Karpato-Ukraine

1. Toponymie

Deutsche Bezeichnung

Karpato-Ukraine, Karpatenukraine, Transkarpatien

Amtliche Bezeichnung

ukr. Закарпатська область, translit. Zakarpats'ka Oblast'

Anderssprachige Bezeichnungen

ung. Kárpátalja; slowak., tschech. Podkarpatská Rus; rum. Regiunea Transcarpatia

2. Geographie

Lage

Das Gebiet bildet die Oblast' Zakarpats'ka (Amtssitz Ungwar/Užhorod) in der westlichen Ukraine. Die Region ist durch die Karpaten von der übrigen Ukraine getrennt; sie grenzt an Polen, die Slowakei, Ungarn und Rumänien.

Topographie

Die Oblast' umfasst ein Gebiet von 12.777 km2, sie reicht von der Tiefebene des Tals der Theiß (rum., slowak. Tisa, ung. Tisza) im Südwesten bis zu den nordöstlichen Karpaten.

Historische Geographie

Bis 1918 war die Region als "Nordostungarn" oder "Östliches Oberungarn" (Északkeleti Felvidék) bekannt und umfasste die ungarischen Komitate Ung, Bereg, Ugocsa und Marmarosch (Máramaros). Die Grenzen des Gebietes kristallisierten sich erst nach seiner Eingliederung in die Tschechoslowakei (1919) unter dem Namen Subkarpatische Rus (Podkarpatská Rus) heraus. Die heutigen Grenzen des Gebiets bestehen seit 1946.

3. Geschichte und Kultur

Gebräuchliche Symbolik

Das längs geteilte Wappen aus dem Jahr 1920 zeigt die ukrainischen Nationalfarben Blau und Gelb sowie in Weiß einen roten, aufrecht stehenden Bären.

Mittelalter

Slawische und awarische Siedlungen entstanden im frühen Mittelalter. Nach der ungarischen Landnahme Ende des 9. und Anfang des 10. Jahrhunderts gehörte die Region zu Ungarn. Im 14. Jahrhundert ließ sich der ruthenische Fürst Fjodor Korjatovitsch in Munkatsch/Mukačeve nieder.

Neuzeit

Im 16. und 17. Jahrhundert fiel das Gebiet mehrmals an die Fürsten von Siebenbürgen. Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts war es Ausgangspunkt antihabsburgischer Aufstände (Imre Thököly, Franz Rákóczi II.). Zum ungarischen Teil der Österreichisch-Ungarischen Monarchie gehörend, spielten sich in den Städten der Region gleichzeitig Modernisierungs- und Magyarisierungsprozesse ab. Ein russinischer Nationalismus entstand in den 1850er Jahren, verschwand aber bald ohne Spuren. Nach dem Zusammenbruch der Doppelmonarchie kamen mehrere politische Zukunftskonzepte auf (Autonomie innerhalb Ungarns, Autonomie innerhalb der Tschechoslowakei, Angliederung an die Ukraine). Die Region wurde dann unter dem Namen "Podkarpatská Rus" ohne Autonomie in die Tschechoslowakei eingegliedert. Einen autonomen Status erhielt sie erst 1938; er währte nur kurze Zeit. Im Zuge des Ersten Wiener Schiedsspruchs wurde die überwiegend von Magyaren bewohnte Tiefebene im Südwesten (einschließlich der drei wichtigsten Städte Ungwar, Munkatsch und Bergsaß/Berehove) Ungarn zugesprochen. Im März 1939, nach der Unabhängigkeitserklärung der Slowakei, annektierte Ungarn den Rest der Karpato-Ukraine mit deutscher Einwilligung. Zwischen 1941 und 1944 wurde die beträchtliche jüdische Bevölkerung des Gebiets in den Massakern bei Kam'janez' Podil's'kyj und im Vernichtungslager Auschwitz fast vollständig ermordet. Viele Ungarn und Deutsche flohen Ende 1944 vor der Roten Armee, die Verbliebenen wurden in Arbeitslager in der Sowjetunion deportiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Gebiet an die Sowjetrepublik Ukraine angeschlossen. Obwohl in einem Referendum 1991 mit 78 Prozent der Stimmen ein autonomer Status innerhalb der Ukraine gefordert wurde, erkannte Kiew diese Abstimmung nicht an und die Region wurde direkt den Kiewer Behörden unterstellt.

Verwaltung

Die Zakarpats'ka Oblast' ist in fünf kreisfreie Städte (Ungwar, Munkatsch, Bergsaß, Hust und Čop) und 13 Kreise (Rajons) unterteilt.

Bevölkerung

Die Gebirge der Karpato-Ukraine sind traditionell von Russinen, einer Untergruppe der Ukrainer, bewohnt. Nach dem Ersten und besonders nach dem Zweiten Weltkrieg stieg ihr Anteil auch an der Stadtbevölkerung stark an. Gemeinsam mit den übrigen Ukrainern und den Russen stellen die einheimischen Russinen in den Städten Ungwar, Munkatsch und Hust die Mehrheit, in Bergsaß eine starke Minderheit.

Die größte Minderheit des Gebiets, die Ungarn, siedelt in der Tiefebene im Südwesten. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs waren sämtliche Städte der Region überwiegend von Ungarn bewohnt; seitdem nimmt ihr Anteil stetig ab. Gegenwärtig hat Bergsaß als einzige Stadt eine (relative) ungarische Mehrheit; in Munkatsch und Ungwar sank ihr Anteil unter zehn Prozent. Dennoch bilden die Ungarn im Bergsasser Kreis die absolute Mehrheit und in den Kreisen Ungwar und Vinograd eine große Minderheit.

Ab dem Mittelalter, insbesondere im 18. Jahrhundert, wanderten deutschsprachige Siedler aus Mainfranken, Nieder- und Oberösterreich und dem Böhmerwald in die Region ein. Es bildeten sich zwei Sprachinseln in Palanka bei Munkatsch und im Tal der Tereswa in der Nähe von Hust. Anders als in ungarischen Regionen wie dem Banat oder Transdanubien entstanden in der Karpato-Ukraine keine größeren deutschen Siedlungen. Ohne kompakte Siedlungsgebiete und nationale Institutionen gingen viele Deutschen in der ungarischen Nation auf. Im Rahmen der Volkszählung 1930 wurden 13.804 Deutsche registriert.[1] Ihre Zahl nahm nach dem Zweiten Weltkrieg dramatisch ab. Viele wanderten nach Deutschland aus, andere wurden ins Donezbecken, nach Sibirien und nach Kasachstan umgesiedelt. Ihre bedingungslose Rückkehr in die Karpato-Ukraine wurde erst 1974 erlaubt. 1989 wurden 3.478, 2001 3.582 Deutsche in der Region registriert.[2]

Ab dem 18. Jahrhundert prägten auch einwandernde Juden aus Galizien und Russland die Region. Sie waren im Kleinhandel, im Dienstleistungssektor und im produzierenden Gewerbe tätig. Die jüdische Bevölkerung (ca. 110.000 Personen) wurde während des Zweiten Weltkriegs ermordet; wenige Überlebende wanderten in die USA und nach Israel aus.

Eine rumänische Minderheit lebt im Süden an der rumänischen Grenze (32.000 Personen im Jahr 2001) und eine slowakische Minderheit im Westen in der Nähe von Ungwar (5.700 Personen im Jahr 2001).

Tabelle 1: Ethnische Verhältnisse (in %) auf dem gegenwärtigen Gebiet der Karpato-Ukraine, 1880–2001.[3]

 

1880

1910

1921

1930

1941

1959

1979

2001

Ukrainer/Rusinen

59,8

55,5

60,8

60,8

58,8

74,6

77,8

80,5

Ungarn

25,5

30,7

18,1

15,9

27,4

15,9

13,7

12,1

Russen

         

3,2

3,6

2,5

Deutsche

7,6

10,5

1,6

1,7

1,6

0,4

0,3

0,3

Rumänen

1,9

1,9

   

1,8

2,0

2,4

2,7

Slowaken

1,9

1,1

3,2

4,7

0,8

1,3

0,8

0,5

Juden

   

13,1

12,5

9,3

1,3

0,3

 

Roma

       

0,1

0,5

0,5

1,1

Andere

3,3

0,3

3,2

4,3

0,2

0,7

0,7

0,5

Wirtschaft

Die Karpato-Ukraine war jahrhundertelang eine agrarisch geprägte, unterentwickelte Region an der Peripherie. Eine wirtschaftliche Modernisierung erfolgte erst in der Zwischenkriegszeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten sich besonders die Holz- und die Lebensmittelindustrie sowie der Maschinenbau. Trotzdem blieb die Region bis heute ein überwiegend von Viehzucht und Waldwirtschaft geprägtes Agrarland. Auch der Tourismus in den Gebirgen spielt mittlerweile eine wichtige wirtschaftliche Rolle.

Gesellschaft

Die Region ist bis heute von einer dörflichen Siedlungsstruktur geprägt; die beiden größten Städte Ungwar und Munkatsch liegen in der südwestlichen Tiefebene.

Die christlichen Deutschen waren hauptsächlich in der Landwirtschaft tätig. Das jiddischsprachige Judentum war in Kleinhandel, Finanzwesen und Dienstleistungen aktiv.

In der Zwischenkriegszeit war die regionale Politik wesentlich oppositionell eingestellt. Neben den starken Kommunisten entstanden nationale Parteien: ukrainophile und russophile Russinen, Ungarn und Juden.

Religions- und Kirchengeschichte

Die russinische Bevölkerung gehörte im Mittelalter überwiegend der orthodoxen Kirche an. 1646 wurde die griechisch-katholische Kirche durch die Union von Ungwar etabliert. Sie wurde 1949 von den sowjetischen Behörden verboten und mit der russischen orthodoxen Kirche zwangsuniert. Nach Auflösung der Sowjetunion entstand sie erneut, doch verblieb die Mehrheit der Gläubigen in der orthodoxen Kirche. Die ungarischsprachige Bevölkerung gehört der reformierten Kirche (Sitz Bergsaß) sowie der römisch-katholischen Kirche (Diözese Munkatsch) an.

Bei den Juden der Karpato-Ukraine handelt es sich fast ausschließlich um orthodoxe Chassiden. Die einzige Ausnahme bildete eine liberale Gemeinde in Ungwar. Die größte und wichtigste jüdische Gemeinde entstand in Munkatsch, wo Juden am Vorabend des Ersten Weltkriegs die Hälfte der Bevölkerung ausmachten. Gegenwärtig gibt es noch sechs kleine jüdische Gemeinden.

Bildung

Die Staatliche Universität in Ungwar (Užhorodskyj Deržavnyj Universitet) wurde 1945 gegründet. In Bergsaß gibt es seit 1996 eine von der ungarischen Regierung geförderte ungarische Fachhochschule mit Schwerpunkt in der Lehrerausbildung (II. Rákóczi Ferenc Kárpátaljai Magyar Főiskola). Deutschsprachige Schulen gibt es nicht.

Alltagskultur

Seit der Auflösung der Sowjetunion ist ein leichter Zuwachs deutscher Einwohner zwischen 1989 und 2001 feststellbar. In den 1990er Jahren wurde eine Reihe deutscher Vereine gegründet ("Wiedergeburt", "Hoffnung"). Der Rat der Deutschen in der Ukraine hat Filialen in Munkatsch und Hust. Eigenständige deutschsprachige Medien gibt es nicht; der regionale Rundfunk- und Fernsehsender Tisa 1 sendet zweimal wöchentlich ein deutschsprachiges Programm.

Kunstgeschichte

Die wichtigsten Baudenkmäler sind einige hölzerne griechisch-katholische Dorfkirchen. Seit 1887 bezeichnet ein Denkmal in der östlichen Karpato-Ukraine den angeblichen geographischen Mittelpunkt Europas.

Erinnerungskultur

Seit den 1990er Jahren wurden mehrere Denkmäler von nationalen Minderheiten errichtet (Masaryk-Denkmal in Ungwar, ungarische "Landnahme"-Denkmäler in Munkatsch und auf dem Vereckyj-Pass); deutsche Denkmäler sind jedoch nicht darunter.

4. Diskurse/Kontroversen

Die Idee einer selbständigen Karpato-Ukraine basiert auf der russinischen Nationalidee und wurde seit dem Ersten Weltkrieg mehrfach diskutiert. Abgesehen von einigen Intellektuellen fand sie jedoch kaum Anhänger. Die Selbstbestimmung der Region wurde seit 1991 wiederholt proklamiert und es wurden - jedoch erfolglos - mehrere Regierungen gebildet. Trotz einer intensiven Zensuskampagne deklarierten sich 2001 nur ca. 10.000 Personen als Russinen.

5. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Viktória Bányai, Csilla Fedinec, Szonja Ráhel Komoróczy (Hg.): Zsidók Kárpátalján. Történelem és örökség [Juden in der Karpato-Ukraine. Geschichte und Erbe]. Budapest 2013 (Hungaria judaica 30).
  • Čilla Fedinec, Mykola Veheš (Hg.): Zakarpattja 1919-2009 rokiv. Istorija, polityka, kul'tura [Die Karpato-Ukraine in den Jahren 1919–2009. Geschichte, Politik, Kultur]. Užhorod 2010.
  • Stephan Gaisbauer, Hermann Scheuringer (Hg.): Karpatenbeeren. Bairisch-österreichische Siedlung, Kultur und Sprache in den ukrainisch-rumänischen Waldkarpaten. Linz 2006 (Schriften zur Literatur und Sprache in Oberösterreich 10, 1).
  • Yeshayahu A. Jelinek: The Carpathian diaspora. The Jews of Subcarpathian Rus' and Mukachevo 1848–1948. New York 2007 (East European monographs 721).
  • Jurij Anatolovich Lebenec: Zakarpattja v etnopoliticnomu vimiri [Die Karpato-Ukraine in ethnopolitischer Dimension]. Kyjiv 2008.
  • Paul Robert Magocsi: The shaping of a national identity. Subcarpathian Rus', 1848-1948. Cambridge 1978 (Harvard Ukrainian series).
  • Paul Robert Magocsi, Ivan Pop (Hg.): Encyclopedia of Rusyn history and culture. Toronto 2002.
  • Mária Mayer: The Rusyns of Hungary. Political and social developments, 1860–1910. New York 1997 (East European monographs 490).
  • Georg Melika: Die Deutschen der Transkarpatien-Ukraine. Entstehung, Entwicklung ihrer Siedlungen und Lebensweise im multiethnischen Raum. Marburg 2002 (Schriftenreihe der Kommission für Deutsche und Osteuropäische Volkskunde in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde e. V. 84).
  • Athanasius B. Pekar: The history of the Church in Carpathian Rus'. New York 1992 (East European monographs 322).
  • Aleksei L. Petrov (Hg.): Medieval Carpathian Rus'. The oldest documentation about the Carpatho-Rusyn Church and Eparchy, 1391–1498. New York 1998 (East European monographs 491).
  • Andrej I. Puskas: Civilizacija ili varvastvo. Zakarpate 1918-1945 [Zivilisation oder Barbarei. Die Karpato-Ukraine 1918–1945]. Moskau 2006.

Weblinks

Anmerkungen

[1] Melika: Die Deutschen, S. 130.

[2] Svitlana Mel'nik, Stepan Černičko: Movna polityka v nezaležniy Ukrajini [Sprachenpolitik in der unabhänigen Ukraine]. In: Čilla Fedinec, Mykola Veheš (Hg.): Zakarpattja 1919–2009 rokiv. Istorija, polityka, kul'tura. Užhorod 2010. S. 693.

[3] Stepan Černičko: Status mov u rizni istoryčni epohu. In: Fedinec, Vehes: Zakarpattja, S. 632.

Zitation

Bálint Varga: Karpato-Ukraine. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2014. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/54128.html (Stand 10.12.2014).

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(Stand: 19.01.2024)  | 
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