Moskau/Moskva
1. Toponymie
Deutsche Bezeichnung
Moskau
Amtliche Bezeichnung
russ. Москва (sprich Moskwa), translit. Moskva
2. Geographie
Lage
Moskau befindet sich in der Mitte des europäischen Teils der Russischen Föderation, zwischen den Flüssen Oka und Wolga (55° 45″ nördliche Breite, 37° 37″ östliche Länge).
Staatliche und administrative Zugehörigkeit
3. Geschichte und Kultur
Allgemeine Geschichte
Plan der Stadt Moskau aus dem Jahre 1517.
[Sigmund v. Herbertstein: Beschreibung Moskaus
der Hauptstadt in Russland samt des moskovitischen
Gebietes 1557, ausgew. u. eingel. v. B. Picard,
Graz u. a. 1966.]
Zum ersten Mal schriftlich erwähnt wurde Moskau im Jahr 1147, als Fürst Jurij Dolgorukij am Ufer des Flusses Moskva eine Festung bauen ließ. In den Jahren 1237–1238 wurde Moskau von den Truppen des Khanes Batyi gebrandschatzt. Seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts war es das Zentrum des selbstständigen Moskauer Fürstentums. Im Jahr 1326 wurde die Residenz der Metropoliten der russisch-orthodoxen Kirche nach Moskau verlegt. Unter dem Fürsten Dmitrij Donskoj wurde es ein Zentrum für die Organisation des Kampfes gegen das Joch der Goldenen Horde. Im 14. bis zur ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts entwickelte sich Moskau zu einem großen Handelszentrum Russlands, wohin die westeuropäischen Kaufleute kamen. Hauptstadt des russischen Staates wurde es Ende des 15. Jahrhunderts, zur Zeit Ivans des Großen (1462–1505). Nach der Verlegung der Hauptstadt des russischen Staates nach Sankt Petersburg (1712) ist Moskau der Status eines Wirtschafts- und kulturellen Zentrums des Landes geblieben. Ab 1918 war es Hauptstadt der RSFSR, ab 1922 der UdSSR.
Entstehung und Entwicklung der deutschen Kolonie bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts
Die ersten Siedlungen von Ausländern in Moskau entstanden Ende des 15. Jahrhunderts unter der Herrschaft des Zaren Iwan III. (1462–1505). In diesen sog. Kolonien lebten hauptsächlich ausländische Handwerksmeister, Kaufleute und Militärfachleute. Unter Vasilij III. (1505–1533) wurde für die ausländischen Militärangehörigen auch ein besonderer Vorort in Zamoskvoreč'e gegründet, der den Namen "Nalej" oder "Nalejka" bekam. Dort war die aus Litauern, Polen und Deutschen bestehende persönliche Leibwache des Zaren angesiedelt.[1] Die erste Siedlung von Ausländern, die komplett vor die Stadtgrenzen Moskaus verlegt wurde, entstand in den 60er Jahren des 16. Jahrhunderts unter Iwan IV., dem Schrecklichen (1533–1584), als sich im Zuge des Livländischen Krieges (1558–1583) der Zustrom von Kriegsgefangenen aus dem Baltikum und auch von Ausländern, die vom Zaren in den Dienst gestellt wurden, nach Moskau verstärkte.[2] Zu dieser Zeit entstanden kleinere militärische, von Hauptleuten angeführte und nach nationalen Merkmalen (Dänen, Schotten, Deutsche, Schweden u. a.) zusammengesetzte Abteilungen. Als Lebensraum wurde den Ausländern eine besondere Örtlichkeit am anderen Ufer des Flusses Jauza zugewiesen, die den Namen "Ausländer-" (Inozemskaja) oder "Deutsche Vorstadt" (Nemeckaja sloboda) bekam. Die Vorstadt wurde im Stadtteil Zamoskvoreč'e, nur zwei Werst vom Kreml entfernt, angelegt. Gegen Ende der 1570er Jahre lebten in der Deutschen Vorstadt bereits an die 4.000 Menschen. Das Adjektiv "deutsche" in der Bezeichnung der Vorstadt bezog sich nicht speziell auf die Deutschstämmigen, sondern auf alle Ausländer.[3] Im Winter 1578 wurde die Deutsche Vorstadt von Opritschniks des Zaren geplündert, wurden die Häuser und Kirchen zerstört und ein Teil ihrer Einwohner (ca. 400 Menschen) getötet. Die Zerstörung der Vorstadt stand im Zusammenhang mit den Misserfolgen an der Livländischen Front, aber auch mit in der Vorstadt vermuteten Spionen. Unter Boris Godunov (1598-1605) betrug die Zahl der Deutschen und anderer Europäer in den Moskauer Streitkräften 2.500. In der "Zeit der Wirren" (1598–1613) nahmen deutsche "Militärs" an Kriegshandlungen teil, und zwar sowohl auf der Seite der Regierungstruppen als auch auf der Seite der "Usurpatoren". 1610 fiel die neue Ausländer-Vorstadt während des polnischen Angriffs auf Moskau einem Brand zum Opfer. Während dieser Zeit ging die Zahl der deutschen Militärs stark zurück. Ein Teil von ihnen fiel im Kampf, andere verließen Russland, da ihr Sold nicht ausbezahlt wurde. Trotz aller Wirren blieb ein Teil der Deutschen in der russischen Hauptstadt zurück.
Blick auf den Gutshof von F. Golovin im Stadtteil
Lefortovo und auf die Deutsche Vorstadt. [Gravur von A.
Shoonebeck, 1705. Moskovskie nemcy - četyre veka s
Rossiej, Moskva 1999]
Seit den 1630er Jahren stieg die Zahl der Ausländer, besonders die der Deutschen, die auf Initiative des Patriarchen Filaret, des Vaters von Zar Michail Fedorovič (1613–1645), eingeladen worden sind. Mit dem Aufbau ausländischer Truppen neuer Ordnung, in denen deutsche Militärs Kommandoposten innehatten, ging die Moskauer Führung dazu über, in "deutschen Landen" Militärs auf Vertragsbasis anzuwerben (1631–1634). Am 4. Oktober 1652 ließ Aleksej Michajlovič (1645–1676), der Vater Peters I., alle aus Westeuropa Stammenden außerhalb der Stadtgrenzen von Moskau in die frühere Ausländervorstadt aussiedeln; die nun "Neu-Deutsche" oder einfach "Deutsche Vorstadt" hieß. Die Herrschaft Peters I. (1682–1725) war für die Deutsche Vorstadt weniger durch Zuzug "ausländischer Dienstleute" gekennzeichnet als durch eine spürbare Zunahme der Zahl der Handwerksmeister und Angehörigen anderer Berufe. Eine wichtige Rolle spielte dabei das Manifest Peters I. vom 16. April 1702, in welchem Ausländer sowohl für den Staatsdienst als auch für private Tätigkeiten nach Russland eingeladen wurden. Das Manifest garantierte den Ausländern Glaubensfreiheit und freie Ein- und Ausreise aus dem Russischen Staat.[4] Seit 1719 wurden die Einwohner der Deutschen Vorstadt offiziell zu der Gesamteinwohnerzahl Moskaus gezählt. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts zogen Angehörige der ausländischen Intelligenz (Lehrer, Ärzte, technische Fachkräfte etc.) aus der Deutschen Vorstadt in unterschiedliche Stadtteile Moskaus. Ende des 18. Jahrhunderts verwandelte sich das Territorium der Deutschen Vorstadt allmählich in einen aristokratischen Stadtteil Moskaus, in dem nicht mehr nur ausländische Handwerksmeister unterschiedlicher Nationalität, sondern auch russische Kaufleute und Adelige lebten. 1840 betrug die Zahl der deutschsprachigen Einwohner Moskaus schon mehr als 5.000. Dies entsprach einem Anteil von 1,5% der Gesamtbevölkerung der alten Hauptstadt.
Bevölkerung (19./20. Jahrhundert)
Gemäß der Moskauer Volkszählung von 1882 hatte die Stadt 753.500 Einwohner, und nur ein wenig mehr als ein Viertel (26,2%) davon waren in Moskau geborene Personen. Nach der ersten Allrussischen Volkszählung (Januar 1897) lebten in Moskau 1.038.600 Menschen, von denen nur 272.600 aus der Stadt stammten. Nach der städtischen Volkszählung vom 31. Januar 1902 lebten in Moskau 1.175.000 Menschen, nach der Zählung im Februar 1907 1.346.000, und die Volkszählung vom 6. März 1912 registrierte bereits 1.618.000 Personen. Im November 1915 erreichte Moskau die Zahl von 1.984.000 Einwohnern (zu dieser Zeit belegte es bereits den sechsten Platz unter den Städten Europas). Zu Beginn der 1870er Jahre war die Bevölkerung Moskaus in nationaler Hinsicht relativ homogen: Die Zentralmacht bemühte sich nach Kräften, keine "Fremden" (inorodcy) nach Moskau zu lassen. Nach der Volkszählung von 1871 waren 95,6% der Stadtbevölkerung Russen, und der Anteil aller anderen Nationalitäten betrug lediglich 4,4%. Von der nichtrussischen Bevölkerung waren die meisten (1,8%) Deutsche; 0,9% waren Juden, 0,6% Polen, 0,3% Franzosen, 0,2% Tataren und 0,1% Armenier. Gemäß den Volkszählungen von 1882–1912 betrug der prozentuale Anteil der Russen an der Stadtbevölkerung wie früher etwas mehr als 95%. Die Volkszählung von 1897 zeigte die Zuwanderung von Ukrainern und Weißrussen, doch ging deren Zahl 1912 aufgrund einer raschen Assimilation erheblich zurück. Auch gemäß der Volkszählung von 1912 blieben die Deutschen auf Platz zwei, obwohl ihr prozentualer Anteil an der Bevölkerung der Hauptstadt ständig zurückging. An dritter Stelle standen die Polen, an vierter die Tataren, an fünfter die Juden.
Tabelle 1[5]
Bevölkerungsstruktur Moskaus 1871-1939 nach Nationalitäten (in % der Gesamtbevölkerung) | ||||||||||
Nationalitäten | 1871 | 1882 | 1897 | 1902 | 1912 | 1920 | ||||
Russen | 95,6 | 94,5 | 95,0 | 95,3 | 95,2[6] | 84,8 | ||||
Ukrainer | keine Angaben | keine Angaben | 0,4 | 0,1 | 0,2 | 0,2 | ||||
Weißrussen | keine Angaben | keine Angaben | 0,1 | 0,0 | - | 0,3 | ||||
Deutsche | 1,82 | 2,01 | 1,7[7] | 1,62 | 1,3[8] | 0,6 | ||||
Juden | 0,94 | 1,6 | 0,5 | 0,4 | 0,4 | 2,7 | ||||
Polen | 0,6 | 0,6 | 0,9 | 0,9 | 1,1 | 1,4 | ||||
Franzosen | 0,34 | 0,3 | 0,2 | 0,2 | 0,2 | 0,0 | ||||
Tataren | 0,15 | 0,2 | 0,4 | 0,5 | 0,6 | 0,2 | ||||
Armenier | 0,1 | 0,1 | 0,2 | 0,2 | 0,2 | 0,2 | ||||
Letten | 0,03 | 0,0 | 0,0 | 0,0 | 0,2 | 0,9 | ||||
Sonstige | 0,4 | 0,7 | 0,6 | 0,8 | 0,8 | 8,7[9] | ||||
Nationalitäten | 1923 | 1926 | 1933 | 1937 | 1939 | |||||
Russen | 87,2 | 87,8 | 87,5 | 87,4 | 87,4 | |||||
Ukrainer | 0,4 | 0,8 | 1,5 | 1,8 | 2,2 | |||||
Weißrussen | 0,2 | 0,7 | 0,6 | 0,6 | 0,6 | |||||
Deutsche | 0,5 | 0,4 | 0,3 | 0,3 | 0,2 | |||||
Juden | 5,6 | 6,5 | 6,6 | 6,2 | 6,0 | |||||
Polen | 1,2 | 0,9 | 0,6 | 0,5 | 0,3 | |||||
Franzosen | 0,0 | 0,0 | 0,0 | keine Angaben | keine Angaben | |||||
Tataren | 0,8 | 0,9 | 1,0 | 1,3 | 1,4 | |||||
Armenier | 0,3 | 0,3 | 0,3 | 0,4 | 0,3 | |||||
Letten | 0,6 | 0,5 | 0,4 | 0,3 | 0,2 | |||||
Sonstige | 3,2 | 1,2 | 1,2 | 1,2 | 1,4 |
Zum Wendepunkt in der Geschichte des russischen Staates wurde die Oktoberrevolution von 1917. Aufgrund von Emigration, Deportation, Einberufung zur Armee sowie Teilnahme am Bürgerkrieg sank die Zahl der Moskauer Deutschen im Vergleich zur Vorkriegszeit auf unter ein Drittel. Während vor dem Ersten Weltkrieg etwa 20.000 deutschstämmige russische Staatsangehörige in der Stadt gelebt hatten, waren es bei der Volkszählung von 1926 nur noch 8.600.
Konfessionelle Gliederung der deutschsprachigen Bevölkerung
Nach der Volkszählung von 1882 machten die Orthodoxen Moskaus beinahe 94% der Gesamtbevölkerung aus; auf die anderen Glaubensgemeinschaften entfielen lediglich 6%. Unter den Deutschen überwogen die Protestanten (Lutheraner und Reformierte) während des gesamten Untersuchungszeitraums. Betrug ihr Anteil im Jahre 1871 86,8%, so machte er 1902 bereits 89,4% aus (s. Tabelle 2). Gleichzeitig sank der Anteil der deutschen Katholiken ein wenig von 9,4% (1871) auf 7,1% (1902). Fast um die Hälfte verringerte sich der Anteil der orthodoxen Deutschen von 3,8% (1871) auf 1,97% (1902).
Tabelle 2[10]
Deutschsprachige Bevölkerung nach Konfessionen 1871-1902 | ||||||
Jahr | Protestanten | Römisch-Katholische | Orthodoxe | |||
absolut | in % | absolut | in % | absolut | in % | |
1871 | 9.099 | 86,8 | 990 | 9,4 | 396 | 3,8 |
1897 | 15.403 | 88,7 | 1.201 | 6,9 | 417 | 2,4 |
1902 | 15.810 | 89,4 | 1.259 | 7,1 | 349 | 1,97 |
Ständestruktur
Deutschsprachige Reklame in Moskau
Ende des 19. Jahrhunderts.
[P. Grossman, J. Knöbel: Führer durch
Moskau und Umgebung, Moskau 1882.]
Bei der ständischen Gliederung der Moskauer Deutschen (nach der Volkszählung von 1871) betrug der Anteil der adeligen Oberschicht im Jahre 1871 14,6%. Davon gehörten 6,3% dem erblichen Adel an. In Moskau, das als wichtigstes Handelszentrum des Landes betrachtet wurde, war der Anteil der nichtadeligen gehobenen Schicht, zu der die Kaufleute und Ehrenbürger gehörten, bei der deutschen Gruppe in Moskau deutlich größer (17,7%) als in St. Petersburg, wo er nur 10,3% erreichte. Mit einem Fünftel war das Gewicht der deutschen Mittelschicht, des sog. Klein- oder Stadtbürgertums, sehr groß. Betrachtet man die soziale Struktur der deutschsprachigen Gruppe im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung Moskaus (nach der Volkszählung von 1897), so stellt man fest, dass der deutschsprachige Adel (5,4%), die Ehrenbürger (5,43%) und die Kaufleute (5,12%) relativ stark unter den oberen Zehntausend der Moskauer Hauptstadt vertreten waren.
Tabelle 3[11]
Anteil der deutschsprachigen Einwohner in sämtlichen Ständen innerhalb der Gesamtbevölkerung Moskaus 1897 | ||||||||
Erbadel | Personenadel | Ehrenbürger | Kaufleute | |||||
abs. | in % | abs. | in % | abs. | in % | abs. | in % | |
Deutsche | 822 | 2,36 | 997 | 3,04 | 1.145 | 5,43 | 989 | 5,12 |
Gesamtbe-völkerung | 34.780 | 100 | 32.762 | 100 | 21.101 | 100 | 19.307 | 100 |
meščane | Bauern | Ausländer | insgesamt | |||||
abs. | in % | abs. | in % | abs. | in % | abs. | in % | |
Deutsche | 5.815 | 2,6 | 1.006 | 0,16 | 6.093 | 45,7 | 17.358 | 1,78 |
Gesamtbe-völkerung | 218.104 | 100 | 614.459 | 100 | 13.318 | 100 | 978.537 | 10 |
Bildungs- und Berufsstruktur
Zum Zeitpunkt der Volkszählung von 1897 konnten 57,1% der Moskauer Bevölkerung lesen und schreiben. Der Anteil der Lese- und Schreibkundigen unter der deutschsprachigen Bevölkerung Moskaus betrug über 88%. Nach der Volkszählung von 1897 waren die größten Gruppen innerhalb der deutschsprachigen Diaspora im verarbeitenden Gewerbe (26,4%), im Handels- und Finanzsektor (21,0%) und in den freien Berufen (14,8%) tätig. Recht groß war der Anteil der Personen, die freiberuflich arbeiteten (14,8%) bzw. von ihren Kapitaleinkünften lebten (8,8%). Die deutschsprachige Diaspora in Moskau war in Bereichen wie Medizin, Wissenschaft, Kunst, Bildung und Erziehung überproportional stark vertreten.
Kirche
Im Zuge der Einrichtung dauerhafter Ausländersiedlungen wurde in Moskau die erste lutherische Gemeinde in Russland gegründet, deren Anfänge auf das Jahr 1559 zurückgehen. Die endgültige Ausformung des lutherischen Gemeindelebens in Moskau vollzog sich 1576 zur Zeit Iwans IV. (1533–1584) mit dem Bau der ersten lutherischen Kirche der Stadt. Mitte der 1630er Jahre erhielt diese Kirche zu Ehren des Namenspatrons des Zaren Michail Fedorovič ihren Namen St. Michael. Anfang der 1640er Jahre errichteten Offiziere in der Gegend der Petrovka-Straße eine eigene Kirche, die wenig später den Namen St.-Petri-Pauli-Kirche bekam. Im November 1904 wurde die neue St.-Johannis-Gemeinde gegründet.
Die evang.-luth. Michaeliskirche.
[G. Stricker (Hg.): Rußland. Berlin
1997 (Deutsche Geschichte im
Osten Europas)].
Die Pastoren der evangelischen Gemeinden der Stadt waren herausragende Persönlichkeiten, die nicht nur in der Geschichte Moskaus, sondern auch im russischen Geistesleben insgesamt deutliche Spuren hinterließen. So systematisierte und katalogisierte z. B. Johann Wettermann 1565 die berühmte Bibliothek des Zaren Iwan IV., Johann Gregorii gründete im Auftrag des Zaren Aleksej Michailovič das erste russische Theater. Pastor Ernst Glück wurde durch das von ihm 1703 gegründete Gymnasium und seine Übersetzung der Bibel ins Lettische (1685–1689) und Russische (1699–1705) bekannt. Probst Benjamin Heidecke zeichnete sich nicht nur als Übersetzer und Verfasser von Lehrbüchern aus, sondern auch als Herausgeber der in gebildeten russischen Kreisen sehr populären Journale Russischer Merkur (Riga) und Konstantinopel und St. Petersburg, der Orient und der Norden (St. Petersburg). Oberpastor Heinrich von Dieckhoff stand an der Wiege der ersten Schulen für taubstumme (1860) und blinde (1882) Kinder in Russland.[12] Die Liquidation der Moskauer deutschen Kolonie sowie der evangelischen Gemeinde als ihr Kern begann mit dem Dekret über die Trennung von Kirche und Staat vom 23. Januar 1918, das die Basis für eine allgemeine Diskriminierung der Gläubigen in der UdSSR schuf. Zu Staatseigentum wurden nicht nur die den evangelischen Gemeinden in Moskau gehörenden Grundstücke, Kirchen- und Schulgebäude und Pastorenwohnungen erklärt, sondern auch die karitativen Einrichtungen. Ein Teil der Gemeindemitglieder hörte aus Angst vor staatlicher Verfolgung auf, die Gottesdienste zu besuchen oder sich gar in der Kirche zu engagieren. Nach Angaben des kirchlichen Rechenschaftsberichts der Petri-Pauli-Kirche gab es im Jahr 1928 nur noch 1.642 registrierte Lutheraner. Die Mitte der 1930er Jahre einsetzenden Repressionen gegen deutsche Pastoren in Moskau führten nicht nur zur Schließung der evangelisch-lutherischen Kirchen der russischen Hauptstadt, sondern auch zur völligen Auflösung ihrer Gemeinden. 1991 wurde die evangelisch-lutherische Petri-Pauli-Gemeinde in Moskau neu gegründet.
Gesellschaft
Unmittelbar nach Ausbruch der Kriegshandlungen gegen Deutschland im Ersten Weltkrieg stellten die russischen Behörden die auf ihrem Territorium lebende deutsche Bevölkerung unter besondere Kontrolle. Die antideutschen Kampagnen beschränkten sich nicht auf politische Repressionen, sondern schlossen auch Sprache und Religion betreffende Diskriminierungen, ein faktisches Verbot kulturell-aufklärerischer und ökonomischer Aktivitäten, Enteignungen nach nationalen Kriterien usw. ein. Die Maßnahmen richteten sich nicht nur gegen Angehörige der Feindstaaten Deutschland und Österreich-Ungarn, sondern auch gegen deutschstämmige russische Staatsangehörige.
1915 wurde in Moskau eine breit angelegte Kampagne des "Kampfes gegen die deutsche Übermacht" gestartet, in deren Verlauf die Moskauer Deutschen aus den Vertretungsorganen der Geschäftswelt entfernt wurden. Wenig später wurden die meisten deutschen Firmen unter Regierungskontrolle gestellt. Es sind zahlreiche Fälle überliefert, in denen Moskauer Deutsche, auch solche mit russischer Staatsbürgerschaft, allein aufgrund eines bloßen Verdachtes auf Spionagetätigkeit verhaftet oder ausgesiedelt wurden.
Volksversammlung vor dem Pogrom (28.05.1915) am
Minin-Požarskij-Denkmal auf dem Roten Platz.
[S. A. Rjabičenko: Tri dnja iz žizni neizvestnoj Moskvy.
Pogromy 1915 g, Moskva 2000]
Inspiriert durch Entscheidungen höher stehender Behörden, angeheizt durch regelmäßige antideutsche Ausfälle in der Presse und ermuntert durch Repräsentanten der lokalen Verwaltung rotteten sich Einwohner Moskaus vom 27. bis 29. Mai 1915 zusammen und verwüsteten die deutschen Geschäfte und Fabriken der Stadt - nach unterschiedlichen Quellen 732 Räumlichkeiten: Geschäfte, Lagerräume, Kontore und sogar Privatwohnungen. Der Sachschaden belief sich auf über 50 Millionen Rubel. Die Pogrome, Plünderungen und Brandstiftungen in der Stadt wurden erst mit Hilfe regulärer Truppen gestoppt, die am Morgen des 29. Mai in Moskau eintrafen.
Die Pogrome vom Mai 1915 beschleunigten den Liquidationsprozess der deutschen Handels- und Industrieunternehmen in der Stadt und im Gouvernement. Nur einigen wenigen deutschen Unternehmen gelang es, die Kriegsjahre zu überstehen. Gleichzeitig war der größte Teil ihrer Besitzer, ihrer Führungskräfte und ihres ingenieurtechnischen Personals gezwungen, Moskau zu verlassen.
Den Schlusspunkt in der jahrhundertelangen Geschichte der deutschen Kolonie in Moskau setzte die Sonderverordnung des Staatlichen Verteidigungskomitees der UdSSR über die Deportation von Bürgern deutscher Nationalität aus Moskau und dem Gebiet Moskau vom 6. September 1941.[13] Bis zum 19. September 1941 wurden von den 5.500 durch die Organe des NKVD aufgespürten deutschstämmigen Moskauern (Politimmigranten fielen nicht unter dieses Kontingent) 3.524 in drei Zügen in das Gebiet Karaganda (Kasachische SSR) deportiert.[14]
4. Bibliographische Hinweise
Literatur
- Victor Dönninghaus: Die Deutschen in der Moskauer Gesellschaft: Symbiose und Konflikte (1494–1941). München 2002 (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 18).
- Vera A. Kovrigina: Nemeckaja sloboda Moskvy i ee žiteli v konce XVII - pervoj četverti XVIII veka [Die Deutsche Vorstadt Moskaus und ihre Bewohner vom Ende des 17. bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts]. Moskva 1998.
- Erich Franz Sommer: Die Deutschen in Moskau und St. Petersburg. In: Boris Meissner, Helmut Neubauer, Alfred Eisfeld (Hg.): Die Russlanddeutschen. Gestern und heute. Köln 1992 (Nationalitäten- und Regionalprobleme in Osteuropa 6), S. 127-141.
Anmerkungen
[1] Sigismund v. Herberstein: Beschreibung Moskaus, der Hauptstadt in Russland, samt des moskovitischen Gebietes 1557. Ausgewählt u. eingeleitet von B. Picard. Graz u. a. 1966, S. 167f.
[2] Conrad Bussow: Zeit der Wirren. Moskowitische Chronik der Jahre 1584 bis 1613. Berlin, Leipzig 1991, S. 33f.; Sommer: Die Deutschen in Moskau und St. Peterburg, S. 128f.
[3] Ju. P. Miklaševskaja, M. S. Cepljaeva (Hg.): Lefortovo. Deutsche Siedlung in Moskau. Moskau 1995, S. 9.
[4] Margarete Busch: Deutsche in St. Petersburg 1865–1914. Identität und Integration. Essen 1995, S. 17.
[5] I. N. Gavrilova: Demografičeskaja istorija Moskvy [Die demographische Geschichte Moskaus]. Moskva 1997, S. 277f.; M. Ja. Vydro: Naselenie Moskvy (po materialam perepisej naselenija 1871-1970 gg.) [Die Bevölkerung Moskaus (auf der Basis der Volkszählungen von 1871 bis 1970)]. Moskva 1976, S. 30.
[6] Die Weißrussen sind unter der russischen Bevölkerung von 1912 berücksichtigt.
[7] Offenbar wurde in diese Berechnung die Bevölkerung der Moskauer Vororte einbezogen (nach unserer Rechnung 1,8%).
[8] Die Berechnungen wurden allem Anschein nach im Hinblick auf die gesamte Bevölkerungszahl durchgeführt, einschließlich der Moskauer Vororte. Meinen eigenen Berechnungen zufolge betrug der Anteil der deutschsprachigen Bevölkerung in den städtischen Randgebieten im Jahre 1912 ca. 1,96%.
[9] Hierunter sind hauptsächlich Personen erfasst, die ihre Nationalität nicht angegeben haben.
[10] Errechnet nach: Statističeskie svedenija o žiteljach g. Moskvy po perepisi 12 dekabrja 1871 goda [Statistische Daten über die Bewohner Moskaus nach der Volkszählung vom 12. Dezember 1871]. Moskva 1874, S. 35-47; Pervaja Vseobščaja perepis' naselenija Rossijskoj imperii, 1897 g., t. XXIV. Gorod Moskva. Tetrad' 2-ja [Die Erste Allrussische Volkszählung 1897. Bd. 24: Stadt Moskau. Heft 2]. Moskva 1904, S. 66-69; Perepis' Moskvy 1882 goda. Vyp. III [Die Volkszählung in Moskau 1882. Ausgabe 3]. Moskva 1885, S. 222-225.
[11] Errechnet nach: Pervaja Vseobščaja perepis' (Anm. 10), S. 246f.
[12] Dönninghaus: Die Deutschen, S. 146f.
[13] "Mobilizovat' nemcev v rabočie kolonny... I. Stalin". Sbornik dokumentov (1940-e gody) ["Mobilisiert die Deutschen in den Arbeitskolonnen… I. Stalin". Gesammelte Dokumente (1940er Jahre)]. Sost. N. F. Bugaj. Moskva 1998, S. 26.
[14] Alfred Eisfeld, Victor Herdt (Hg.): Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsarmee: Deutsche in der Sowjetunion 1941 bis 1956. Köln 1996 (Veröffentlichung Göttinger Arbeitskreis 453), S. 86.
Zitation
Victor Dönninghaus: Moskau/Moskva. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2012. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/54335.html (Stand 12.05.2015).
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