Turkestan

1. Toponymie

Deutsche Bezeichnung

Russisch-Turkestan, West-Turkestan

Amtliche Bezeichnung

General-Gouvernement Turkestan, ab 1886 Turkestanskij Kraj; persisch "Land der Turkvölker"

Staatliche und administrative Zugehörigkeit

Mittelasiatische Provinz im Russländischen Reich von 1867 bis 1917; der nordwestliche Teil von Turkestan im weiteren Sinne, einer historischen Landschaft zwischen dem Kaspischen Meer und Tarim-Becken (China), die Südsibirien und Nordafghanistan mit einschließt (der Begriff ist heute nicht mehr gebräuchlich).

2. Geographie

Lage

Turkestan lag in Mittelasien, einer Region südlich der kasachischen Steppen, zwischen dem Kaspischen Meer im Westen und dem Tjan'-Schan'- und Tarbagatai-Gebirge im Osten. Geographisch deckt sich Turkestan mit den heutigen Republiken Usbekistan, Turkmenistan, Kirgistan, Tadschikistan und dem südlichen Teil Kasachstans.

Topographie

Die Region ist geprägt von kontrastreichen Halbwüsten und Wüsten im Nordwesten und den Hochgebirgen im Südosten. Im Vorgebirgsgürtel konzentrierte sich der Großteil der Städte und Siedlungen.

3. Geschichte und Kultur

Geschichte der Region bis zur russischen Präsenz

Den größten kulturellen Einfluss auf das Gebiet des späteren Turkestan hatten die arabische Expansion und die damit verbundene Islamisierung ab dem späten 7. Jahrhundert. Im 13. und 14. Jahrhundert wurde die Region von verschiedenen mongolischen Herrschaftsverbänden erobert. An der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert wurde Mittelasien Teil des Timuridischen Weltreiches. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts etablierte sich hier die usbekische Gründungsdynastie, die entscheidend für die Entwicklung des Emirats Buchara (im Zentrum Mittelasiens), des Khanats Chiva (südlich des Aral-Sees), der späteren Vasallenstaaten des Russländischen Reiches, und des Khanats Kokand (im Südosten) wurde.

Zur Zeit der russischen Präsenz in der Region waren die Städte und Oasen v. a. von persischsprachigen Tadschiken und verschiedenen turksprachigen Ethnien bewohnt, von denen die Usbeken die größte Gruppe waren. Die Landwirtschaft basierte auf intensivem Ackerbau mit Bewässerung, in den Städten waren Handel und Handwerk entwickelt. In den wasserarmen Steppen und dem Vorgebirge betrieben Kirgisen und Kasachen im Osten und Turkmenen im Westen eine extensive Viehwirtschaft.

Turkestan im Zarenreich

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts begann die Angliederung und Eroberung Mittelasiens durch das Russländische Reich, die im Jahre 1895 endete. 1867 wurde das General-Gouvernement Turkestan mit Taschkent/Toshkent als Zentrum gegründet und ab 1897 bestand es aus fünf administrativen Einheiten: Semireč'e, Syr-Darja-Gebiet, Samarkand-Gebiet, Ferghanagebiet und Transkaspien. Als politisch-administrative Einheit existierte Turkestan bis Ende 1924 (seit dem April 1918 als Turkestanische Autonome Sozialistische Sowjetrepublik), als im Ergebnis nationalstaatlicher Abgrenzung in Mittelasien fünf Sowjetrepubliken im Rahmen der Sowjetunion entstanden.

Das Emirat Buchara und das Khanat Chiva standen unter dem Protektorat des Zaren. Im Wettlauf mit Großbritannien um die Vorherrschaft in der Region (das sog. great game) überwogen zunächst die strategischen Interessen des Zarenreiches in Turkestan. Die wirtschaftliche Entwicklung beschleunigte sich v. a. mit der Forcierung des Baumwollanbaus seit Ende der 1880er Jahre, insbesondere aber mit dem Bau der Eisenbahnlinie zwischen Orenburg und Taschkent (1900–1906).

Die bestimmende Linie der russischen Politik in Turkestan blieb lange Zeit das non-interference. Als Reaktion auf die größere Verbreitung von panislamischen Ideen in der Region strebte das Zentrum am Anfang des 20. Jahrhunderts eine stärkere Russifizierung in der Schulbildung und in der Lokalverwaltung an.

Die Übersiedlung von Bauern aus Zentralrussland und Sibirien nach Turkestan war mangels sog. 'freien', d. h. nicht von Nomaden benutzten Ackerlandes nur mit spezieller Genehmigung möglich. Dies zog die Entstehung einer Vielzahl von illegalen Siedlungen nach sich. Das Problem des 'freien' Landes wurde ab 1910 von der Zentralregierung durch die Konfiszierung der nomadischen Weiden 'gelöst'. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges verschärfte die gespannte Lage an der Peripherie des Imperiums und führte zu einem Aufstand der kasachischen, kirgisischen, turkmenischen Nomaden und Oasen- und Stadtbewohner im Jahre 1916.

Deutsche Präsenz in Turkestan

Bei den ersten Deutschen in Turkestan handelte es sich um Militärs und Verwalter, vor allem Baltendeutsche, die im Dienst des Zaren standen und im Zuge der Eroberung nach Turkestan kamen. Mit der fortschreitenden Erschließung Turkestans kamen Wissenschaftler, Fachleute und Unternehmer hierher, darunter viele Deutschstämmige mit deutscher oder russischer Staatsbürgerschaft.

Auf die Mitwirkung des ersten General-Gouverneurs von Turkestan Konstantin von Kaufman (1818–1882, Reg. 1867–1882) geht die Gründung der ersten deutschen Bauernsiedlungen im Gouvernement im Jahre 1881 zurück. Geleitet von chiliastischen Erwartungen ließen sich die Mennoniten vorwiegend aus dem Wolgagebiet nahe Aulie-Ata (Nikolaipol-Gemeinde im Syrdarja-Gebiet), im Khanat Buchara und im Emirat Chiva nieder.

Anfang der 1890er Jahre entstanden vorwiegend von Lutheranern bewohnte Siedlungen: Orlowka (nahe Aulie-Ata), Konstantinowka (die größte deutsche Siedlung in Turkestan, nahe Taschkent), Saratovskij und Krestovyj in Transkaspien.[1] Trotz Übersiedlungseinschränkungen und auch nach der Regierungsverfügung im Jahre 1903, die deutsche Bauern von der Übersiedlung ausschloss, setzte sich die Zuwanderung der Deutschen nach Turkestan bis zum zu Beginn des Ersten Weltkrieges fort.

Die wachsende Zahl der Deutschen führte im Jahre 1885 zur Gründung der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde in Taschkent/Toshkent. Im Jahr 1899 wurde die evangelisch-lutherische Kirche in Taschkent, 1907 die evangelisch-lutherische Kirche in Aschgabad, 1909 die katholische Kirche in Aschgabad gebaut.

Die Zahl der Deutschen in Turkestan zu Beginn des Ersten Weltkrieges kann auf mindestens 4.000 Personen auf dem Lande und ca. 5.500 in den Städten geschätzt werden, die ca. vier Prozent der aus Osteuropa, Zentralrussland und Sibirien zugewanderten europäischen Bevölkerung in Turkestan ausmachten. Während des Ersten Weltkrieges kamen zahlreiche Flüchtlinge, Kriegsgefangene und Verbannte deutscher Herkunft aus Wolhynien nach Turkestan, von denen eine geringe Zahl von Wolhyniendeutschen nach dem Krieg in Turkestan blieb.

4. Diskurse/Kontroversen

In dem noch wenig erforschten Thema "Turkestan" lassen sich bis heute unterschiedliche Herangehensweisen der russischen und "westlichen" Historiker beobachten: Während die ersten sich eher mit dem positiven Einfluss der russischen Präsenz in Turkestan befassen (Abašyn), versuchen die anderen die Züge des Kolonialismus des Zarenreichs aufzufinden (Fragner/Kappeler). Vor allem in der englischsprachigen Forschung werden Anregungen aus den postcolonial studies aufgenommen, um hierarchische Repräsentationen in Turkestan zu beschreiben und zu analysieren (z. B. Sahadeo).

Die Deutschen in Turkestan wurden bisher nur in einzelnen Arbeiten (Krieger, Krongardt) und biographisch ausgerichteten Aufsätzen (z. B. Sorokina/Rhou)[2] behandelt. Die Abhandlungen sind zwar informativ, stellen aber keinen ausreichenden Bezug zu kulturellen Phänomenen (Werte, Symbole, Wahrnehmungsweisen) sowie zu anderen Bevölkerungsgruppen und (imperialen) Strukturen außerhalb der Lebenswelt der Deutschen her. Die Berücksichtigung der Fragestellungen der neuen Kulturgeschichte sowie vergleichende Studien könnten in Untersuchungen über Deutsche in Turkestan zur Erforschung der mittelasiatischen Peripherie des Zarenreiches wesentlich beitragen. So bietet der biographische Ansatz beispielsweise die Möglichkeit, die Bedeutung von kolonialen oder 'zivilisatorischen' Ideologien als Handlungsmotivationen der Akteure zu untersuchen.

5. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Sergej Abašin, Dimitrij Jur'evič Arapov: Central'naja Azija v sostave Rossijskoj Imperii [Zentralasien im Russländischen Imperium]. Moskva 2008 (Historia Rossica).
  • Bert Fragner, Andreas Kappeler (Hg.): Zentralasien, 13. bis 20. Jahrhundert. Geschichte und Gesellschaft. Wien 2006 (Edition Weltregionen 13).
  • Viktor Krieger: Rejn, Volga, Irtyš. Iz istorii nemcev Central'noj Azii [Rhein, Wolga, Irtysch. Aus der Geschichte der Deutschen Zentralasiens]. Almaty 2006, S. 8–48.
  • Gennadij Krongardt: Nemcy v Kyrgyzstane 1880–1990 [Die Deutschen in Kirgistan: 1880–1990]. Biškek 1997, S. 18–109.
  • Richard Pierce: Russian Central Asia. 1867–1917. A Study in Colonial Rule. Berkeley 1960.
  • Jeff Sahadeo: Russian Colonial Society in Tashkent. 1865–1923. Bloomington 2007.

Anmerkungen

[1] Neben den ausschließlich deutschen Siedlungen bildeten die Deutschen Dorfgemeinschaften zusammen mit Russen und Ukrainern.

[2] Marina Sorokina, Irina Rhou: Doktor Hieronymus Krause und die Volksmedizin im russischen Turkestan in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Ingrid Kästner, Regine Pfrepper (Hg.): "...so ist die Naturwissenschaft das wahre internationale Band der Völker." Wissenschaftsbeziehungen in Medizin und Naturwissenschaften zwischen Deutschland und dem Russischen Reich im 18. und 19. Jahrhundert. Bd. 9: Deutsch-russische Beziehungen in Medizin und Naturwissenschaften. Aachen 2004, S. 101–112.

Zitation

Marina Dause: Turkestan. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2012. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/55225.html (Stand 24.01.2022).

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OME-Redaktion (Stand: 30.07.2024)  | 
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