Neutra/Nitra
1. Toponymie
Deutsche Bezeichnung
Neutra
Amtliche Bezeichnung
slowak. Nitra
Anderssprachige Bezeichnungen
ung. Nyitra, lat. Nitra
Etymologie
Der Name leitet sich von dem indoeuropäischen Wort nid (= fließen) und dem gotischen Wort ahwa (= Wasser) her, die zusammen das Wort Nitrahwa ergeben. Der Name wird erstmals in Quellen aus dem 9. Jahrhundert erwähnt.
2. Geographie
Lage
Neutra liegt auf 48° 19' nördlicher Breite und 18° 5' östlicher Länge, 92 km nordöstlich von Pressburg/Bratislava.
Topographie
Neutra liegt am gleichnamigen Fluss im Neutraer Hügelland (Nitrianska pahorkatina); in dieser Gegend geht das Tribetz-Gebirge (Tribeč) in das Donautiefland über.
Region
Westslowakei (slowak. Západné Slovensko), früher: Oberungarn (slowak. Horná Zem, ung. Felvidék, Felső-Magyarország)
Staatliche und administrative Zugehörigkeit
Republik Slowakei. Neutra ist Hauptstadt des Kreises Neutra (Nitriansky kraj) und seit dem 9. Jahrhundert Sitz einer römisch-katholischen Diözese.
3. Geschichte und Kultur
Gebräuchliche Symbolik
Das Stadtwappen von Neutra stammt aus dem Mittelalter. Es zeigt einen geharnischten Arm, der eine Flagge hält, die das Doppelkreuz im Bild trägt.
Mittelalter
Die dem hl. Emmeram geweihte Bischofs-
kirche in Neutra/Nitra
[Foto: Wikimedia Commons. Pe-Jo
CC BY-SA 3.0].
Nachdem das Gebiet von Kelten, Dakern und germanischen Völkerschaften bewohnt war, ließen sich im 6. Jahrhundert Slawen nieder. Im frühen 9. Jahrhundert entstand hier ein slawisches Fürstentum unter Pribina († 860 oder 861), der 828 im Vorort Neutra die erste Kirche bauen ließ. Der großmährische Fürst Mojmír I. († 846) gliederte Neutra dem großmährischen Staat an, die Siedlung blieb Sitz eines Teilfürstentums. Es ist möglich (aber nicht durch Quellen belegt), dass die "Slawenapostel" Konstantin († 869) und Method († 865) auch in Neutra tätig waren. Ende des 9. Jahrhunderts erlebte die Stadt unter Fürst Swatopluk († 894) eine Blütezeit; ein Bistum wurde gegründet, das bis zum Untergang des großmährischen Reiches bestand. Anfang des 10. Jahrhunderts fiel Neutra an die Magyaren. In der frühen Árpádenzeit (11.–12. Jahrhundert) war die Stadt Sitz einiger ungarischer Thronfolger. Das Bistum wurde im frühen 12. Jahrhundert vom ungarischen König Koloman/Kálmán (1095–1116) im Kontext der Reorganisation der kirchlichen Strukturen des mittelalterlichen Ungarn wiedergegründet. Die Stadt fungierte als Sitz des gleichnamigen Komitats. Béla IV. (1235–1270) erhob die Stadt zur königlichen Freistadt, doch wurde dieses Privileg später von den örtlichen Bischöfen einschneidend begrenzt. Im Hochmittelalter wurde die Stadt mehrfach geplündert und kurzzeitig von böhmischen und polnischen Königen sowie von Hussiten erobert.
Neuzeit
Nach der Schlacht bei Mohács (1526) und der osmanischen Eroberung von Ofen/Buda (1541) befand sich Neutra im direkten Spannungsfeld habsburgischer und osmanischer Machtinteressen. Das Umland wurde mehrfach geplündert, die Stadt selbst 1663/64 von Osmanen besetzt. 1632 bestätigte König Ferdinand II. (1619–1637) eine Reihe von städtischen Privilegien. Die Stadt spielte im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts, während des Aufstands des siebenbürgischen Fürsten Franz II. Rákóczi (1676–1735), eine wichtige militärische Rolle. 1708 wurde sie von kaiserlichen Truppen belagert und zerstört. Im 18. Jahrhundert wurde Neutra, besonders die Obere Stadt und die Burg, im Barockstil neu erbaut, im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden Vorstädte und umliegende Dörfer integriert.
Zeitgeschichte
1918 wurde Neutra Teil der ersten Tschechoslowakischen Republik. In der Zwischenkriegszeit stagnierte die Entwicklung der Stadt, nachdem sie die administrative Funktion als Komitatssitz verloren hatte. Der Zweite Weltkrieg war auch in Neutra mit vielen Opfern verbunden: Die zahlreichen Mitglieder der jüdischen Gemeinde wurden Opfer des Holocaust; 1945 wurde die Stadt durch sowjetische Luftangriffe zerstört.
Nach 1945 begann in Neutra der intensive sozialistische Ausbau inklusive Industrialisierung und Massenwohnungsbau. Heute ist Neutra die viertgrößte Stadt der Slowakei.
Verwaltung
Die Stadt ist in 13 Bezirke aufgeteilt. Der Stadtrat besteht aus 31 Räten, die Verwaltung wird von einem Bürgermeister geleitet.
Die Synagoge in Neutra/Nitra
[Foto: Wikimedia Commons. Pudelek
(Marcin Szala) CC BY-SA 3.0].
Bevölkerung
Im Jahr 1785 hatte Neutra 3.505 Einwohner. Bei der Volkszählung 1869 wurden 10.683 Stadtbewohner registriert; bis zur Jahrhundertwende wuchs ihre Zahl auf 14.752 (1900) an.[1] 1930 machten 21.283 Einwohner Neutra zur sechstgrößten Stadt der Slowakei. Ein starker Bevölkerungszuwachs ist nach 1945 zu beobachten: 1991 lebten in der Stadt fast 90.000 Personen.[2] Mitte des 19. Jahrhunderts sprach die Mehrheit der Bevölkerung Slowakisch, deren Minderheiten Ungarisch, Deutsch und Jiddisch. Die ersten zuverlässigen Daten zur Sprache stammen aus dem Jahr 1880, als 38,7 % der Bewohner Slowakisch, 31,1 % Deutsch oder Jiddisch und 27,5 % Ungarisch als Muttersprache angaben.[3] In den folgenden Jahrzehnten lässt sich ein rascher Magyarisierungsprozess feststellbar: Der Anteil der Ungarn stieg bis 1910 auf 59,41 % gegenüber 30,02 % Slowaken. Deutsch als Muttersprache gaben 9,96 % der Einwohner an. 22,38 % der Bevölkerung waren Juden, die meisten sprachen Ungarisch oder Deutsch.[4] Nach dem Ersten Weltkrieg kehrte sich dieser Prozess völlig um, und die Mehrheit der Bewohner bezeichnete sich als (Tschecho-)Slowaken (1930: 87 % [Tschecho-]Slowaken, 5 % Ungarn, 4 % Juden und 3 % Deutsche).[5] Obwohl der ungarische Bevölkerungsanteil rasch schrumpfte, blieb der Mittelstand in der Zwischenkriegszeit von einer binationalen, slowakisch-ungarischen Kultur geprägt. Die Änderungen in den statistischen Daten zeugen nicht nur von dem hohen Druck nationalisierender Staatspolitik, sondern auch von einer bedeutenden nationalen Indifferenz. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist Neutra nahezu einsprachig (1991: 97,2 % Slowaken und Tschechen, 1,9 % Ungarn).[6]
Wirtschaft
Neutras Wirtschaft war bis Mitte des 19. Jahrhunderts von Handwerk und Landwirtschaft, insbesondere vom Weinbau geprägt. Obwohl die Stadt ein Marktzentrum ihres Umlandes war, verhinderte ihre periphere Lage die Ansiedlung größerer Unternehmen; eine Anbindung an die Haupteisenbahnlinien erfolgte erst 1876. Die Industrialisierung hielt in den 1870er Jahren mit der Gründung kleiner Fabriken Einzug; eine bedeutende Industriestadt (Lebensmittelindustrie, Kunststoffbearbeitung, Kraftfahrzeugteile) wurde Neutra jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg.
Gesellschaft
In der Zeit der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie (1867–1918) war Neutra eine Hochburg der liberalen Partei, obwohl die Bischöfe sich für die christlich-soziale Bewegung einsetzten. In der Zwischenkriegszeit spielten von den größeren politischen Parteien der Slowakei die Sozialdemokraten und die Christsozialisten in Neutra eine herausgehobene Rolle.
Religions- und Kirchengeschichte
Im 11. Jahrhundert wurde am Zoborberg in unmittelbarer Nähe der Stadt ein Benediktinerkloster gegründet, dessen Ruinen bis heute erhalten sind. Die dort ansässigen Mönche Zoerard und Benedikt wurden 1083 heiliggesprochen und in der Hl.-Emmeram-Kirche begraben. Die Reformation erfasste auch das Gebiet des Neutraer Bistums, die Stadt blieb jedoch mehrheitlich katholisch geprägt. Eine bedeutsame Figur der Gegenreformation, Ferenc Forgách, besetzte das Neutraer Bistum zwischen 1596 und 1607, danach wurde er Graner Erzbischof. Vom 18. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg wurde Neutra vorwiegend von Katholiken (1840: 96,41 %; 1880: 77,86 %; 1910: 74,46 %) und Juden (1840: 3,2 %; 1880: 20,26 %; 1910: 22,38 %), aber auch von Protestanten lutherischen oder helvetischen Glaubens (1880: 1,24 %; 1910: 2,84 %) bewohnt.[7] 1908 spaltete sich von der jüdisch-orthodoxen Gemeinde eine kleine neologische Gemeinde ab. Seit der Deportation und Ermordung der Juden im Zweiten Weltkrieg ist die Stadt im Wesentlichen katholisch: 2001 bezeichneten sich 74 % der Einwohner als Katholiken und 17 % als Atheisten.[8]
Besondere kulturelle Institutionen
Der nationale Oberungarische Magyarische Kulturverein (Felvidéki Magyar Közművelődési Egyesület) wurde 1883 mit Sitz Neutra gegründet (aufgelöst 1919). Das 1900 gegründete Museum des Neutraer Landes (Ponitranske múzeum) basiert auf einer Sammlung des Piaristengymnasiums. Der Bischofssitz verfügt über eine bedeutende Bibliothek.
Bildung und Wissenschaft
Das Bildungswesen in Neutra war eng mit der katholischen Kirche verbunden. 1702 gründeten Piaristen ein Gymnasium, 1715 eröffnete die Diözese ein Priesterseminar. Den Anfang des weltlichen höheren Bildungswesens markiert 1952 die Gründung einer Fachhochschule für Landwirtschaft, die 1996 zur Universität erhoben wurde (Slowakische Landwirtschaftliche Universität zu Neutra/Slovenská poľnohospodárska univerzita v Nitre). Die 1959 gegründete Fachhochschule mit Pädagogik-Schwerpunkt wurde 1992 zur Universität und erhielt 1996 den Namen Konstantin-Philosoph-Universität zu Neutra (Univerzita Konštantína Filozofa v Nitre).
Alltagskultur
Einer Legende zufolge hat der Schmied Corgoň durch seine Riesenkraft türkische Belagerer von der Stadt abgeschreckt.
Das Gebäude des Großen Seminars in Neutra/Nitra
[Foto: Wikimedia Commons. Wizzard CC BY-SA 3.0].
Kunstgeschichte
Die Burg erhielt ihre heutige Gestalt im 17. Jahrhundert durch bischöfliche Bauten. Die Kathedrale des hl. Emmeram (letzter Umbau 1736) ist romanischen Ursprungs. Die Festungsanlagen wurden in der Frühen Neuzeit zum Schutz gegen Osmanenangriffe gebaut. Bedeutende Baudenkmäler finden sich auch in der Oberen Stadt: das Große Seminar, das Palais für Kanoniker und das Franziskanerkloster. Die einzige Synagoge der Stadt stammt aus dem Jahr 1911.
Presse- und Theatergeschichte
Deutsche (Neutraer Zeitung, Neutra-Trenchiner Zeitung) und ungarische Zeitungen erschienen seit den 1870er Jahren. Nach dem Ersten Weltkrieg entstand das slowakische Pressewesen (Nitrianske noviny), daneben wurden bis in die 1930er Jahre auch einige ungarische Blätter (Nyitrai Lapok, Nyitramegyei Szemle, Nyitravármegye) herausgegeben.
Theateraufführungen in ungarischer und deutscher Sprache gab es in Neutra seit 1821. Das erste Theatergebäude wurde 1883 eröffnet, ein ständiges Ensemble jedoch erst nach 1949 gegründet. Zwischen 1883 und 1918 gab es nur ungarische, seit 1919 nur slowakische Aufführungen. Nach der Zerstörung des Theatergebäudes im Zweiten Weltkrieg (Neubau erst 1992) wurden Theaterstücke im Kulturhaus (Narodny dom) aufgeführt; seit 1979 trägt das Theater den Namen seines ehemaligen Direktors Andrej Bagar (Divadlo Andreja Bagara). Jährlich finden in Neutra zwei Theaterfestivals statt.
Militärgeschichte
Die 1890 erbaute Kaserne des 14. ungarischen Landwehr-Infanterieregiments dient heute als Markthalle.
Gedächtnis- und Erinnerungskultur
Im Rahmen der ungarischen Millenniumsfeiern wurde 1896 ein Denkmal (ein Obelisk mit dem Totemvogel der heidnischen Magyaren) auf dem Zoborberg errichtet, das1921 zerstört wurde. 1933 fanden Feierlichkeiten zum Gedenken an Fürst Pribina statt. Bedeutende Denkmäler sind den "Slawenaposteln" und Pribina gewidmet.
4. Diskurse/Kontroversen
Die Denkmäler symbolisieren die gegensätzliche Erinnerungskultur der Slowaken und der Magyaren hinsichtlich der Vergangenheit der Stadt und deren kulturelle Prägung im Laufe der Jahrhunderte. In der nationalen slowakischen Geschichtsschreibung und im öffentlichen Diskurs wird Neutra als älteste slowakische Stadt und sogar als "Wiege des Slowakentums" dargestellt, eine Deutung, die z. B. auch in den Pribinafeierlichkeiten von 1933 zum Ausdruck kam. Ungarische und einige slowakische Historiker zweifeln eine Kontinuität von der altslawischen Siedlung zur modernen slowakischen Stadt an.
5. Bibliographische Hinweise
Literatur
- Charles R. Bowlus: Nitra: when did it become a part of the Moravian realm? Evidence in the Frankish sources. In: Early Medieval Europe 17 (2009), H. 3, S. 311-328.
- Richard Marsina (Hg.): Nitra v slovenských dejinách [Neutra in der slowakischen Geschichte]. Martin 2002.
- Juraj Zajonc: Prečo je Nitra staroslávne mesto [Warum ist Neutra eine ehrwürdige Stadt]. In: Eduard Krekovič, Elena Mannová, Eva Krekovičová (Hg.): Mýty naše Slovenské [Die Mythen unserer Slowakei]. Bratislava 2005, S. 134-149.
- Ida Zubácka: Nitra za prvej Československej republiky [Neutra in der ersten Tshechoslowakischen Republik]. Nitra 1997.
Periodika
- Nitrianske noviny (Neutraer Nachrichten)
- Nitriansky ohlas (Neutraer Antwort)
Weblinks
- www.nitra.sk (Webpräsenz der Stadt in slowakischer Sprache)
- www.nitra.eu (Webpräsenz der Stadt in englischer Sprache)
- www.biskupstvo-nitra.sk (Webpräsenz des Bistums)
- www.nitra2026.eu/ (Kandidatur als Europäische Kulturhauptstadt 2026)
Anmerkungen
[1] Ernő Deák: Königliche Freistädte – Munizipalstädte. Das Städtewesen der Länder der ungarischen Krone (1780–1918). Teil 2: Ausgewählte Materialien zum Städtewesen A. Wien 1989 (Veröffentlichungen der Kommission für Wirtschafts-, Sozial- und Stadtgeschichte/Österreichische Akademie der Wissenschaften 4), S. 542.
[2] adatbank.sk/sl/11/databaza_obci (Zugriff 05.03.2013).
[3] A magyar korona országaiban az 1881. év elején végrehajtott népszámlálás eredményei [Die ungarischen Länder 1881. Die Ergebnisse der in diesem Jahr durchgeführten Volkszählung]. Budapest 1882. URL: library.hungaricana.hu/hu/view/NEDA_1881_02/?pg=0&layout=s (Abruf 16.08.2021).
[4] Deák: Königliche Freistädte (Anm. 1), S. 542.
[5] Vgl. adatbank.sk/sl/11/databaza_obci.
[6] Vgl. adatbank.sk/sl/11/databaza_obci.
[7] Deák: Königliche Freistädte (Anm. 1), S. 542.
[8] Vgl. adatbank.sk/sl/11/databaza_obci.
Zitation
Bálint Varga: Neutra/Nitra. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2013. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/54343.html (Stand 12.05.2015).
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