Baltikum
1. Toponymie
Deutsche Bezeichnung
Baltikum, Baltische Region, Baltische Länder
Anderssprachige Bezeichnungen
russ. Pribaltijskij kraj; engl. Baltic Countries
Etymologie
Der Begriff "Baltikum" leitet sich vom lateinischen "Baltia" ab und geht wie "baltisch" auf die Formulierung Mare balticum für die Ostsee zurück. Seit etwa 1600 wurde er von den meisten europäischen Sprachen als Bezeichnung für Land und Leute der Region, Ende des 18. Jahrhunderts von der damaligen Oberherrschaft des Zarenreiches aus dem Russischen für die Ostseeprovinzen Est-, Liv- und Kurland übernommen. Im 19. Jahrhundert verwendeten die dort ansässigen Deutschen die Substantivierung "Balten". "Baltikum" als Sammelbezeichnung für das deutsche Okkupationsgebiet bürgerte sich im Ersten Weltkrieg ein. Nach der Begründung selbständiger Staaten 1918 durch Esten, Letten und Litauer nannten sich die bis dahin als Oberschicht dominierenden baltischen Deutschen "Deutschbalten" (in den 1930er Jahren "Baltendeutsche"). Seitdem bezeichnen sich Esten, Letten und Litauer dem internationalen Sprachgebrauch entsprechend (The Baltic States, Les États baltes) vielfach als "Balten". Heute versteht man unter dem Baltikum im weiteren Sinne die drei "baltischen Staaten" Estland (Eesti), Lettland (Latvia) und Litauen (Lietuva), wobei es allerdings umstritten ist, ob es das gemeinsame Bewusstsein einer "baltischen Identität" gibt.
Sprachwissenschaftlich kennzeichnet "baltisch" innerhalb der indoeuropäischen Sprachen die nähere Verwandtschaft des Lettischen und Litauischen mit dem ausgestorbenen Prußischen (Altpreußischen) gegenüber den finno-ugrischen Sprachen Livisch und Estnisch.
2. Geographie
Lage
Das Baltikum liegt in dem Gebiet etwa zwischen 60º bis 54º nördlicher Breite und 28º bis 21º östlicher Länge.
Topographie
Die baltische Region wird geprägt vom Baltischen Landrücken, im Norden begrenzt von Endmoränen und im Süden von ebenen Sandflächen. Von der Ostsee greifen Tieflandbuchten in sie hinein. Von Kurland (Kurzeme) nach Osten hat die nacheiszeitliche Landhebung die besondere Form von Kliffs und Strandwällen hervorgebracht. Dieser aus Kalkstein bestehende sog. Glint fällt an der estländischen Küste stellenweise bis über 50 m steil ins Meer ab. Die im Süden anschließenden Grund- und Endmoränen mit Hügellandschaften bis über 300 m Höhe ermöglichen eine bessere Bodennutzung. Anschwemmungen und Verlandungen hatten die Bildung von Flach- und Hochmooren zur Folge. Sie nehmen in Estland fast 20 Prozent und in Lettland bis acht Prozent der Fläche ein, in Litauen dagegen nur zwei Prozent.
Zwischen der kurisch-litauischen Endmoräne und dem Höhenrücken von Suwalki (Suvalkija) liegt das in zahlreiche Kleinlandschaften gestaffelte Siedlungsgebiet der Litauer, offen nach Osten und Südosten gegen die Ebenen und Waldgebiete von Weißrussland/Belarus. Niederlitauen (Žemaiten) im Nordwesten ist ein bewaldetes Hügelland mit zahlreichen Seen, das jenseits der Memel (Nemunas) im Süden von den Waldgebieten der Suvalkija abgelöst wird. Östlich an Žemaiten schließt sich die mittellitauische Ebene mit schweren und feuchten Böden an. Im Bereich des Baltischen Höhenrückens liegt Ostlitauen mit Hochlitauen (Aukštaiten) und dem Zentrum Wilna/Vilnius.
Als östliche Randgebiete der Ostsee und westliche Ausläufer der russischen Ebenen kennzeichnet die baltischen Länder, v. a. Litauen, ein west-östliches Klimagefälle. Der von der Ostsee beeinflusste Küstenbereich speichert im Sommer Wärme und gibt sie im Winter wieder ab, was eine maximale Erwärmung erst im August und die stärkste Abkühlung im Februar zur Folge hat. Bemerkenswert sind hier eine zum Landesinneren zunehmende Süd-Nord-Abnahme der Temperatur sowie ein West-Ost-Übergang vom maritimem zum kontinentalen Klima. Die Vereisung der Ostsee dauert von Kurland (Kurzeme) nach Norden jährlich über 50 Tage, die Wahrscheinlichkeit der Eisbildung beträgt an der Küste vom Rigaer Meerbusen nach Norden 100 Prozent.
Historische Geographie
Seit dem Mittelalter veränderten sich mit den wechselnden Herrschaftsverhältnissen vielfach auch die Grenzen in der baltischen Region. Grenzverschiebungen ergaben sich v. a. im Prozess der Staatsbildungen, als 1917 die russischen Gouvernements Estland und Livland zu eigenständigen Verwaltungseinheiten wurden. Estland und Lettland behielten ihre Grenzen nach den Freiheitskriegen 1918‒1920, wobei zu Lettland mit Lettgallen (Latgale) das ehemalige Polnisch-Livland hinzukam, dessen Bevölkerung sich durch den katholischen Glauben von den überwiegend protestantischen Letten und Esten unterschied. Bei den katholischen Litauern wich die enge Verbundenheit mit Polen nach dem Ersten Weltkrieg einer tiefen Gegnerschaft, verstärkt durch die Annexion des Gebiets um die historische Hauptstadt Wilna durch Polen. Das bis dahin deutsche Memelgebiet (Klaipėda) wurde als autonomes Gebiet Litauen angegliedert.
Siedlungsmuster
Völker und Stämme um 1300 [Karte:
Johansen/Mühlen: Deutsch und Un-
deutsch im mittelalterlichen und früh-
neuzeitlichen Reval, 1973, S. 33].
Die baltischen Staaten verfügen über eine relativ kleine Landesfläche, ihre Bevölkerungsdichte ist aufgrund der geringen Einwohnerzahl sehr niedrig. Ein hoher Bevölkerungsanteil Estlands und Lettlands lebt in den Hauptstädten. Reval/Tallinn weist mit knapp 400.000 Einwohnern, Riga/Rīga mit ca. 750.000 Einwohnern die dominierenden Zahlen auf. Wilna mit ca. 575.000 Einwohnern wird von der knapp 500.000 Einwohner zählenden zweitgrößten Stadt Kauen/Kaunas gefolgt. Das landesweite Siedlungsmuster in Litauen ist von größeren Mittelstädten (bis 100.000 Einwohner) sowie zahlreichen Kleinstädten geprägt und somit weit ausgeglichener als in den beiden anderen, dünner besiedelten baltischen Staaten. Während das ländliche Siedlungsmuster in Litauen vor allem durch kleine Haufensiedlungen gekennzeichnet ist, herrschen in Estland und Lettland Einzelhofsiedlungen vor.[1]
3. Geschichte und Kultur
Mittelalter
Noch im 12. Jahrhundert konnten die finno-ugrischen Finnen, Esten und Liven wie auch die baltischen lettischen Stämme sowie die der Litauer und Prußen keine stammesübergreifende staatliche Organisation bilden. Ihre Unabhängigkeit verloren sie an der Wende zum 13. Jahrhundert durch das Zusammenwirken kaufmännischer, kirchlicher und staatlicher Kräfte im Ostseeraum im Zusammenhang mit der Schwertmission.
Die Kolonisation Altlivlands erfolgte durch Missionare und niederdeutsche Kaufleute; den militärischen Schutz gewährten der Schwertbrüderorden und der Deutsche Ritterorden. Der 1199 zum Bischof von Livland geweihte Bremer Domherr Albert von Buxhoeveden (um 1165‒1229) gründete 1201 die Stadt Riga. Er verband sein Missionswerk mit dem deutschen Königtum und dem Papst, der Livland als Terra Mariana (Marienland) der Jungfrau Maria weihte. Nördlich gründete der Schwertbrüderorden 1230 mit deutschen Kaufleuten aus Gotland die Stadt Reval. Als selbständige ritterliche Genossenschaft neben dem Bischof und seinen ritterlichen Vasallen beanspruchte er ein Drittel des eroberten Landes. Der livländische Ordenszweig war zwar dem Bischof unterstellt, musste als geistlicher Ritterorden aber dem Papst gehorchen, was zu dauernden Konflikten führte.
Politische Karte des Baltikums im
Mittelalter, um 1260 [Wikimedia Commons]. Karte: MapMaster,
Attilos, NordNordWest/CC BY-SA 3.0
Nach dem Erwerb des dänischen Estland 1346 bildete sich statt eines Einheitsstaates die sog. "Livländische Konföderation" aus fünf geistlichen Territorien, deren größtes das des Deutschen Ordens war. Ihr Verhältnis glich einem permanenten Bürgerkrieg, aus dem die Ritterschaften als eigentliche Sieger hervorgingen. Sie wirkten seit etwa 1420 an den allgemeinen Landtagen als dem wichtigsten Organ der altlivländischen Konföderation mit, wo seit Ende des 15. Jahrhunderts auch Riga, Reval und Dorpat/Tartu vertreten waren, deren Bürger sich in Gilden organisierten. Als lockerer Staatenbund aus geistlichen und weltlichen Territorien glich Altlivland dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Im Unterschied zu Preußen wanderten nur wenige deutsche Bauern ins Baltikum ein. Die ursprünglich freien estnischen und lettischen Landbewohner wurden bis Ende des 14. Jahrhunderts in die Unfreiheit gedrückt. Der Deutsche Orden und die Gutsherren beherrschten den ländlichen Raum, während die Städte durch Stifte und Klöster, durch hansische Kaufleute und deutsche Handwerker geprägt waren.
Litauen im Mittelalter
Aufgrund seiner Eigenstaatlichkeit im Mittelalter unterschied sich die historische Entwicklung Litauens seit dem 13. Jahrhundert von jener der nördlichen baltischen Länder. Die estnisch-, livisch- und lettischsprachigen Gebiete kamen unter deutsche Herrschaft und wuchsen in den lateinisch-niederdeutsch geprägten Ostseeraum hinein. Das Großfürstentum Litauen dagegen überwölbte als eigenständiges politisches Gebilde die konfessionelle Scheidelinie zwischen Ost- und Westkirche ebenso wie die sprachlichen Grenzen zwischen Ostslawen und baltischen Litauern. Seit Ende des 13. Jahrhunderts entwickelte sich Litauen zum gefürchteten Gegenspieler des Deutschen Ordens, dessen Eroberungsversuche aber scheiterten. Als Vielvölkerstaat wurde Litauen seit Ende des 13. Jahrhunderts von der heidnischen Gediminiden-Dynastie geführt. Das Heidentum ermöglichte einerseits einen Sonderweg mit dem Erhalt der ethno-kulturellen Eigenart, andererseits verhinderte es eine Modernisierung der Gesellschaft.
Das Großfürstentum Litauen behauptete sich gegen die Bedrohungen durch den Deutschen Orden und das Großfürstentum Moskau sowie gegenüber dem seit 1385 in unterschiedlichen Unionen mit ihm verbundenen Polen. Es umschloss eine ethnisch wie sprachlich unterschiedliche Bevölkerung von Ostslawen, Litauern, Polen und Juden sowie kleinere Gruppen von Deutschen und Tataren und ermöglichte das Nebeneinander verschiedener Religionsgemeinschaften wie das von Orthodoxen und Katholiken, seit 1596 auch Unierten, mehrerer protestantischer Richtungen, mosaischer Juden und muslimischer Tataren. Religiöse Verfolgungen waren in Litauen bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts nahezu unbekannt.
Die Litauer blieben zunächst ohne eigene Schriftsprache, es wurde neben Latein, Deutsch und später Polnisch eine westrussische Kanzleisprache verwendet. Die Oberschicht des litauischen Adels verschmolz anfangs z. T. mit den Ostslawen, ab 1387 zunehmend sprachlich und kulturell mit den Polen. Dennoch blieb auch nach der Realunion mit Polen 1569 die litauische Nation neben der polnischen erhalten. Als das Großfürstentum mit großen Teilen des Königreichs Polen durch dessen Teilungen 1772, 1793 und 1795 sowie durch den Wiener Kongress 1815 unter russische Herrschaft kam, konnten die ethnischen, sozialen, wirtschaftlichen und religiösen Eigentümlichkeiten von der russischen Zentralregierung nicht vollständig beseitigt werden.
Die Hanse
Während in Litauen nur indirekte Beziehungen zur Hanse bestanden, wurde Livland schon im 13. Jahrhundert zum integrativen Bestandteil des hansischen Wirtschaftssystems. Das zeigte sich im Wohlstand der größeren baltischen Städte und in der Übernahme von Rechtsnormen aus Lübeck, Gotland und Hamburg. Damit wurde eine Tradition bürgerlicher Organisationsformen, Rechtsvorstellungen und von Elementen der Baukultur begründet. Riga entwickelte sich zur Nahtstelle des Ost-West-Handels. Die zwölf baltischen Hansestädte übernahmen erstmals eine wirtschaftliche Vermittlungsfunktion zwischen Mittel- und Osteuropa. Nicht zuletzt ihnen verdankt es Livland, dass es am Ende des Mittelalters eine Region abendländischer kultureller Prägung und staatlicher Unabhängigkeit (mit der Vorherrschaft einer deutschen Elite über estnische, livische und lettische Bauern) war.
Neuzeit
Livoniae nova Descriptio. Abraham Ortelius:
Theatrum Orbis Terrarum. Antwerpen 1573–
1598.
Der Widerstand gegen Zar Ivan IV. (1547‒1584) brach im Krieg 1558‒1562 endgültig zusammen. Nach der Niederlage des Ordens 1560 unterwarf sich Reval dem protestantischen Schweden. Livland und später Riga huldigten dem katholischen Polen-Litauen unter Sigismund II. August (1520‒1572); die Insel Ösel (Saaremaa) wurde dänisch. Unter dem letzten Ordensmeister Gotthard Kettler (1517‒1587) bildete sich 1561 aus den an der Düna (Daugava) gelegenen Landschaften Kurland und Semgallen das weltliche Herzogtum Kurland, das bis 1795 unter polnischer Oberhoheit stand.
Die Reformation
Der Untergang des Ordensstaates war u. a. eine Folge der früh über die "hansische Schiene" der Städte sich ausbreitenden lutherischen Reformation. Diese förderte Bibelstudium und Predigt in den Volkssprachen. Deutsche Geistliche übersetzten die Bibel, es entstanden erste estnische und lettische Grammatiken und Wörterbücher. Der u. a. durch die Reformation markierte Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit war durch den Ausbau des estnischen, lettischen und litauischen Volksschulwesens von erheblicher Bedeutung für die gesamte Kultur- und Bildungsarbeit. Schriftkultur und Alphabetisierung der Landbevölkerung unterschieden die baltische Region bis in die Neuzeit von benachbarten russischen Regionen und waren Voraussetzungen für die Entstehung der Nationalbewegungen. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Gemeinschaftsbewegung der Herrnhuter Brüdergemeine, durch die religiöse estnische und lettische Literatur verbreitet wurde. Unter schwedischer Oberhoheit entstanden zahlreiche Bauten im Renaissance- und Barockstil. Kurland entwickelte sich unter den Herzögen Kettler und Biron zu einer eigenständigen Adelsrepublik, deren barocke Kultur in den Schlossbauten von Mitau/Jelgava und Ruhenthal/Rundāle ihren Höhepunkt fand.
In Polen-Litauen führte die Zersplitterung in drei reformatorische Bekenntnisse zum Zusammenbruch des Protestantismus, als Königtum und katholische Kirche eine gegenreformatorische Offensive durchführten, mit der sie ihrerseits das Schul- und höhere Bildungswesen sowie die Landessprachen förderten. Langfristig jedoch verlangsamte die Rekatholisierung eine Modernisierung des ethnischen Litauens und Lettgallens im Vergleich zu Livland. Die enge Verbindung mit Polen führte Litauen auf einen anderen Weg als Livland, wofür die Bezeichnungen "Kontinentalität" und "Katholizismus" für Litauen sowie "Maritimität" und "Protestantismus" für Livland geprägt worden sind.[2]
18. Jahrhundert
Unter Katharina II. (1762‒1796) verschärfte sich die rechtliche und soziale Lage der estnischen und lettischen Bauern von der Erbuntertänigkeit zur kaum eingeschränkten Leibeigenschaft. Wichtig für die interethnischen Beziehungen wurde neben dem Pietismus vor allem die Aufklärung, die aus Berlin und Ostpreußen in die Ostseeprovinzen wirkte, wo sie viele Anhänger im Adel und unter den Literaten fand. Zu ihnen gehören August Wilhelm Hupel (1737‒1819) mit seinen das estnische und lettische Zeitschriftenwesen begründenden Zeitschriften und mehr noch Garlieb Merkel (1769‒1850) mit der aufsehenerregenden Schrift Die Letten, in der er drastisch die Not der lettischen Landbevölkerung schilderte und moralisch-politische Forderungen erhob.[3]
Während des Nordischen Krieges (1700‒1721) wurde das Baltikum völlig zerstört, die Bevölkerungszahl ging um die Hälfte zurück. Zar Peter I. (1672‒1725) sicherte im Sommer 1710 der Stadt Riga ihre politische und soziale Ordnung zu, Livland und Estland wurden autonome russische Gouvernements wie Ende des Jahrhunderts auch Kurland. Fußend auf dem Privilegium Sigismundi Augusti von 1561 gewährte Peter I. in den sog. Kapitulationen den Glauben nach dem Augsburger Bekenntnis, Sicherung der evangelisch-lutherischen Landeskirche sowie Bestätigung der deutschen ständischen Selbstverwaltung mit deutschem Gerichtswesen. Diese in der deutschbaltischen Geschichtsauffassung lange als "Verträge staatsrechtlichen Charakters im Sinne des früheren ständisch-mittelalterlichen Staatsrechts"[4] interpretierten Kapitulationen prägten die politische und soziale Situation in Liv-, Est- und Kurland über zwei Jahrhunderte.
19. Jahrhundert
Die mit den baltischen Agrarreformen verbundene Umwandlung des agrarökonomischen Systems schuf die Grundlagen der nationalen Emanzipation der Esten und Letten. 1816‒1819 gaben die Ritterschaften das Recht an der Person der Bauern auf, behielten aber jenes am Grund und Boden. Im Agrargesetz von 1849 konnten die Pächter als Partner der Gutsbesitzer mit öffentlichen Krediten Grund und Boden erwerben, die Fronpacht wurde durch die Geldpacht ersetzt mit dem politischen Ziel der Bildung eines wirtschaftlich unabhängigen Standes bäuerlicher Eigentümer. Die selbständig gewordenen Bauern beteiligte man aber nicht an der politischen Führung des Landesstaates, mit dem Übergang zur Geldpacht und zum Bauernlandverkauf wurde die ständische Ordnung ökonomisch zwar gesprengt, politisch jedoch versteinerte sie.
Mit der Freizügigkeit nach der Bauernemanzipation konnten neue Erwerbszweige erschlossen und mit der Urbanisierung lokale Begrenztheiten überwunden werden. Denn die Abschaffung der Leibeigenschaft setzte Arbeitskräfte für Großunternehmen in den Städten frei, wobei als Motor der Industrialisierung seit der Jahrhundertmitte der Eisenbahnbau wirkte. Mit der bis 1914 voll ausgebauten Industriewirtschaft nahmen die Ostseeprovinzen ökonomisch eine Vorreiterrolle im Zarenreich ein. Häfen und Großstädte begünstigten diese Entwicklung hier gegenüber Litauen, wo erst in den 1890er Jahren die Metallindustrie anwuchs und die Urbanisierung in den agrarisch geprägten Gouvernements keinen entscheidenden Faktor darstellte.
Bei Esten und Letten war der hohe Grad der Alphabetisierung für den Prozess der sozialen und politischen Differenzierung von ausschlaggebender Bedeutung. Während 1897 in den innerrussischen Gouvernements nur 30 Prozent lesen konnten, waren es in Estland und Livland über 90 Prozent. Die nationale Bewegung begann als Kultur- und Bildungsbewegung. Die russische Administration versuchte, die baltischen nationalen Bestrebungen für ihre Politik eines Nationalismus panslawistischer Prägung zu instrumentalisieren. Die neue russische Präsenz seit Beginn der 1880er Jahre fand ein sichtbares Zeichen im Bau der orthodoxen Kathedrale auf dem Domberg in Reval. Als Höhepunkt der staatlichen Unifizierungspolitik wurde zwischen 1887 und 1890 das gesamte Schul- und Hochschulwesen russifiziert.
In Litauen wurde die Leibeigenschaft erst mit der russischen Bauernbefreiung 1861 abgeschafft. Das nationale Erwachen richtete sich hier gegen die Großrussen, die Weißrussen im östlichen Siedlungsraum sowie gegen die frühere polnische Oberschicht aus Großgrundbesitz und Stadtadel. Der Anstoß kam aus der 1803 wiedereröffneten Universität Wilna als der Geburts- und Pflegestätte der "lituanistischen Bewegung". Am polnischen Aufstand von 1863/64 beteiligten sich in größerem Umfang auch litauische Bauern. Zur anschließenden Unterdrückungspolitik gehörten Repressalien gegen die katholische Kirche und das Druckverbot für litauische Publikationen in lateinischer Schrift, das mit dem illegalen Einschleusen von Schriften aus Ostpreußen durch sog. "Bücherträger" unterlaufen wurde. Eine Ansiedlung russischer Kolonisten wie im litauischen Gebiet fand in den Ostseeprovinzen nicht statt. Zu wichtigen Widerstandszentren und Pflegestätten der litauischen Sprache wurden Priesterseminare. In der Frontstellung gegen russisch-orthodoxe Kirche und slawophile Partei gingen hier im Unterschied zu Esten und Letten Religion und Nationalismus eine enge Symbiose ein. Die Lebensgemeinschaft mit Polen löste sich, in offenem Konflikt forderten die "Litwomanen" nun gegen Polonisierungsversuche die nationale Gleichberechtigung der Litauer.
20. Jahrhundert
Während der revolutionären Unruhen wurden 1905/06 in den Ostseeprovinzen zahlreiche Gutshäuser zerstört und deutschbaltische Adlige und Pastoren ermordet, was harte Strafmaßnahmen zur Folge hatte. Zu den Auswirkungen der Revolution gehörten Erleichterungen auf dem Gebiet des muttersprachlichen Schulwesens. Im folgenden Jahrzehnt entwickelte sich eine Zivilgesellschaft bei den baltischen Völkern. In Litauen hatten die Unruhen eine anti-russische und nicht anti-klerikale Tendenz, die russischen Strafkommandos waren hier weniger einschneidend als in den Ostseeprovinzen. Nach Umwandlung der zarischen Autokratie in eine konstitutionelle Monarchie mit der Reichsduma als Volksvertretung konnten sich baltische Politiker an der Legislative beteiligen. Wenn auch Autonomieforderungen nicht durchzusetzen waren, bildete ihre Tätigkeit doch eine wichtige Vorstufe für die Epoche der Selbständigkeit im Sinne einer "Vorschule parlamentarischer Erfahrung".[5]
Erster Weltkrieg und Staatsgründungen
Zu Anfang des Ersten Weltkriegs beschränkten sich die nationalpolitischen Forderungen der Esten, Letten und Litauer auf Autonomie mit administrativem Zusammenschluss nach ethnischen Prinzipien. Bereits 1915 eroberten deutsche Truppen das gesamte von Litauern besiedelte Gebiet. Die Besetzung von Libau/Liepāja und Mitau hatte die Flucht von 3/5 der Bevölkerung Kurlands zur Folge, insgesamt wurde über ein Drittel des lettischen Volkes entwurzelt. Litauische und lettische Flüchtlinge bildeten in Russland Hilfskomitees als nationale Sammelpunkte und es kam zur Aufstellung der ersten nationallettischen Truppeneinheiten in Russland, die an der Düna-Front eingesetzt wurden.
Nach dem Sturz der Zarenherrschaft in der Februarrevolution 1917 forderte Ende März 1917 ein Demonstrationszug von 40.000 Esten zum Sitz der provisorischen Regierung in Petrograd die Zusammenlegung des estnischen Siedlungsgebietes, worauf das Gouvernement Estland, Nordlivland und die Inseln zu einer administrativen Einheit zusammengefasst wurden. Nach der Oktoberrevolution konnte ein sog. "Rettungskomitee" unter Konstantin Päts (1874‒1956) unmittelbar vor der Besetzung Revals durch deutsche Truppen am 24. Februar 1918 den selbständigen Freistaat proklamieren, was zwar von der deutschen Okkupationsmacht nicht anerkannt wurde, seitdem aber als Gründungstag der Republik Estland gilt. Die Letten forderten volle Selbstbestimmung erst nach der Einnahme Rigas durch deutsche Truppen im September 1917. Ein lettischer Volksrat proklamierte am 18. November 1918 im städtischen Theater in Riga feierlich das unabhängige demokratische Lettland. Im September 1917 forderten litauische Politiker in Wilna die Bildung eines unabhängigen demokratischen Staates. Nach internen Auseinandersetzungen über das Zusammengehen mit Deutschland und nach Verkündung der Wiederherstellung des Staates mit der Hauptstadt Wilna im Dezember 1917 wählte man im Juli 1918 Herzog Wilhelm von Urach (1864‒1928) zum litauischen König. Im November wurde der Beschluss über die Bildung einer konstitutionellen Monarchie wieder aufgehoben und Augustinas Voldemaras (1883‒1942) im Rahmen einer demokratischen Verfassung zum Ministerpräsidenten ernannt.
Freiheitskrieg
Im Kampf gegen die Rote Armee, die das Baltikum als Brückenkopf zur Durchsetzung der "Weltrevolution" betrachtete, gelang es den Esten innerhalb eines Jahres, deren weit vorgerückte Truppen aus dem Lande zu drängen. In Lettland musste die "Baltische Landeswehr" neben der aus deutschen Freiwilligen gebildeten "Eisernen Brigade" am 2. Februar 1919 Riga räumen und sich über Mitau nach Libau zurückziehen. Ihr Stoßtrupp stürzte am 16. April 1919 im sogen. "Libauer Putsch" die Regierung Ulmanis, am 22. Mai 1919 wurde Riga zurückerobert. Estnische Truppen setzten ihre Offensive in Nordlettland fort und siegten am 22./23. Juni 1919 in der Schlacht bei Wenden/Cēsis gegen die Landeswehr, wobei sich tief verwurzelte historische Ressentiments entluden. Den Erfolg über die sog. "baltischen Barone" werteten die Esten als Vergeltung für das 700-jährige Unrecht. Die erst kurz zuvor gegründete litauische Armee konnte bis Ende des Sommers 1919 das gesamte litauische Territorium befreien. Die Forderungen des historischen Partnerlandes Polen nach politischer Einheit führten zur völligen Entfremdung der beiden einst so eng verbundenen Nationen.
Im Friedensvertrag von Dorpat (2. Februar 1920) erhielt Estland von der RSFSR das Petschurgebiet (Petseri) und eine Entschädigungszahlung von 15 Millionen Goldrubeln. Der Abschluss dieses Vertrags brachte beiden Staaten ihre erste völkerrechtliche Anerkennung. Lettland erhielt bei seiner Offensive zur Befreiung Lettgallens Unterstützung von Polen, dem wegen der Spannungen mit Litauen an guten Beziehungen zu Lettland gelegen war. Unmittelbar vor der entscheidenden Wende im polnisch-sowjetischen Krieg erfolgte am 1. August 1920 die Unterzeichnung des Friedens in Riga, der den Bedingungen des Dorpater Friedens entsprach. Das seit 1629 von Livland getrennte Lettgallen wurde nunmehr wieder mit den übrigen lettischen Gebieten verbunden. Die litauisch-sowjetischen Friedensverhandlungen führten am 12. Juli 1920 zur Unterzeichnung des Vertrages in Moskau nach dem Vorbild des Dorpater Friedens.
Minderheitengesetzgebung
Die Minderheitenpolitik der baltischen Staaten besaß Modellcharakter. Die litauische Verfassung von 1922 enthielt weitgehende Autonomierechte der Minderheiten, die allerdings vom bald einsetzenden nationalen Chauvinismus zunehmend eingeengt wurden. In Lettland erklärte ein Schulautonomiegesetz am 8. August 1919 das gesamte Schulwesen der nationalen Minderheiten für autonom. Unter der Oberaufsicht des staatlichen Bildungsministeriums wurden besondere "Bildungsministerien" für jede Minderheit gebildet, deren Chefs ihr Schulsystem selbständig verwalteten mit dem Recht, an Kabinettssitzungen bei allen ihr kulturelles Leben betreffenden Fragen teilzunehmen.
Das estländische "Gesetz über die Kulturselbstverwaltung der nationalen Minoritäten" vom 2. Februar 1925 gab allen Minderheiten, die über 3.000 freiwillige Eintragungen in ein Nationalregister nachwiesen, die Möglichkeit, sich als öffentlich-rechtliche Körperschaften zu konstituieren. Die Organe der Kulturselbstverwaltung durften bindende Verordnungen erlassen, ihre Beamten und Lehrer ernennen sowie selbständig Steuern erheben, womit der Staat wesentliche Hoheitsbefugnisse auf die Kulturselbstverwaltungen der nationalen Minderheiten übertrug, deren Loyalitätspflicht ausdrücklich betont wurde. Dieses vorbildlich liberal gestaltete Kulturautonomiegesetz wurde als "Antrittsvisitenkarte vor den Augen der westlichen Welt" bezeichnet.[6]
Autoritäre Regierungen
Litauen verließ als erste baltische Republik die demokratisch-parlamentarischen Grundlagen, als die Armee 1926 in einem Staatsstreich das Parlament besetzte und den Kriegszustand erklärte. Es wurde ein Präsidialregime unter Antanas Smetona (1874‒1944) als Präsident und Augustinas Voldemaras als Ministerpräsident etabliert. Durch die neue Verfassung vom 15. Mai 1928 wurde der Staatspräsident anstelle des Landtags zum eigentlich gesetzgebenden Organ. Mit Hilfe des Kriegszustandes konnte Voldemaras eine diktatorische Regierung führen, bis ihn Smetona im September 1929 verhaften ließ. Nach einem vergeblichen Putschversuch wurden 1935 die Parteien ganz verboten. In der Verfassung vom Februar 1938 erfuhr das Präsidialregime zwar eine gewisse Legalisierung, gewann aber durch autoritäre Elemente den Charakter eines diktatorischen Einparteienstaates. Der als "Volksführer" auftretende Smetona knüpfte an die Tradition des alten Großfürstentums Litauen als Großmacht an.
Das Parlament Estlands nahm im März 1932 eine Grundgesetzinitiative zur Stärkung der Präsidentenmacht an, die im August in einer Volksabstimmung zwar abgelehnt, von der antidemokratischen Bewegung der sog. Freiheitskämpfer aber aufgenommen und im Oktober 1933 erneut zur Annahme gebracht wurde. Mit dem Staatspräsidenten als Schlüsselfigur wurde der extreme Parlamentarismus der Verfassung von 1920 ins Gegenteil einer fast absoluten Präsidialverfassung gekehrt. Am 12. März 1934 erklärte Konstantin Päts den Ausnahmezustand und verbot die "Freiheitskämpfer". Im Herbst endete die demokratische Periode Estlands, und die sog. "Ära des Schweigens" begann mit einem dreijährigen Ausnahmezustand. Aufgrund der neuen Verfassung regierte Päts mit Dekreten, im März 1935 wurden die Parteien aufgelöst, an deren Stelle eine neue Einheitsorganisation sowie berufsständische Interessenvertretungen traten. Eine neu einberufene Konstituante bestätigte die am 1. Januar 1938 in Kraft tretende Präsidialverfassung.
Auch in Lettland wollten verschiedene Gruppen die bestehende Ordnung nach deutschem und italienischem Vorbild durch eine faschistische ersetzen. Gegen sie verhängte Ministerpräsident Kārlis Ulmanis (1877‒1942) am 15. März 1934 den Kriegszustand und vereinigte unter Ausschaltung des Parlaments, Beseitigung der Parteien und Suspendierung der Verfassung in seiner Person die gesetzgebende Gewalt sowie die Ämter des Ministerpräsidenten und des Staatspräsidenten. Ulmanis propagierte das vom Nationalsozialismus übernommene Führerprinzip ideologisch mit pseudo-historischen Rückgriffen. Die Machtkonzentration in einer Hand entwickelte sich zu einer Diktatur, die alle Bereiche des öffentlichen Lebens nach dem Führerprinzip umgestaltete.
Verlust der Selbständigkeit
Im August/September 1939 erfolgte in den geheimen Zusatzprotokollen des Hitler-Stalin-Pakts und des Deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrages die für die Existenz der baltischen Staaten entscheidende Aufteilung in Interessensphären. Die der Sowjetunion darin zugestandene "territorialpolitische Umgestaltung" innerhalb ihres Einflussbereiches wurde sogleich eingeleitet mit ultimativ durchgesetzten Beistandspakten und Verträgen über die Gewährung von Stützpunkten mit Estland (28. September), Lettland (5. Oktober) und Litauen (11. Oktober). Mitte Juli 1940 wurden nach sowjetischem Muster Parlamentswahlen durchgeführt, die Abgeordneten erklärten in analogem Vorgehen die baltischen Staaten zu sozialistischen Sowjetrepubliken und stellten Anfang August im Obersten Sowjet in Moskau Anträge auf "Eingliederung" in den sowjetischen Staatsverband. Es handelte sich dabei um keine freiwillige Vereinigung auf vertraglicher Grundlage, sondern um eine gewaltsame Aneignung fremden Staatsgebiets, d. h. eine völkerrechtlich verbotene Annexion.[7] Damit unterschied sich der völkerrechtliche Status der baltischen Sowjetrepubliken grundlegend von dem der anderen Unionsrepubliken.
Im Zuge der Massendeportationen vom Juni 1941 wurden aus Estland ca. 11.000, aus Lettland 16.000 und aus Litauen 21.000 (nach einigen Quellen 34.000) Personen ins Innere der Sowjetunion deportiert. Einschließlich der bereits im August 1940 begonnenen Deportationen wurde damit bis Juli 1941 ein großer Teil der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Eliten der baltischen Völker verschleppt.
Mit der deutschen Okkupation im Sommer 1941 wechselten im Baltikum lediglich die Formen der Gewaltherrschaft. Estland, Lettland, Litauen und Weißrussland wurden von der neuen Besatzungsmacht zum "Reichskommissariat Ostland" zusammengefasst, womit sie weder administrativen Sonderstatus noch politische Autonomie erhielten. Das Fernziel einer Umwandlung des Baltikums in ein deutsches Land sollte durch "Eindeutschung der rassisch positiv zu bewertenden Elemente", durch Kolonialisierung germanischer Völker sowie durch Aussiedlung und Liquidierung "unerwünschter" Volksgruppen verwirklicht werden. Am stärksten betroffen war davon die jüdische Bevölkerung. Mit beispielloser Brutalität wurde sie zusammen mit zahlreichen, aus anderen besetzten Gebieten Deportierten in Riga und Wilna fast vollständig ermordet. Zum Teil mit Hilfe litauischer Kollaborateure wurden nahezu 90 Prozent der im Jahre 1941 noch 230.000 Personen zählenden jüdischen Minderheit Litauens getötet. In Estland fanden schätzungsweise 1.000, in Lettland 66.000 Juden den Tod.
Mit der Wiederbesetzung der baltischen Länder durch die Rote Armee begann 1944/45 eine von Terror begleitete tiefgreifende Sowjetisierung in allen Bereichen, die auch von dem Partisanenkampf nicht aufgehalten werden konnte. Im kulturellen Bereich galt zwar die Devise "National in der Form, sozialistisch im Inhalt", und die nationalen Sprachen, Literaturen oder das Brauchtum wurden offiziell gefördert. Diese von der KP gelenkte Kulturarbeit aber hatte der Schaffung einer "einheitlichen multinationalen Sowjetkultur" zu dienen, sodass die Völker des Baltikums ihre ethnische Eigenständigkeit gegenüber dem Ideal des "Sowjetmenschen" verteidigen mussten. Einer kurzen Tauwetterperiode nach Stalins Tod 1953 folgte 1964–1984 eine Zeit der Stagnation mit zunehmender Zentralisierung.
Die "Singende Revolution"
Die von Michail Gorbatschow (*1931) unter den Leitbegriffen Glasnost und Perestrojka 1985 eingeleitete Reformpolitik wurde nirgendwo in der Sowjetunion so einmütig begrüßt wie im Baltikum. Die Bedeutung ökologischer Themen zeigte sich 1987 im Protest gegen den von der Moskauer Zentralregierung in Nordestland geplanten umfassenden Phosphoritabbau, dessen Durchführung eine ökologische Katastrophe und die forcierte Zuwanderung russischer Arbeitskräfte zur Folge gehabt hätte. Gegen industrielle Großprojekte erhob sich auch Widerstand in Lettland hinsichtlich des geplanten Baus eines weiteren Kraftwerks an der Düna (Daugava) sowie in Litauen gegen die Errichtung eines dritten Kernkraftwerks Ignalina.
Nach Manifestationen zu den Unabhängigkeitstagen und zum Gedenken an die Opfer des Stalinismus konstituierten sich in allen drei baltischen Republiken im Oktober 1988 sog. Volksfronten als nationalitätenübergreifende Sammlungsbewegungen, die Autonomie zunächst noch innerhalb einer erneuerten Sowjetunion verwirklichen wollten. Im Unterschied zu vergleichbaren "Runden Tischen" in anderen Ländern des Umbruchs bildeten die Volksfronten gut organisierte Massenbewegungen mit Verzahnungen bis in die Reihen der KP-Mitglieder hinein. Sie wirkten durch Massenkundgebungen wie die Sängerfeste oder die eindrucksvolle Menschenkette, mit der am 23. August 1989 rund eine Million Teilnehmer die Hauptstädte Reval, Riga und Wilna miteinander verbanden im gemeinsamen Protest gegen den 50 Jahre zuvor abgeschlossenen Hitler-Stalin-Pakt und dessen Folgen.
Der Oberste Sowjet in Reval beschloss am 16. November 1988 eine Souveränitätserklärung mit der Oberhoheit der Gesetze der Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik (ESSR) auf ihrem Territorium. Im Mai/Juli 1989 folgten Litauen und Lettland mit ähnlichen Deklarationen. Aus der Einsicht, dass eine Demokratisierung der Gesellschaft mit Moskau nicht zu erreichen sei, erstrebten die Volksfronten nun die volle staatliche Unabhängigkeit. Litauen erklärte am 11. März 1990 die Wiederherstellung der unabhängigen demokratischen Republik mit Berufung auf die Unabhängigkeitserklärung von 1918 und setzte die Verfassung von 1938 weitgehend wieder in Kraft. Das folgende Duell mit Moskau verlief über Machtdemonstrationen in Form von Panzeraufmärschen bis zu Repressionsmaßnahmen, vor allem einer schmerzhaften Wirtschaftsblockade.
Wie zu Beginn der Perestrojka übernahmen die baltischen Republiken auch in dieser Phase eine Vorreiterrolle für die demokratische Bewegung in der Sowjetunion. Im Schatten des Golfkrieges verschärfte sich die Situation, als Moskau durch gezielte Maßnahmen die Lage im Baltikum zu destabilisieren suchte. Das wurde verhindert durch den gewaltlosen Widerstand, durch die demokratischen Kräfte in Russland selbst sowie den energischen Protest in westlichen Ländern. Hilfreich war auch die Unterstützung des russischen Parlamentspräsidenten Boris Jelzin (1931‒2007), der während des Armee-Einsatzes gegen die litauische Bevölkerung am 13. Januar 1991 auf einer Krisensitzung in Reval seinen baltischen Amtskollegen Beistand versprach.
Das Anknüpfen an die Zeit der Selbständigkeit, in Litauen auch an die einstige historische Bedeutung, erfolgte im Bewusstsein einer engen Zugehörigkeit zum westlichen Europa. Alle drei Völker bemühten sich in ihrem erneuten "nationalen Erwachen", diese jahrzehntelang verschütteten Wurzeln wieder freizulegen. Als während des Moskauer Putsches im August 1991 sowjetische Panzerkolonnen in Marsch gesetzt wurden und die Bürger im Baltikum die Barrikaden verstärkten, folgte das Parlament Estlands dem Beispiel Litauens und beschloss am 20. August die Unabhängigkeitserklärung. Am folgenden Tage setzte auch Lettland die Unabhängigkeit von der Sowjetunion offiziell in Kraft.
Die seit den 1990er Jahren demokratisch und marktwirtschaftlich orientierten baltischen Staaten sind sicherheitspolitisch seit dem 29. März 2004 als NATO-Mitglieder abgesichert. Diese Tatsache sowie vor allem der erhebliche Anteil russischsprachiger Einwohner in Estland und Lettland bildeten den Grund für Einmischungsversuche Russlands. Die Vollmitgliedschaft in der EU seit dem 1. Mai 2004 wird als "Rückkehr nach Europa" betrachtet und hat die baltischen Staaten wieder in Europa integriert.
4. Wirtschaft und Gesellschaft
Bevölkerung
Bevölkerungsentwicklung der baltischen Staaten (ohne Neuzuwanderung) im und nach dem Zweiten Weltkrieg[8]
Estland | Lettland | Litauen | |
Bevölkerung Mitte Oktober 1939 (Litauen: mit Wilnagebiet, ohne Memelgebiet) | 1.130.000 | 2.000.000 | 2.950.000 |
Abwanderung November 1939 bis Mai 1941 (inkl. der Deutschbalten) | -20.000 | -70.000 | -50.000 |
Sowjetische Deportationen und Exekutionen 1940/41 | -15.000 | -35.000 | -35.000 |
Mobilisierung für die Sowjetarmee 1941 und 1944/45 | -35.000 | -20.000 | -60.000 |
Flucht in die Sowjetunion 1941 | -30.000 | -40.000 | -20.000 |
Exekutionen und Deportationen unter deutscher Herrschaft 1941–1944 (darunter etwa 250.000 Juden) | -10.000 | -90.000 | -200.000 |
Nach Deutschland verschleppte Zwangsarbeiter 1941–1944 | -15.000 | -35.000 | -75.000 |
Als Soldaten auf deutscher Seite gefallen | -15.000 | -40.000 | -10.000 |
Sowjetische Exekutionen und Deportationen 1944/45 | -30.000 | -70.000 | -50.000 |
Flucht in den Westen 1942–1945 (vor allem über Skandinavien) | -60.000 | -100.000 | -50.000 |
Rückkehr nach Deutschland verschleppter Zwangsarbeiter 1945 | +5.000 | +10.000 | +20.000 |
Rückkehr aus Sowjetunion und Sowjetarmee 1944/45 | +20.000 | +20.000 | +20.000 |
Abwanderung nach Polen | - | - | -150.000 |
Bevölkerungsentwicklung aufgrund von Gebietsgewinnen und -verlusten 1940–1945 (Estland und Lettland: Verlust von Gebietsstreifen an die Russische Sowjetrepublik; Litauen: Gewinn einiger weißrussischer Gebiete sowie des Memelgebietes) | -70.000 | -50.000 | +125.000 |
andere Verluste | -5.000 | -80.000 | -15.000 |
Bevölkerung Ende 1945 | 850.000 | 1.400.000 | 2.400.000 |
Sowjetische Deportationen 1946–1953 | -80.000 | -100.000 | -260.000 |
Opfer des Partisanenkrieges | -15.000 | -25.000 | -50.000 |
Rückkehr aus der Sowjetunion oder der Sowjetarmee nach 1945 | +100.000 | +100.000 | +40.000 |
Einwanderung von Russen, Weißrussen und Ukrainern | +230.000 | +535.000 | +160.000 |
Geburtenüberschuss | +70.000 | +100.000 | +350.000 |
Bevölkerung Anfang 1955 | 1.155.000 | 2.010.000 | 2.640.00 |
Wirtschaft
Litauen war kein Passland wie Alt-Livland, selbst die Memel zog den Handel nicht wie die Düna auf sich. Der Fernhandel erstreckte sich bis Grodno/Hrodna und Wilna und berührte die litauischen Landschaften nördlich der Memel kaum. Ohne ein größeres Flusssystem wurde die Düna zumindest für Flößerei genutzt, die Livländische Aa (Gauja) war als der Hauptfluss Südlivlands im Mittelalter bis nach Wolmar/Valmiera schiffbar. Der Wasserweg erreichte über den Peipussee (Peipsi järv), den Pleskauer See (Pihkva järv) und die Narowa (Narva jõgi) den Anschluss an Pleskau/Pskov und Narwa/Narva und damit den Landweg nach Novgorod.
Nach Durchführung der sozial und ökonomisch erfolgreichen Agrarreformen mussten alle drei baltischen Staaten die Folgen des Ersten Weltkrieges überwinden und die Landwirtschaft intensivieren. Im Kornanbau wurde Autarkie erreicht. Konsumgenossenschaften bauten Ladenketten auf, und Produktionsgenossenschaften gewannen an Bedeutung. Für notwendige Innovationen wurden Kreditgenossenschaften mit Staats- und Agrarbanken als Kapitalgebern gebildet. In Estland konnten dank der Kriegsentschädigung die Brennschiefervorkommen als Hauptreichtum des Landes erschlossen werden. Der Export des daraus gewonnenen Öls, Benzins und Asphalts brachte zunehmend ausländisches Kapital ins Land. 1929‒1939 wurde die Ölherstellung um das 16-fache, die Rohstoffproduktion um das Dreifache gesteigert.
Die wichtigsten Außenhandelspartner der baltischen Staaten bildeten Deutschland und Großbritannien mit wachsender Exportabhängigkeit vom nationalsozialistischen Deutschland. Der innerbaltische Handel spielte eine untergeordnete Rolle, eine Zollunion kam nicht zustande. Die Lizenzvergabe aufgrund der Devisenbewirtschaftung führte Anfang der dreißiger Jahre zu einer Art Monopolisierung der Importe. Die unterstützenden und schützenden Maßnahmen machten deutlich, dass ein "Mittelweg zwischen kapitalistischer Privatwirtschaft und interventionistischer Staatswirtschaft immer stärker zugunsten der letzteren verlassen wurde".[9] Es gelang den baltischen Staaten, eine begrenzte, aber wachsende Verflechtung der Gesamtwirtschaft mit dem europäischen Markt zu erreichen, die aber nicht verschont blieb von der Belastung der Nachkriegsdepression der frühen 1920er Jahre, den Konjunkturschwankungen, der Weltwirtschaftskrise und dem von der Außenwirtschaftspolitik des Dritten Reiches ausgehenden Druck.
Religion
Beim Übertritt zum Christentum erhielt sich in Dorfgemeinschaften lange der alte Volksglaube. Die estnischen, lettischen und litauischen Bauern übernahmen zwar den Heiligenkult, passten ihn aber ihrer Volkstradition an. Heidnische Riten wurden auf Dorffriedhöfen beibehalten und alte Heiligtümer (Quellen, Haine, Bäume, die Schlange) weiterhin verehrt. Mit der Christianisierung begann aber ein Kulturtransfer in Form von neuen Technologien, Büchern und westeuropäischer Kunst, wobei Livland mehr von Deutschen beeinflusst wurde, Litauen von Polen und Russen. Eine wesentliche Rolle spielten dabei die Universitäten, die von Absolventen aus dem Baltikum besucht wurden. Livländer studierten vorwiegend in Leipzig und Rostock, Litauer seit Ende des 14. Jahrhunderts in Krakau/Kraków. Nach der Reformation wurden die Universitäten Wittenberg und Königsberg besucht, vereinzelt auch italienische. Im 15. Jahrhundert erfolgte eine beachtliche Zuwanderung von Geistlichen, Juristen, Ärzten, Künstlern und Architekten, die selbst bei kürzeren Aufenthalten einen Beitrag zur Verbreitung westeuropäischer Kultur leisteten.
Bildung
Wichtige kulturelle Zentren waren die Kirchen in Riga und Wilna sowie die von den Mönchsorden der Franziskaner und Dominikaner errichteten Klöster, von denen es zu Beginn der Reformation in Livland etwa 30 gab. Besonders in den Städten Riga, Reval, Dorpat sowie Wilna und Kaunas erblühte das kulturelle Leben, wobei seit dem 13. Jahrhundert die Domschulen eine wichtige Rolle spielten. Die höhere Bildung blieb allerdings auf die Oberschichten beschränkt, die neben der lateinischen in Livland vorwiegend die niederdeutsche, in Litauen die kirchenslawische (altweißrussische), seit Mitte des 16. Jahrhunderts auch die polnische Sprache gebrauchte. Die Gebildeten waren in Livland deutscher, in Litauen auch italienischer und polnischer Herkunft. Erst seit dem 16. Jahrhundert finden sich unter ihnen zunehmend Esten, Letten und Litauer.
Das Dorfmilieu der Bauern, in Litauen auch der kleinen Gutsbesitzer, behielt die Rolle als Traditionsträger von Kultur, Sprache und Bräuchen. Ihre bäuerliche Lebensweise war bestimmt von Sesshaftigkeit, Problemen bei der Übernahme des Christentums, von gesellschaftlichen Schranken zwischen Landbewohnern und Städtern, in Livland zusätzlich von ethnischen Gegensätzen. Bei stärkeren Einflüssen des Volksglaubens fanden städtische Kulturelemente nur langsam Eingang auf dem Lande, und die ethnische Eigenart der estnischen und lettischen Bevölkerung wurde hier ebenso bewahrt wie bei der litauischen Oberschicht.
Sprache/Literatur
In den ehemaligen Ordensländern Est-, Liv- und Kurland sowie im nördlichen Ostpreußen prägte das deutsche evangelisch-lutherische Schrifttum die entstehenden Schriftsprachen. Den Weg in die europäische Literatur fanden die estnische und lettische Literatursprache über das Deutsche, die litauische über das Polnische. Die zweisprachig aufgewachsenen Autoren des altlitauischen Schrifttums bedienten sich des Litauischen als Umgangssprache, des Polnischen oder Lateinischen als Schriftsprache. In seiner aus dem 13. Jahrhundert stammenden Livländischen Chronik beschrieb der Priester Heinrich von Lettland († um 1259) die Eroberung und Christianisierung der Liven, Esten und Letten aus Sicht der Rigaer Kirche. In der Livländischen Reimchronik dominiert die Sicht der herrschenden neuen Mächte. Litauische Chroniken behandeln die Gründung des litauischen Reiches und die Abstammungsproblematik, mit der die herrschenden Geschlechter vor Ansprüchen aus Moskau und Polen geschützt werden sollten. Insgesamt sind diese Werke sowohl beim Orden als auch bei den Litauern oft in stark propagandistischem und polemischem Stil verfasst. Erst die Ausweitung der Lese- und Schreibfähigkeit, die universitären Kenntnisse und die Verbreitung humanistischer Ideen bewirkten eine Lösung der Autoren von der obrigkeitlichen Sicht. Kritik an den örtlichen Zuständen enthalten litauische Traktate nach 1520 sowie besonders die Chronica der Provinz Lyfflandt (1578) von Balthasar Russow (1536‒1600).
Architektur
Das erste aus Stein errichtete Gebäude in Livland war die nach 1180 begonnene romanische Festungskirche von Uexküll/Ikšķile. Die frühesten erhaltenen Kunstgegenstände sind in Estland die im 13. Jahrhundert vollendeten Kalksteinplastiken der Kirche zu Wolde/Waljal auf der Insel Ösel (Saaremaa). Aus dem 14. Jahrhundert stammen die Terrakottafiguren der Johanniskirche (Jaani kirik) zu Dorpat, von denen heute noch insgesamt über 425 Kopfdarstellungen, Sitzskulpturen und Flachreliefs erhalten sind. Als Stücke individueller Prägung zählen sie zu den bedeutendsten Zeugnissen mittelalterlicher Bildhauer- und Terrakottakunst. Der größte Sakralbau Alt-Livlands war der Dorpater Dom mit seinem Ende des 14. Jahrhunderts angebauten Umgangschor. Die Nikolai- und die Olaikirche in Reval besaßen als Ecclesiae mercatoriae (Kaufmannskirchen) kurze und breite Langhäuser und in der Urform einen massiven, festungsartigen Westturm nach westfälischem Vorbild.
Im 13. und 14. Jahrhundert wurden in Livland über 150 Steinburgen errichtet, in Litauen bis Ende des 16. Jahrhunderts etwa 20. In den livländischen Städten dominierte Steinarchitektur, in den litauischen bis zum 15. Jahrhundert die Holzbauweise. Die prächtigsten städtischen Bauten waren neben den Kirchen die Rat- und Gildenhäuser sowie die mit zahlreichen Wehrtürmen versehenen Stadtmauern von Riga und Reval. Einflüsse örtlicher Bautraditionen sind bereits früh in der Architektur der Herrenhäuser festzustellen, die sich bis Mitte des 18. Jahrhunderts von Bauernhäusern generell nur durch ihre Ausmaße unterschieden.
Zu den hochwertigen Kunstschätzen Revals gehören die im 15. Jahrhundert geschnitzten Gestühlwangen im Rathaus sowie die 1478‒1482 entstandenen gemalten Flügel des von dem Lübecker Hermen Rode (1485‒1504) geschaffenen Altars in der Nikolaikirche. Dessen Zeitgenosse Bernt Notke (1440‒1517) schuf 1463 seinen Totentanz, von dem heute die ersten 13 Figuren dort erhalten sind. Der bedeutendste mittelalterliche Künstler Estlands war der Porträtist Michel Sittow (1469‒1525/26), der nach Lebensstationen in West- und Nordeuropa 1518 in seine Heimatstadt Reval zurückkehrte. Während des reformatorischen Bildersturmes wurden 1524 viele sakrale Kunstwerke vor allem in Reval, Dorpat und Pernau/Pärnu zerstört.
Universitäten
Die 1632 von Gustav Adolf (1594‒1632) begründete Universität Dorpat bildete nach ihrer Wiederbegründung im 19. Jahrhundert einen Kristallisationspunkt baltisch-deutscher Kulturbeziehungen. Als "deutsche" Hochschule konnte sie in eigenverantwortlicher Leitung in universitärer Autonomie eine ausgeprägte Vermittler-Rolle wahrnehmen. Die staatliche statt der zunächst vorgesehenen ritterschaftlichen Leitung wirkte sich in den liberalen 1860er Jahren positiv aus, negativ dagegen im massiven Eingriff ab 1890, als sie vollends russifiziert wurde. In ihrer Blütezeit erbrachten Naturwissenschaften, Medizin, Theologie und Rechtsgeschichte weit nach Russland ausstrahlende Leistungen. Zu den bedeutendsten Forschern gehörten der spätere Admiral Ferdinand von Wrangell (1796‒1870), der Astronom Wilhelm Struve (1793‒1864) sowie der Biologe und Entdecker der Eizelle Karl Ernst von Baer (1792‒1876). Die Universität Dorpat wurde ebenso wie das 1862 auf Initiative Rigaer Kaufleute errichtete Polytechnikum mit dem späteren Begründer der sowjetischen Raumfahrt Friedrich Zander (1887‒1933) und dem Chemiker und späteren Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald (1853‒1932) durch engen Berufungsaustausch mit deutschen Universitäten zu einer bedeutenden Brücke des Wissenstransfers zwischen Ost und West.
Die 1579 aus einem Jesuitenkolleg entstandene Universität Wilna entwickelte sich zum Zentrum wissenschaftlicher und pädagogischer Arbeit in Litauen. Im 18. Jahrhundert lehrte hier u. a. der Botaniker und Revolutionär Georg Forster (1754‒1794), Ernst Gottfried Groddeck (1762‒1825) verfasste das erste Handbuch für griechische Literatur in Europa und zählte zu seinen Schülern den polnischen Nationaldichter Adam Mickiewicz (1798‒1855) und den Historiker Ignacy Lelewel (1786‒1861). Aufgrund der polnischen Besetzung kam es 1922 zur Gründung der litauischen Universität Kaunas, wo der Schriftsteller Vincas Kreve-Mickevičius (1882‒1954) als Sozialwissenschaftler lehrte.
Literatur
Alle drei baltischen Länder entwickelten eine im europäischen Vergleich herausragende Buchproduktion, in der die epische Literatur ebenso wie die Lyrik einen festen Platz einnahm. Zu den bedeutendsten, in wechselseitigem kulturellem Austausch stehenden Autoren aller Ethnien gehören in Estland Anton Hansen Tammsaare (1878‒1940), Jaan Kross (1920‒2007) und Viivi Luik (* 1946), in Lettland Rūdolfs Blaumanis (1862‒1908), Rainis (Jānis Pliekšāns, 1865‒1929) und Zenta Maurina (1897‒1978), in Litauen Kristijonas Donelaitis (1714‒1780), Maironis (Jonas Mačiulis, 1862‒1932) und Ieva Simonaitytė (1897‒1978) sowie die jüdischen Schriftsteller Mathias Straschun (1817‒1885), Selig Schachnowitz (1874‒1952), Abraham Sutzkever (1913‒2010) und Grigori Kanowitsch (* 1929), die Russin Irina Saburowa (1907‒1979) oder die Deutschbalten Theodor Hermann Pantenius (1843‒1915), Werner Bergengruen (1893‒1964), Gertrud von den Brincken (1892‒1982) und Siegfried von Vegesack (1881‒1974).
5. Diskurse/Kontroversen
In der Historiographie gab es im 20. Jahrhundert eine intensive Debatte über die Bewertung der baltischen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Von sowjetlettischer Seite wurde mit den bald schulbildenden Begriffen "Kulturträgertum" und "Apologetentum" die deutschbaltische Dominanz gebrandmarkt; der deutschbaltische Adel habe sich gemeinsam mit dem russischen in einer "oligarchischen Opposition" zu Neuerungen befunden, die führende Schicht habe vor allem Angst vor sozialökonomischen Veränderungen gehabt. Gegen die These von der Interessenidentität des baltischen Adels mit der russischen Selbstherrschaft erklärte Reinhard Wittram die Stellung der Deutschen in den Ostseeprovinzen mehr aus ihrer numerischen Schwäche.[10] Diese teils massive Konfrontation ist durch neuere Arbeiten zu Russifizierung und Reformpolitik überwunden, denn es wurde deutlich, dass es neben der einst von Carl Schirren (1826‒1910) geprägten Formel des "Ausharrens" und "Festhaltens" auch immer Widerspruch und sogar Opposition innerhalb der Deutschbalten gegeben hat. In Auseinandersetzung auch mit der neueren estnischen agrarhistorischen Forschung[11] kristallisiert sich heraus, dass weder "Fürsorge" allein noch etwa planmäßige "Unterdrückung" einen tragfähigen Interpretationsrahmen für die ritterschaftliche Politik mehr bieten.[12]
In der historischen Forschung werden die damaligen Bemühungen, nichtrussische Ethnien des Zarenreiches in den verschiedensten Bereichen den Russen anzugleichen, inzwischen differenzierter bewertet. Denn entgegen der vor allem von deutschbaltischen Historikern vertretenen Auffassung einer durchgängigen Russifizierungspolitik gab es weder ein in sich geschlossenes einheitliches Russifizierungskonzept noch verlief die Russifizierungspolitik geradlinig und kontinuierlich. Die ethnische Integrationspolitik kann auch als Bestandteil einer notwendigen Modernisierung des Gesamtstaates betrachtet werden.[13]
6. Bibliographische Hinweise
Literatur
- Céline Bayou, Matthieu Chillaud (Hg.): Les États baltes en transition. Le retour à l'Europe. Bruxelles u. a. 2012 (Géopolitique et résolution des conflits 13).
- Michael Garleff: Die baltischen Länder. Estland, Lettland, Litauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Regensburg 2001 (Ost- und Südosteuropa, Geschichte der Länder und Völker).
- Anders Henriksson: Vassals and Citizens. The Baltic Germans in Constitutional Russia, 1905–1914. Marburg 2009 (Materialien und Studien zur Ostmitteleuropa-Forschung 21).
- John Hiden, Patrick Salmon: The Baltic Nations and Europe. Estonia, Latvia and Lithuania in the Twentieth Century. London, New York 1991.
- Tālavs Jundzis (Hg.): The Baltic States at Historical Crossroads. Political, economic and legal problems and opportunities in the context of international cooperation at the beginning of the 21st century. 2., durchges. und erw. Auflage Riga 2001.
- Andres Kasekamp: A History of the Baltic States. Houndmills, Basingstoke, Hampshire 2010 (Palgrave Essential Histories).
- Zigmantas Kiaupa, Ain Mäesalu, Ago Pajur, Gvido Straube: The History of the Baltic Countries. 3., durchges. Auflage Tallinn 2002.
- Boris Meissner (Hg.): Die baltischen Nationen. Estland, Lettland, Litauen. 2., erw. Auflage Köln 1991 (Nationalitäten- und Regionalprobleme in Osteuropa 4).
- Olaf Mertelsmann (Hg.): The Sovietization of the Baltic States, 1940‒1956. Tartu 2003.
- Romuald J. Misiunas, Rein Taagepera: The Baltic States: Years of Dependence 1940‒1990. Berkeley 1993.
- Gert von Pistohlkors (Hg.): Baltische Länder. Berlin 1994 (Deutsche Geschichte im Osten Europas).
- Wilfried Schlau (Hg.): Tausend Jahre Nachbarschaft. Die Völker des baltischen Raumes und die Deutschen. München 1995.
- Graham Smith (Hg.): The Baltic States. The national self-determination of Estonia, Latvia and Lithuania. Basingstoke, Hampshire u. a. 1996.
- Ralph Tuchtenhagen: Geschichte der baltischen Länder. München 2005 (C. H. Beck Wissen 2355).
Bibliographien und Periodika
- Baltische Bibliographie (1953‒1993 jährlich in der Zeitschrift für Ostforschung, danach als Einzelbände: Paul Kaegbein [Bearb.]: Baltische Bibliographie. Schrifttum über Estland, Lettland, Litauen 1994. Mit Nachträgen [Bibliographien zur Geschichte und Landekunde Ostmitteleuropas, Nr. 16]. Marburg 1995; Baltische Bibliographie 1995 [Nr. 19] Marburg 1996; Baltische Bibliographie 1996 [Nr. 21] Marburg 1997; Baltische Bibliographie 1997 [Nr. 22] Marburg 1998; Baltische Bibliographie 1998 [Nr. 24] Marburg 2000; Baltische Bibliographie 1999 [Nr. 28] Marburg 2002; Baltische Bibliographie 2000 [Nr. 35] Marburg 2005).
- Baltische Hefte. Vierteljahresschrift für Gegenwartsfragen, Kultur und Wissenschaft des Baltikums, Hannover-Döhren (1 [1954]‒21 [1975/1977]).
- Baltische Rundschau, Wilna (1994ff.)
- Commentationes Balticae. Jahrbuch des Baltischen Forschungsinstituts, Bonn (1953–1964/1966).
- Forschungen zur Baltischen Geschichte, Tartu (2006ff.)
- Jahrbuch des baltischen Deutschtums, Lüneburg (Bd. 1 [1954] 1953ff.)
- Journal of Baltic Studies, USA (1970ff.)
- Latvijas vēstures institūta žurnāls [Zeitschrift des Instituts für Geschichte Lettlands], Rīga (1936–1940, 1991ff.)
- Nordost-Archiv N. F., Lüneburg (1992ff.)
- Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung, Marburg (1994ff. [1952–1994: Zeitschrift für Ostforschung]).
- Renate Wittram-Hoffmann: Baltische Monatsschrift (Baltische Monatshefte). Register 1859–1939. Marburg/L. 1973 (Wissenschaftliche Beiträge zur Geschichte und Landeskunde Ost-Mitteleuropas 92).
Weblinks
- bbld.de/GND1213381010 (BBLD - Baltisches biografisches Lexikon digital. Digitalisierungsprojekt der Baltischen Historischen Kommission)
- www.balt-hiko.de/online-publikationen/baltisches-rechtsw%C3%B6rterbuch/ (Hermann Blaese † [Bearb.], Otto-Heinrich Elias, Alfred Schönfeldt [Red.]: Baltisches Rechtswörterbuch 1710‒1940. Online-Publikation der Baltischen Historischen Kommission)
- www.academiabaltica.de/ (Academia Baltica, Lübeck)
- www.carl-schirren-gesellschaft.de/ (Carl-Schirren-Gesellschaft e. V., Lüneburg)
- www.dbgg.de/ (Deutsch-Baltische Genealogische Gesellschaft e. V.)
- www.deutsch-balten.de/ (Deutsch-Baltische Gesellschaft e. V.)
Anmerkungen
[1] Harald Standl: Das Baltikum - ein kleiner landeskundlicher Überblick. In: Ost-West. Europäische Perspektiven 7 (2006), H. 1, S. 3–8, Tab. S. 7.
[2] Carsten Goehrke: Das Baltikum an einer Schnittstelle europäischer Geschichte: ein Rückblick. In: Carsten Goehrke, Jürgen v. Ungern-Sternberg (Hg.): Die baltischen Staaten im Schnittpunkt der Entwicklungen. Vergangenheit und Gegenwart. Basel 2002 (Texte und Studien 4), S. 179–193, hier S. 181.
[3] Garlieb Merkel: Die Letten vorzüglich in Liefland am Ende des philosophischen Jahrhunderts. Nach der Ausgabe Leipzig 1796 hg. von Thomas Taterka. Wedemark 1998 (Beiträge zur baltischen Geschichte 17).
[4] Reinhard Wittram: Baltische Geschichte. Die Ostseelande Livland, Estland, Kurland 1180–1918. Grundzüge und Durchblicke. Darmstadt 1973, S. 133.
[5] Georg v. Rauch: Geschichte der baltischen Staaten. München 1990, S. 27.
[6] Hans Rothfels: Das Baltikum als Problem internationaler Politik. In: Hans Rothfels: Zeitgeschichtliche Betrachtungen. 2., durchges. Auflage Göttingen 1963, S. 217–235, hier S. 223; Cornelius Hasselblatt: Minderheitenpolitik in Estland. Rechtsentwicklung und Rechtswirklichkeit 1918–1995. Hamburg 1996 (Bibliotheca Baltica), S. 58; Rauch: Geschichte (wie Anm. 5), S. 138.
[7] Boris Meissner: Die Sowjetunion, die baltischen Staaten und das Völkerrecht. Köln 1956.
[8] Quelle: Helmut Meyer: Geschichte der baltischen Länder. In: Geschichte 1989, H. 3, S. 37.
[9] Gert von Pistohlkors: Estland, Lettland, Litauen 1920–1940. In: Handbuch der Europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Bd. 6. Stuttgart 1987, S. 729–768, hier S. 762.
[10] Reinhard Wittram: Methodologische und geschichtstheoretische Überlegungen zu Problemen der baltischen Geschichtsforschung. In: Zeitschrift für Ostforschung 20 (1971), S. 601–640.
[11] Juhan Kahk: Bauer und Baron im Baltikum. Versuch einer historisch-phänomenologischen Studie zum Thema "Gutsherrschaft in den Ostseeprovinzen". Tallinn 1999.
[12] Gert v. Pistohlkors: Die Stellung der Deutschen in der Geschichte der Esten, Letten und Litauer. In: Nordost-Archiv N.F. 1 (1992), S. 89–122, hier S. 116.
[13] Vgl. den Literaturbericht von Gert v. Pistohlkors: "Russifizierung" in den Baltischen Provinzen und in Finnland im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Ostforschung 33 (1984), S. 592–606; jüngst Gert v. Pistohlkors: Die Ostseeprovinzen als "westliches Randgebiet" des Russischen Reiches. Zur Erinnerung an den amerikanischen Historiker Edward Carl Thaden (1928–2008). In: Jahrbuch des baltischen Deutschtums 60: 2013 (2012), S. 226–244.
Zitation
Michael Garleff: Baltikum. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2013. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/54111.html (Stand 09.11.2020).
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