Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus. Eine Vortragsreihe der Universität Tübingen. Tübingen 1965, S. 125–143; und Wolfgang Emmerich: Zur Kritik der Volkstumsideologie. Frankfurt/M. 1971 (Edition Suhrkamp 502).

Zitation

Heinke M. Kalinke: Sprachinselforschung. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2015. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32772 (Stand 25.01.2022).

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(Stand: 19.01.2024)  | 
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