Sankt Petersburg/Sankt-Peterburg/Leningrad

1. Toponymie

Deutsche Bezeichnung

Sankt Petersburg

Amtliche Bezeichnung

russ. Санкт-Петербург, Sankt-Peterburg

Lateinische Bezeichnung

Petropolis – gebräuchlich etwa in den lateinischen Publikationen der Akademie der Wissenschaften zu Sankt Petersburg während des 18. und 19. Jahrhunderts.

Etymologie

Die Stadt wurde 1703 nicht etwa nach dem Stadtgründer Zar Peter I. (dem Großen, 1672–1725), sondern nach dem Apostel Simon Petrus benannt. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde die Stadt am 18. August 1914 in Petrograd – wörtlich „Peterstadt“ – umbenannt, weil der bisherige Name zu „deutsch“ klang. Nach Lenins Tod 1924 wurde die Stadt am 26. Januar 1924 zu Leningrad. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erhielt sie nach einer Volksabstimmung am 6. September 1991 wieder ihren ursprünglichen Namen. Dagegen behielt das umliegende Verwaltungsgebiet (föderative Einheit) Oblast Leningrad (russ. Leningradskaja Oblast‘) nach einem Beschluss des dortigen Gebietssowjets den alten Namen.

2. Geographie

Lage

Sankt Petersburg liegt auf 59° 56′ nördlicher Breite, 30° 16′ östlicher Länge an der Mündung der Newa (Neva) in den Finnischen Meerbusen und damit in die Ostsee.

Topographie

Die ursprünglich in einem waldreichen und steinarmen Sumpfgebiet erbaute Stadt besteht aus 42 Inseln; anfangs war deren Zahl größer, zahlreiche Zwischenkanäle wurden jedoch mittlerweile zugeschüttet. Durch ihre Lage wenige Meter über dem Meeresspiegel ist die Stadt stets durch Hochwasser bedroht.

Region

Sankt Petersburg liegt im Nordwesten Russlands und gilt als Tor des Landes nicht nur zur Ostsee, sondern auch zum geographisch nicht fest umrissenen „Russkij sever“, dem „russischen Norden“ bis zum Weißen Meer.

Staatliche und administrative Zugehörigkeit

Sankt Petersburg ist ein Föderationssubjekt der Russländischen Föderation. Die Stadt ist Verwaltungssitz des Föderationskreises Nordwestrussland (Severo-zapadnyj federal’nyj okrug).Seit 2008 ist sie Sitz des Verfassungsgerichts Russlands.

3. Geschichte und Kultur

Gebräuchliche Symbolik

Das Wappen der Stadt zeigt zwei silberne gestürzte und gekreuzte Anker auf rotem Grund, von einem goldenen Zepter senkrecht überlegt. Auf dem Schild thront eine goldene Zarenkrone, hinter ihm kreuzen sich zwei russische Reichszepter mit dem russischen Doppeladler als Knauf. Das blaue Band des Ordens des heiligen Andreas umgibt den Schild. Die beiden Anker finden sich auch in der Flagge der Stadt.

Gebräuchliche und historische Beinamen

Auch in der Zeit, als die Stadt Leningrad hieß, nannten ihre Bewohner sie „Piter“, nach 1991 nicht selten „Leningrad“. Für ihre Leistungen und wegen des Schicksals ihrer Bewohner während der deutschen Belagerung im Zweiten Weltkrieg bekam sie am 1. Mai 1945 den Beinamen „Heldenstadt“ verliehen.

Gründung der Stadt im Großen Nordischen Krieg

Peter der Große eroberte das Gebiet des Newadeltas am Beginn des Großen Nordischen Krieges (1700–1721) von Schweden und ließ an diesem neuen russischen Zugang zur Ostsee 1703 eine Festung, die Peter-und-Paul-Festung, und eine Werft, die sogenannte Admiralität, errichten. Damit beerbte Sankt Petersburg nach 1703 Archangelsk als bedeutendste russische Hafenstadt, weil es sehr viel länger eisfrei war als die Stadt am Weißen Meer. Die Nutzung des Mündungsdeltas als Hafen erwies sich jedoch als nicht einfach: Die im Ladogasee entspringende Newa ist mit 40 Kilometern kurz, vergleichsweise schnell fließend und führt viele Sedimente mit sich. Geringer Tiefgang, Versandung und Hochwassergefahr waren und sind Probleme für Hafen und Stadt.

Schon im Jahr der Stadtgründung lief das erste große Handelsschiff in Sankt Petersburg ein. Der Große Nordische Krieg behinderte zunächst die Entwicklung des Handels: Im Sommer 1704 beschoss eine schwedische Flottille die auf Kotlin in Bau befindliche Festung Kronschlot, sodass der Zar wenig später befahl, diese gesamte, der Stadt vorgelagerte Insel zu befestigen und zum Militär- und Handelshafen auszubauen; aus ihr wurde 1723 Kronstadt (Kronštadt). In Sankt Petersburg begannen Binnen- und Seehandel langsam anzulaufen, im Schatten des Krieges und mit Unterstützung Peters I. Die Verlegung des Hofes und zentraler Regierungs- und Verwaltungsbehörden in die Stadt 1712, mit der eine starke Konzentration von Militär einherging, trug zur Entwicklung Sankt Petersburgs ebenso bei wie die beginnende Erschließung des nordwestrussischen Flussnetzes über ein Kanalsystem, für das zahlreiche Wasserbauingenieure angeworben wurden.

Wirtschaftlicher Aufstieg und Marinerüstung im 18. und 19. Jahrhundert

Die schnell wachsende Hauptstadt, deren Bewohner Peter zunächst mit Zwang an die Newa (Neva) beordert hatte, die dann aber bald auch freiwillig kamen, brauchte unter anderem Lebensmittel und Baumaterial; beides wurde über Fluss und Meer in die Stadt transportiert. 1722, im ersten Jahr nach Ende des Großen Nordischen Krieges, liefen mehr als hundert auswärtige Schiffe in Sankt Petersburg ein, davon 35 aus englischen Häfen, 22 aus den Niederlanden; noch davor rangierten jedoch die norddeutschen Häfen mit allein zwölf Schiffen aus Lübeck. Rohstoffe und Halbfertigprodukte, insbesondere Eisen, dominierten die Ausfuhr aus dem Petersburger Hafen im 18. Jahrhundert, während Fertig- und Luxusprodukte, nicht zuletzt für die Bedürfnisse des Hofes, die Einfuhr bestimmten.

Auch wenn der Anteil russischer Handelsfahrer im Lauf der nächsten Jahrzehnte in den Städten rund um die Ostsee bedeutend wachsen sollte, standen der Ostseehandel und auch der Güterumschlag in Sankt Petersburg nicht nur im 18. Jahrhundert im Zeichen der englischen Vorherrschaft. Die Ostseeflotte der russischen Kriegsmarine wurde jedoch erfolgreich aufgebaut. Die Admiralität baute Schiffe, die in den Kriegen mit Schweden ihre Hochseetüchtigkeit bewiesen. Die Festungsinsel Kronstadt im Finnischen Meerbusen avancierte in mehrfacher Hinsicht zum Tor Sankt Petersburgs: Hier wurde im 18. Jahrhundert bereits der Zoll für einfahrende Schiffe erhoben, und hier mussten insbesondere die großen englischen und niederländischen Handelsschiffe vor Anker gehen, um den regen Schiffsverkehr auf der Newa nicht zu behindern. Von Kronstadt aus wurden die Güter auf Frachtschiffen an der „Strelka“, der Spitze der Wasilij-Insel (Vasil’evskij Ostrov) zur Großen Newa hin, angelandet. Zwischen Lagerhäusern entstand hier auch die erste Börse der Stadt. Um 1840 zeigte sich, dass die alte Admiralität den Anforderungen der Hauptwerft einer weltweit agierenden Flotte nicht mehrgerecht wurde. Sukzessive wurde die Werft zum Marineministerium und administrativen Hauptquartier der Kriegsflotte umgebaut, während die neue Werft stadtauswärts verlegt wurde, wo sie noch heute als Werft für Neubauten und Schiffsreparaturen in Betrieb ist. Freilich war auch die neue Werft zentrumsnah. Matrosen und Werftarbeiter waren in der Stadt ebenso allgegenwärtig wie die Arbeiter auf den Schuten (kleine Lastschiffe ohne eigenen Antrieb) und Transportschiffen, die die Metropole über die Kanäle versorgten. Orte wie der berühmte Heumarkt (Sennaja Ploščad‘) konnten über die Fontanka, einen Nebenarm der Newa, mit Lebensmitteln versorgt werden. In einem Stadtviertel wie Neu-Holland, das im 18. Jahrhundert zwischen Krjukow- und Admiralitätskanal entstand, existierte nicht nur eine kleine Werft für Flussschiffe, es wurde auch zum zentralen Lagerort für Schiffsbauholz der Admiralität.

Politische Konflikte im 19. und 20. Jahrhundert

Im 19. Jahrhundert wurde Sankt Petersburg zu einem maßgeblichen Ort politischer Konflikte im Zarenreich. Im Dekabristenaufstand im Dezember 1825 probten adlige Verschwörer einen Aufstand mit dem Ziel, in Russland eine Verfassung einzuführen. 1881 ermordete die Terrororganisation „Volkswille“ Zar Alexander II. (1818–1881) und wollte so eine Revolution entfachen – zunächst ohne unmittelbaren Erfolg.

Seit der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert beteiligten sich zunehmend auch Arbeiterinnen und Arbeiter sowie Matrosen und Soldaten an der zunächst ökonomisch motivierten Politisierung des Lebens in der Stadt. In der Russischen Revolution von 1905 waren sie beim Marsch auf den Winterpalast am 9. Januar unter den Opfern dieses sogenannten Petersburger Blutsonntags. Die Matrosen hatten die Niederlagen des Russisch-Japanischen Krieges 1904/1905 und des Ersten Weltkrieges am eigenen Leib erfahren und gehörten als meuternde Flotte auch zu denjenigen Gruppen, die in der Februarrevolution 1917 Zar Nikolaus II. (1868–1918) zur Abdankung zwangen. Sie verhalfen im Oktober 1917 dem Putsch der Bolschewiki zum Erfolg, indem sie sich den Roten Garden anschlossen und Anfang 1918 die gewählte konstituierende Versammlung Russlands im Taurischen Palais auflösten. Viele sahen jedoch ihre Vorstellungen von einer Revolution nicht verwirklicht, und so erhoben sich zu Beginn des Jahres 1921 die Matrosen von Kronstadt, die 1918/1919 im Bürgerkrieg die konterrevolutionäre „weiße“ Offensive gegen Petrograd zurückgeschlagen hatten, um das Räteprinzip durchzusetzen. Erst nach ihrer Niederlage kontrollierten die Bolschewiki die Stadt komplett.

Im Zweiten Weltkrieg konnte die Rote Armee Kronstadt gegen anrückende deutsche Flottenverbände halten. Sie schützte so Leningrad während der todbringenden fast 900-tägigen Blockade durch deutsche Truppen und ihre Verbündeten vom September 1941 bis in den Januar 1944 vor deutschen Angriffen von der Meerseite.

Wirtschaftliche Entwicklung im 20. Jahrhundert

Nach dem Verlust der politischen Bedeutung im Zuge der Oktoberrevolution hatte Leningrad Mühe, an seine Tradition als Handelshafen wieder anzuknüpfen. Dies hatte sich schon vor dem Ersten Weltkrieg abgezeichnet, als der Anteil an der Abwicklung russischer Exporte über See von 38 Prozent im Jahr 1832 auf 15 Prozent im Jahr 1902 zurückgegangen war. Konkurrenz mit Odessa/Odesa und Riga/Rīga etwa, aber auch der Ausbau des Bahnnetzes hatten dazu beigetragen. Nach 1945 wurden die Häfen der baltischen Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen und des Kaliningrader Gebietes in ihrer Funktion, damit teilweise in Konkurrenz zu Leningrad, auf die zentral gelenkte Wirtschaft der Sowjetunion ausgerichtet.

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg bezog man in die notwendige Erweiterung der Stadt neben Wohn- auch neue Hafenquartiere ein. Seit dem Generalplan von 1966 projektierte man im Westen der Wasilij-Insel neue Stadtviertel am Meer, die vor Hochwasser sicher sein und zugleich mit einem neuen Hafen auch ein zeitgemäßes Gesicht des sozialistischen Leningrad bieten sollten. Als Ergebnis wurde 1982 ein Passagierschiffhafen für Kreuzfahrtschiffe eingeweiht. Er wurde bis in das Jahr 2008 auch um Containerterminals erweitert. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Unabhängigkeit der baltischen Staaten, schließlich ihrer Integration in die Europäische Union hat Sankt Petersburg für Russland in seiner Bedeutung als Hafen wieder gewonnen. Heute ist der „Seehafen von Sankt Petersburg“ der größte unter den Häfen am Finnischen Meerbusen, liegt aber separiert vom historischen Stadtkern.

In gewisser Weise ist diese vom Wasser geformte Stadt heute durch eine Abwesenheit des Hafens gekennzeichnet, auch wenn zahlreiche Straßennamen im Zentrum noch an die maritime Vergangenheit erinnern. Von Sankt Petersburgs knapp fünf Millionen Einwohnern sind nur einige zehntausend im Hafensektor selbst beschäftigt. Zum Selbstbild der Stadt und ihrer Bewohner gehören freilich Seehandel und Marine weiterhin. Die Feierlichkeiten zum jedes Jahr Ende Juli begangenen „Tag der Flotte“ fallen in Sankt Petersburg besonders üppig aus, die Tradition der russischen Präsenz an der Ostsee von Peter dem Großen und den Anfängen der Stadt über die Sowjetzeit bis in die Gegenwart wird beschworen.

Bevölkerung

Sankt Petersburg war seit seiner Gründung 1703 eine multiethnische, multireligiöse und multikonfessionelle Stadt. Hier siedelten nicht nur Russen, die in den ersten Jahren der Stadt dorthin abgeordnet wurden, sondern zunächst vor allem finno-ugrische Ethnien der Umgebung. Mit dem Wachstum der Stadt strömten zahlreiche Handwerker, Tagelöhner, Kaufleutenach Sankt Petersburg, aber auch Menschen, die in der Staatsverwaltung gebraucht wurden und in den Garnisonen der Stadt dienten. Von Beginn an spielten Deutsche eine nicht unwichtige Rolle: Sie zogen seit dem großen Anwerbungsmanifest Peters I. 1702 aus dem Reich nach Sankt Petersburg. Darüber hinaus migrierten zahlreiche Deutschbalten nach dem Frieden von Nystad (1721) aus den im Großen Nordischen Krieg Russland angegliederten Provinzen Livland und Estland in die Hauptstadt und kamen in wichtige Positionen in Verwaltung, Wissenschaft, Kunst und Musik sowie im Handwerk.[1]

Während der Regierungszeit Peters des Großen siedelten sich in der Residenzstadt vor allem Handwerker an, die den steigenden Bedarf des Adels nach Luxuskleidung, Möbeln und Geräten befriedigen konnten oder die Berufe ausübten, die in Russland zu diesem Zeitpunkt noch nicht vertreten waren (z. B. Uhrmacher). Um 1720 waren 13 Prozent aller in Zünften organisierten Handwerker Ausländer, während der Anteil der Fremden (inozemcy) an der Gesamtbevölkerung der Stadt bei sieben Prozent lag. Für die gesamte Regierungszeit Peters I. sind die Namen von 172 Holländern, 138 Deutschen (davon 84 aus Hamburg, 10 aus Lübeck) und 92 Engländern nachgewiesen.

Im 19. Jahrhundert kamen verstärkt Arbeiter aus bäuerlichen Milieus aus dem gesamten russländischen Imperium in die Metropole an der Newa. So fanden sich in der Stadt vor und nach der Revolution von 1917 neben Russen auch Ukrainer, Deutsche, Esten Letten, Polen, Litauer, Juden und andere Völkerschaften Russlands beziehungsweise der Sowjetunion. Interessanterweise existieren für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg differenziertere Zahlen:

18691910
Russen555.0001.568.000
Belorussen3.00070.000
Ukrainer50017.000
Juden6.70035.100
Esten4.00023.400
Letten2.80018.500
Finnen18.00018.000
Schweden5.1003.000
Polen17.40065.000
Litauer60011.500
Deutsche42.50043.200
Franzosen3.1003.700
Engländer2.1002.200
Tataren2.0007.300
Übrige4.20017.800
Gesamt667.0001.905.600[2]

Unter den Ausländern in der Stadt hatten die Deutschen bis zum Ersten Weltkrieg den zahlenmäßig größten Anteil. Sie lebten im 18. Jahrhundert vor allem auf der Admiralitätsseite der Newa, aber auch auf der gegenüberliegenden Seite, der Wasilij-Insel. In beiden Stadtteilen wurden den fremden, also nichtorthodoxen Konfessionen angesichts der Zahl der Gläubigen eigene Friedhöfe zugewiesen. 1789 sollen in Sankt Petersburg 18.000 Deutsche gewohnt haben, die damit etwa 8 Prozent der Einwohnerschaft bildeten. 1818 waren es sogar 24.000 Deutsche. Bei den Bevölkerungszählungen der nächsten Jahrzehnte und bei der ausgezeichnet dokumentierten Volkszählung von 1897 wurde nach der Muttersprache gefragt, sodass die Statistik nicht zwischen Deutschen und deutschsprachigen Juden, Finnen, Esten oder Letten trennte. Während die absolute Zahl mit um die 50.000 deutschsprachigen Einwohnern etwa gleich blieb, sank ihr Anteil an der rasch wachsenden Bevölkerung der Stadt jedoch bis auf etwa 2,6 Prozent bei der Zählung 1910. Rund ein Drittel aller Ausländer in Sankt Petersburg waren bis zur Jahrhundertwende Staatsbürger des Deutschen Reiches, doch wurde deren Zahl bis zum Jahr 1910 geringer und belief sich dann nur noch auf etwa 1.600 Menschen. Der Anteil der Deutschen aus den baltischen Provinzen nahm ebenfalls ab, und zwar von rund 10.000 im Jahr 1869 auf etwa 6.000 im Jahr 1910.

Erster Weltkrieg und Revolution bedeuteten für die Petersburger Deutschen den großen Exodus. Im sowjetischen Leningrad waren Organisationsformen nach religiösen oder gar ethnischen Prinzipien nicht die Politik der Bolschewiki. Für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg kann man erst recht nur noch in einem sehr begrenzten Maße von einer Geschichte der Deutschen in Petrograd/Leningrad sprechen. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion und der Belagerung Leningrads, die den Bewohnerinnen und Bewohnern der Stadt unendliches Leid brachte, war eine Herausstellung deutscher Identität und deutschkonnotierter Erinnerungsorte kaum mehr möglich. Die wenigen noch in der Stadt lebenden Leningrader Deutschen waren noch vor oder gleich nach der Blockade deportiert worden.

Zu den Petersburger Deutschen im weiteren Sinne zählen auch die Bewohner der bäuerlich geprägten Kolonien um die Stadt herum. Sie waren dem Anwerbungsmanifest Katharinas II. (1729–1796) aus dem Jahre 1762 gefolgt, sind aber in Struktur und Kultur eher mit anderen deutschen Kolonisten im Zarenreich vergleichbar und hatten wenig Verbindung zum urbanen Raum der pulsierenden Metropole.

Die Gesamtbevölkerungszahlen der Stadt basieren für das 18. Jahrhundert auf Schätzungen, die in der Historiographie vorgenommen worden sind. Auffällig sind das starke Wachstum Sankt Petersburgs in der Phase der Industrialisierung, die Zahl der Flüchtlinge in der Stadt während des Ersten Weltkrieges sowie die Verluste durch Revolution (1917) und Bürgerkrieg (bis 1922) wie auch die Auswirkungen der regionalen Neuordnung 2002.

JahrEinwohner (Stadt)
172575.000
1750150.000
1800300.000
1846336.000
1869667.000
18971.264.900
19101.905.000
19152.318.600
1920722.000
19362.739.800
19442.559.000
19592.899.955
(mit Vororten: 3.321.196)
19894.460.424
(mit Vororten: 5.023.506)
20024.661.219
20104.879.566[3]

Deutsche in Wirtschaft und Gesellschaft

Zarin Anna Ivanovna (1693–1740) warb, ihrer Jagdleidenschaft folgend, Jäger und Forstexperten vor allem aus Sachsen an. Während ihrer Regierungszeit (1730–1740), die von der russischen Historiographie negativ als Zeit der „Deutschenherrschaft“ charakterisiert wurde, erlangten der Bochumer Pastorensohn Andrej Ivanovič (Heinrich Johann Friedrich) Ostermann (1687–1747), der aus dem Oldenburgischen stammende Kanalbauexperte Burkhard Christoph von Münnich (1683–1767) und der kurländische Adlige Ernst Johann von Biron (1690–1772) als Favoriten der Kaiserin überragende Bedeutung. Eine solch starke Stellung deutschsprachiger Favoriten bei Hofe sollte einmalig bleiben. Auch nahm im Verlauf der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Bedeutung deutschsprachiger Fachkräfte für den Hof ab, weil sich die französische Hofkultur in einem hohen Maße durchsetzte. Dies änderte nichts daran, dass bei Hofe, in den Garderegimentern der Stadt und im Verwaltungsapparat Deutsche aus dem Reich und dem Baltikum Karriere machten und stark vertreten waren. Der in Hanau geborene Georg Ludwig Graf von Cancrin (1774–1845) war beispielsweise von 1823 bis 1844 russischer Finanzminister (und heiratete in den russischen Hochadel ein). Konstantin Alexander Karl Wilhelm Christoph von Benckendorff aus Reval/Tallinn (1781–1844) avancierte als General zum Chef der 1826 als „III. Abteilung der eigenen Kanzlei seiner Kaiserlichen Majestät“ gegründeten Geheimpolizei. Solche Karrieren waren selbst in den Zeiten eines verstärkten russischen Nationalismus seit den 1870er Jahren keine Seltenheit. Erst im Vorfeld des Ersten Weltkrieges wurde in der Öffentlichkeit der Vorwurf möglicher Illoyalität gegenüber dieser Personengruppe laut. Dies betraf auch die aus Deutschland angeheirateten Angehörigen des Zarenhauses , die in der Geschichte des Russländischen Reiches seit der Zeit Peters I. zeitweise überragende Bedeutung erlangten, zuvörderst die Anhalt-Zerbster Prinzessin Sophie Friederike, die als Katharina II. (die Große) 34 Jahre über Russland herrschte.

In der Oberschicht der Stadt waren die Deutschen überproportional vertreten: 1897 gehörte ein Drittel der Deutschen dem Adel und der rechtlichen Kategorie der sogenannten Ehrenbürger an. Ein weiteres Drittel wurde zur breiten Mittelschicht, dem „meščanstvo“, gezählt;[4] dies waren vor allem Handwerker und Kleinhändler. Das letzte Drittel gehörte zur Gruppe der Hausangestellten (auch Erzieher und Lehrer) und zu den städtischen Unterschichten. Der Bildungsgrad der Deutschen war überdurchschnittlich hoch, ebenso wie daraus folgend ihre Repräsentanz in Bildungsberufen, in der Kunstwissenschaft, in Erziehung, Gesundheitswesen und Medizin.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war zum Beispiel das Bankhaus der Familie Stieglitz führend. Ludwig Stieglitz (1779–1843), 1803 aus dem hessischen Arolsen eingewandert, gelang es zum Hofbankier aufzusteigen und russische Anleihen bei Banken in London und Amsterdam unterzubringen. Er war an zahlreichen Gesellschaften beteiligt, unter anderen der Petersburg-Lübecker Dampfschifffahrtsgesellschaft. In den Jahren 1840–1850 finanzierte das Bankhaus Stieglitz den Eisenbahnbau von Sankt Petersburg nach Moskau/Moskva. Ludwigs Sohn, Alexander Baron Stieglitz (1814–1884), avancierte zum Chef der russischen Reichs-Staatsbank und betätigte sich als Mäzen. Einen besonderen Platz in der Petersburger Industrie nahm die Berliner Firma „Siemens und Halske [russisch: Galske]“ ein: Mitte des 19. Jahrhunderts begannen die Brüder Siemens das Telegrafennetz in Russland zu bauen. Der Vertreter dieser Firma in Sankt Petersburg war Carl von Siemens (1929–1906), der die russische Staatsangehörigkeit annahm und in den Erbadel aufstieg. Unter seiner Leitung wurde eine ganze Reihe von Telegrafenleitungen eingerichtet, darunter Sankt Petersburg–Kronstadt (erstmals in der Welt wurde dabei ein Unterseekabel verlegt). 1883 versorgte diese Firma den Newski-Prospekt (Nevskij Prospekt), dann den Winterpalast, das Konservatorium und andere Gebäude mit elektrischem Licht.

Aber auch die mittelständischen deutschen Handwerker konnten sich durch Spezialisierung eine starke Position erarbeiten. Ihre Handwerksbetriebe bildeten sich einerseits dort, wo die meisten Deutschen wohnten, aber je nach Sparte waren sie auch in der ganzen Stadt vertreten. Dies betraf insbesondere die Metzgereien beziehungsweise Wurstmachereien und zu einem großen Teil das Bäckerhandwerk, das freilich durch russische Bäckereiketten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter Druck geriet. Die vier größten Bierbrauereien der Metropole waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in deutscher Hand. Auf dem Newski-Prospekt, der sich zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zur urbanen Pracht- und Flaniermeile entwickelte, war zu dieser Zeit noch jedes vierte Ladengeschäft in deutscher Inhaberschaft. Uhren und Juwelen, Schreibwaren und Werkzeuge, Grammophone und Schuhe wurden für eine wohlhabende Kundschaft gehandelt.

Schneller als die überwiegend in Zünften organisierten Handwerker assimilierten sich die Angehörigen der Oberschicht, die im imperialen Adel des Kaiserreiches aufgingen. 1869 gaben mehr als 3.000 Deutsche Russisch als Muttersprache an. Deutsche heirateten sehr oft gemischt ethnisch und gemischt konfessionell, und so akkulturierten sich insbesondere neu in den Adel Aufgestiegene sehr schnell.

Das 19. Jahrhundert war die große Zeit nicht nur der deutschen Vereine und Gesellschaften. Ende des 18. Jahrhunderts entstand etwa die „Deutsche Kaufmannsgesellschaft für Bälle“, deren Mitglieder nicht nur Deutsche, sondern auch andere „Tanzfreunde“ werden konnten. Die Gesellschaft „Palme“ verschrieb sich seit der Wende zum 19. Jahrhundert dem Ziel, deutschen Handwerkern aus den sogenannten Ostsee-Provinzen des Russländischen Reiches Hilfe zu leisten. Erholung, Geselligkeit und Bildung sollten vor den Verlockungen der Metropole bewahren. Renommiert war der 1772 gegründete „Deutsche Klub“, der bis 1914 existierte; eine Mitgliedschaft im ausschließlich Männern vorbehaltenen Klub war auch für russische Adlige Prestigesache. Freilich war es für deutsche und russische Adlige ebenso wichtig, Mitglied im „Englischen Klub“ zu sein. Mit der Gegnerschaft zwischen Deutschen und Russen im Ersten Weltkrieg wurden die meisten Vereinigungen ebenso verboten wie die deutsche Sprache als Kommunikationsmittel in Wort und Schrift. Nur wenige Vereinigungen, wie die traditionsreiche „Deutsche Medizinische Gesellschaft“, hielten auch nach der Oktoberevolution noch bis in die 1920er Jahre Veranstaltungen ab, die aber sukzessive verboten wurden.

Religions- und Kirchengeschichte

Sankt Petersburg war von Beginn an eine von der Orthodoxie als Mehrheitskonfession geprägte Stadt. 1713 wurde mit dem Alexander-Newski-Kloster (Aleksandro-Nevskaja lavra) ein geistliches Zentrum ersten Ranges geschaffen, 1724 wurden die Reliquien des heiligen Alexander Newski dorthin überführt. Der Petersburger Metropolit nahm hier seinen Sitz. Weitere bedeutende Kirchenbauten, etwa die Kirche „Nikolaus der Seefahrer“ (Nikol’skij morskoj sobor), die Isaakskathdrale (Isaakevskij sobor) am Senatsplatz oder die Kasaner Kathedrale (Kazanskij sobor) am Newski-Prospekt, prägen das Stadtbild seit dem 18. Jahrhundert. Aber so wie die Bevölkerung multiethnisch zusammengesetzt war, so war sie auch in religiöser Hinsicht heterogen. Schon in den ersten Jahrzehnten der Existenz der Stadt bildeten sich Gemeinden anderer christlicher Konfessionen, nach den Teilungen Polens auch jüdische Gemeinden, die in sich sprachlich und in ihren Riten stark differenziert waren, schließlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch muslimische Gemeinden. Die vom Emir von Buchara finanzierte Sankt Petersburger Moschee war bei ihrer Eröffnung 1913 die größte Moschee in Europa.

Den Protestanten in Sankt Petersburg standen seit dem 18. Jahrhundert neun Kirchen zur Verfügung, von denen sechs den Deutschen vorbehalten waren, während die anderen drei mit Letten und Esten gemeinsam besucht wurden. Die größte der Gemeinden ist die Petri-Gemeinde mit einer Vorgängerbauten folgenden Kirche (gebaut 1833–1838 von Alexander Brüllow) auf dem Newski-Prospekt, die 3.000 Sitzplätze fasste. Zu dieser Gemeinde gehörten die evangelischen Verwandten des Kaiserhauses, der deutschbaltische Adel sowie zahlreiche Großkaufleute. Nach der Oktoberrevolution wurde die Kirche im Rahmen der antireligiösen Politik verstaatlicht, 1937 umfunktioniert und ab 1962 als Schwimmbad genutzt. Seit 1993 ist sie die Bischofskirche der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Russland, der Ukraine, in Kasachstan und Mittelasien und die Kirche der deutschen evangelisch-lutherischen St.-Annen- und St.-Petri-Gemeinde.

Verwaltung

Sankt Petersburg hatte von Beginn an einen Generalgouverneur als Haupt. Heute ist die Stadt ein eigenes Föderationssubjekt, das sich seit 2002, als Eingemeindungen vorgenommen wurden, in 18 „Rajon“ genannte Stadtbezirke gliedert, die ihrerseits in insgesamt 111 Verwaltungseinheiten der nächsten Ebene unterteilt sind. Im Zuge der Stadtreform Peters I. wurde ein Magistrat geschaffen, dessen Aufgabe aber vornehmlich die Steuererhebung war. Erst im Zuge der Städtereform Alexanders II. 1870 kam es zu einer Selbstverwaltung; einer nach dem Zensusprinzip gewählten Stadtduma wurde die Verantwortung für städtische Aufgaben übertragen. Nach 1917 erfolgte eine formale Verwaltungsorganisation gemäß dem Räteprinzip.

Architektur und städtebauliche Entwicklung

Im 18. Jahrhundert wurde die Stadt zu einer Residenz mit prachtvollen Bauten wie dem Winterpalast. Auch der Adel errichtete am Ufer der Großen Newa, aber auch entlang der „großen Perspektiven“, wie dem Newski-Prospekt, zahlreiche Palais im Stile des Barock und später des Klassizismus. Zusammen mit dem Kranz von Sommerresidenzen der Herrscherinnen und Herrscher des Imperiums um die Stadt herum (Zarskoje Selo/ Carskoe Selo, Peterhof/Petergof, Pawlowsk/Pavlovsk, Gatschina/Gatčina, Oranienbaum) bilden sie ein einzigartiges architektonisches Ensemble, dessen Dominanz auch in der sowjetischen Zeit nicht gebrochen werden konnte.

Unter anderem die Industrialisierung machte aus der ersten Stadt des Imperiums aber auch eine der Arbeiter, Soldaten und Matrosen. Zu den die Flussläufe und Kanäle säumenden Prachtfassaden der Paläste und Verwaltungsbauten kamen zunehmend Massenwohnquartiere, kleinere und größere Werften und Industriebetriebe. Die Wasserverschmutzung wurde im Verlaufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für eine Bevölkerung zum Problem, die sich bis um das Jahr 1900 aus der Newa versorgte und ihre Abwässer in das Flusssystem einleitete.

Kulturelle Institutionen, Bildung und Wissenschaft

Sankt Petersburg war durch seine Position als Hauptstadt nach 1712 Standort von wichtigen Kultur- und Bildungsinstitutionen. Mit der Gründung einer Akademie der Wissenschaften 1725, die von Peter I. konzipiert, unter Katharina I. eröffnet wurde, kamen zahlreiche bedeutende Wissenschaftler aus dem deutschsprachigen Raum in die Stadt.[5] Der berühmte aus Tübingen stammende Naturforscher Johann Georg Gmelin (1709–1755) und der im westfälischen Herford geborene bedeutende Historiker Gerhard Friedrich Müller (1705–1783) können als prominente Beispiele gelten. 1727 reisten die ersten Setzer und Drucker aus den deutschen Ländern nach Petersburg, die die akademische Druckerei ausbauten. Die deutschen und schweizerischen Gelehrten bildeten bald einen russischen wissenschaftlichen Nachwuchs heran, behielten aber über das ganze 18. und frühe 19. Jahrhundert hinweg eine bedeutende Position im Wissenschaftsbetrieb der Stadt. Deutschsprachige Hauslehrer und Privatschulen bereiteten vor allem die Söhne des Adels auf das Studium und den Staatsdienst vor.

Neben der Akademie der Wissenschaften mit ihren historischen Gebäuden an der Newa ist die Kunstkammer Peters I. ebenso zu nennen wie die 1755 gegründete Akademie der Künste. Zusätzlich zu einer der Akademie angegliederten, wenig florierenden Universität existierte seit 1787 ein imperiales Lehrerbildungsinstitut und ab 1819 eine eigenständige Universität. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts trat eine ganze Reihe von technischen und medizinischen Instituten hinzu, die in der sowjetischen Zeit ergänzt wurden und nach 1991 teilweise den Rang einer Universität erhielten. Die Stadt zog im 19. Jahrhundert zahlreiche deutschbaltische Studenten an, die im imperialen Apparat Karriere machen wollten. Sankt Petersburg ist auch heute noch eine Stadt der Studierenden.

Es existiert eine historisch gewachsene Landschaft an Spitzeninstitutionen der Kultur: Hierzu gehören die 1795 gegründete Nationalbibliothek und das bereits zur Regierungszeit (1742–1761) Elisabeths (1709–1761) erbaute erste Gebäude des Mariinskij-Theaters. Auf den Theaterbühnen der Stadt sowie im Kleinen Opernhaus waren im 19. Jahrhundert auch temporär deutsche Theatertruppen zu sehen. Die Eremitage (Ėrmitaž), die zur Zeit Katharinas II. gegründete Kunstsammlung, die heute die Alte und Neue Eremitage sowie den gesamten Winterpalast umfasst, und das Russische Museum (Gosudarstvennyj Russkij muzej) im Michaels-Palais beherbergen Sammlungen von Weltgeltung.

Eine erste deutsche Schule, die im 18. und 19. Jahrhundert erhebliches Renommee erlangte, entstand im Rahmen der Petri-Gemeinde. 1912 hatte die Petrischule etwa 1.600 Schüler, davon etwa 25 Prozent Russen. Finanziert wurde sie bis dahin zu einem Teil durch die deutsch-lutherische Gemeinde der nahegelegenen St.-Petri-Kirche. Im Zuge zunehmender Spannungen zwischen Russland und Deutschland mit Beginn des Ersten Weltkriegs wurde die Unterrichtssprache der Schule zwangsweise von Deutsch auf Russisch umgestellt. Zwar blieb die deutsche Sprache weiterhin einer der Schwerpunkte der Petrischule, zahlreiche Lehrer und Schüler mussten durch die Umstellung aber die Schule verlassen. Während der Zeit der Sowjetunion wurde die Petrischule umbenannt, erhielt aber 1996 ihren historischen Namen wieder zurück. Sie hat heute etwa 500 Schüler. Die Petrischule wurde zum Ausgangspunkt eines differenzierten und verzweigten deutschsprachigen Schulwesens mit Elementar- und weiterführenden Schulen, das nach der Oktoberrevolution weitgehend verschwand.

Deutschsprachige Presse

Die deutschsprachige Sankt Petersburgische Zeitung ist die älteste Zeitung Sankt Petersburgs und zweitälteste Zeitung ganz Russlands (nach den Vedemosti) und wurde als Wochenzeitung gegründet. Ab 1831 erschien sie als Tageszeitung. Bis 1874 war sie im Besitz der Russischen Akademie der Wissenschaften, dann des Ministeriums für Volksbildung. Beide Institutionen verpachteten die Zeitung: Unter der Redaktion (1852–1874) des Hofrates Friedrich Clemens Meyer von Waldeck (1824–1899) wurde die Zeitung modernisiert. 1878 wurde sie an den deutschbaltischen Journalisten Paul von Kügelgen (1843–1904) verpachtet. Die Zeitung wurde nun zum führenden deutschsprachigen Organ der Gebildeten im Ostseeraum. Nach seinem Tod führten seine Kinder Paul Siegwart von Kügelgen (1875–1952) und Carlo von Kügelgen (1876–1945) das Blatt fort.

An der Jahreswende 1914/1915 stellte die Sankt Petersburgische Zeitung ihr Erscheinen ein. Zu ihren Konkurrenzblättern im späten 19. Jahrhundert zählte der Sankt Petersburger Herold. Die St. Petersburgische Zeitung erscheint seit 1991 monatlich mit einer Auflage von etwa 7.000 Exemplaren. Sie wendet sich zweisprachig an Touristen, Geschäftsleute, Russlanddeutsche sowie an Deutschland interessierte Petersburger.

Gedächtnis- und Erinnerungskultur

In der Gedächtnis- und Erinnerungskultur werden einerseits Leid und Bedrückung mit den Deutschen verbunden. Die fast 900 Tage dauernde Belagerung durch deutsche Truppen und ihre Verbündeten während des Zweiten Weltkrieges sind zentraler Bestandteil der Erinnerung, der bislang noch keinen angemessenen musealen Ort im Stadtbild gefunden hat.

Die Erinnerung an die Petersburger Deutschen ist dagegen überwiegend positiv. Ihr Wirken für das russländische Imperium, in Wirtschaft und Gesellschaft wird gewürdigt, was etwa in den Resakralisierungen der St.-Petri-Kirche auf dem Newski-Prospekt und der St.-Annen-Kirche an der Kiročnajaulica, wo auch Raum für thematisch einschlägige Wechselausstellungen ist, zum Ausdruck kommt. Nachdem in der sowjetischen Zeit, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg, die Deutschen aus der Stadtgeschichte herausgeschrieben wurden, kehrten sie im Zuge der reichen Literaturproduktion aus Anlass des 300. Geburtstages der Stadt gleichsam wieder zurück. Seit den 1990er Jahren finden regelmäßig wissenschaftliche Konferenzen zu den „Deutschen in Sankt Petersburg“ statt, die von russischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern organisiert werden. Sie werden somit in ein großes imperiales Narrativ über Sankt Petersburg integriert, das einerseits die multiethnische und multikonfessionelle Vergangenheit betont, zugleich aber auch die Tendenz verstärkt, alles positiv in ein gesamtrussisch-nationales Narrativ einzubeziehen, was zur Grandeur Russlands beigetragen hat. Hierzu gehören auch die Ethnien der Stadt, deren historisches Zentrum seit 1990 UNESCO-Weltkulturerbe ist.

4. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Pëtr E. Bucharkin(Hg.): Triveka Sankt-Peterburga. Ėnciklopedija v trechtomach [Drei Jahrhunderte Sankt Petersburg. Eine Enzyklopädie in drei Bänden]. Sankt-Peterburg 2001ff.
  • Margarete Busch: Deutsche in St. Petersburg 1865–1914. Identität und Integration. Essen 1995.
  • Irina B. Čerkaz’janova: Leningradskie nemcy. Cud’ba voennych pokolenij [Leningrader Deutsche. Das Schicksal der Kriegsgeneration]. Sankt-Peterburg 2011.
  • Dittmar Dahlmann, Klaus Heller, Tamara Igumnowa, Jurij A. Petrow, Kai Reschke (Hg.): „Eine große Zukunft. Deutsche in Rußlands Wirtschaft“. Begleitband zur Ausstellung, deutsche und russische Fassung. Berlin 2000.
  • Erich Donnert: St. Petersburg. Eine Kulturgeschichte. Köln u. a. 2002.
  • Jörg Ganzenmüller: Das belagerte Leningrad 1941–1944. Eine Stadt in den Strategien von Angreifern und Verteidigern. Paderborn 2005.
  • Peter Hoffmann: Sankt Petersburg. Stadt und Hafen im 18. Jahrhundert. Berlin 2003.
  • Natalija V. Juchneva: Ėtničeskij sostav i ėtnosocial’naja struktura naselenija Peterburga. Vtoraja polovina XIX – načalo XX v. Statističeskij analiz [Ethnische Zusammensetzung und ethnosoziale Struktur der Bevölkerung Petersburgs. Zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts – Beginn des 20. Jahrhunderts. Statistische Analyse]. Leningrad 1984.
  • Valentin M. Koval’čuk (Hg.): Sankt-Peterburg. 300 let istorii [Sankt Petersburg. 300 Jahre Geschichte]. Sankt-Peterburg 2003.
  • Jan Kusber: Kleine Geschichte St. Petersburgs. Regensburg 2009.
  • W. Bruce Lincoln: Sunlight at midnight. St. Petersburg and the rise of modern Russia. New York 2002.
  • Ute Schneider: Die St. Petersburger Zeitung in den Jahren 1888–1913. Eine Quelle zum Buch- und Bibliothekswesen im St. Petersburg der Jahrhundertwende. In: Gutenberg-Jahrbuch 1988, S. 359–377.
  • Karl Schlögel, Frithjof Benjamin Schenk, Markus Ackeret (Hg.): Sankt Petersburg. Schauplätze einer Stadtgeschichte. Frankfurt/Main 2007.
  • Karl Schlögel: Petersburg. Das Laboratorium der Moderne 1909–1921. 3. Aufl. Frankfurt/Main 2009.

Weblink

Anmerkungen

[1] Auch zum Folgenden: Gerd Stricker (Hg.): Russland. Berlin 1997 (Deutsche Geschichte im Osten Europas), S. 36–42; Kusber: Kleine Geschichte, S. 16–25.

[2] Revunenkova u.a. (Hg.): Mnogonacional’nyj Peterburg. Istorija, Religija [Multinationales Petersburg. Geschichte, Religion]. Sankt-Peterburg 2002, S. 26f.

[3] Bevölkerungszählung von 2010 auf: www.gks.ru/free_doc/new_site/perepis2010/croc/Documents/Vol1/pub-01-05.pdf (Abruf 02.11.2014); für die (ungefähren) Zahlen zum 18. und 19. Jahrhundert vgl. Semenova: Byt‘ i naselenieSankt-Peterburga (XVIII vek) [Alltagsleben und Bevölkerung Sankt Petersburgs (18. Jahrhundert)]. Moskva, Sankt-Peterburg 1998, S. 36–49 und passim; Revunenkova u.a. (Hg.):Mnogonacional’nyj Peterburg [Multinationales Petersburg] (Anm. 2), S. 23, 56, 183–185. Für das 20. Jahrhundert vgl.: Thomas Bohn: St. Petersburg/Leningrad – Bauernmetropole und industrielle Großstadt. In: Helmuth Hubel, Joachim von Puttkamer, Ulrich Steltner (Hg.): Ein europäisches Russland oder Russland in Europa? – 300 Jahre St. Petersburg. Baden-Baden 2004 (Jenaer Beiträge zur Politikwissenschaft 9), S. 125–140, hier S. 127f.

[4] Revunenkova (Hg.):Mnogonacional’nyj Peterburg [Multinationales Petersburg] (Anm. 2), S. 84–88.

[5] Dazu beispielsweise Peer Hempel: Deutschsprachige Physiker im alten Sankt Petersburg. Georg Parrot, Emil Lenz und Moritz Jacobi im Kontext von Wissenschaft und Politik. München 1999 (Schriften des Bundesinstituts für Ostdeutsche Kultur und Geschichte 14).

Zitation

Jan Kusber: Sankt Petersburg/Sankt-Peterburg. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2015. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32260 (Stand 18.03.2015).

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(Stand: 19.01.2024)  | 
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