Lublin

1. Toponymie

Amtliche Bezeichnung

Lublin

Anderssprachige Bezeichnungen

lat. Lublinum; lit. Liublinas; russ. Ljublin

Etymologie

Um die Herkunft des Namens ranken sich verschiedene Legenden. Sprachwissenschaftler führen "Lublin" auf einen Gründer oder Besitzer namens "Lubel" oder "Lubla" zurück.

2. Geographie

Lage

Lublin liegt im Osten Polens, etwa 90 km von der ukrainischen Grenze entfernt, 170 km südöstlich von Warschau/Warszawa auf 51° 14' nördlicher Breite, 22° 34' östlicher Länge.

Topographie

Die größte polnische Stadt östlich der Weichsel (Wisła) liegt am nördlichen Rand der Lubliner Hochebene auf mehreren Hügeln am Fluss Bystrzyca. Die Region Lublin (poln. Lubelszczyzna) gilt als "Tor zur Ukraine".

Staatliche und administrative Zugehörigkeit

Polen. Die kreisfreie Stadt Lublin ist die Hauptstadt der Woiwodschaft Lublin und Sitz der römisch-katholischen Erzdiözese Lublin.

3. Geschichte und Kultur

Gebräuchliche Symbolik

Das Stadtwappen zeigt einen auf den Hinterbeinen stehenden Ziegenbock mit einem Weinstock auf grünem (unten) und rotem (oben) Grund.

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Blick auf die Lubliner Altstadt
(Foto: lublin.travel/).

Gebräuchliche Beinamen

Auf das Wappen geht die Bezeichnung "Ziegenstadt" (kozi gród) zurück. Als jüdische Stadt erhielt Lublin im 17./18. Jahrhundert den Ehrentitel "Mutter der Städte" und wurde im 19. Jahrhundert auch als "polnisches Jerusalem" bezeichnet.

Archäologische Bedeutung

Archäologische Funde im Stadtgebiet lassen sich neolithischen Kulturen zuordnen.

Mittelalter

Der Hügel Czwartek war bereits im frühen Mittelalter besiedelt. Lublin wird erstmals 1198 in Wincenty Kadłubeks Chronika Polonorum erwähnt. Władysław I. Ellenlang (Władysław I Łokietek) verlieh der Stadt 1317 das Magdeburger Stadtrecht. Nach der Zerstörung durch die Tataren 1341 ließ König Kasimir der Große (Kazimierz III Wielki) eine Stadtbefestigung anlegen. 1386 wurde der litauische Großfürst Jogaila (Jagiełło) vom polnischen Adel in Lublin zum König von Polen (Władysław II. Jagiełło) bestimmt. Er heiratete die polnische Thronerbin Jadwiga. Als König Władysław II Jagiełło führte er in Personalunion das Königreich Polen und das Großfürstentum Litauen.

Neuzeit

1569 beschloss der Sejm in der "Union von Lublin" (Unia Lubelska) die Umwandlung der polnisch-litauischen Personalunion in eine Realunion: Die polnisch-litauische Adelsrepublik entstand als Wahlmonarchie. Lublin erlebte verschiedene Besetzungen: 1655–1657 von schwedischen Truppen, 1792 auf Befehl Katharinas II. von russischen, 1795–1809 von österreichischen (Lublin gehörte nun zu "West-Galizien"), 1809 von polnischen Truppen unter Dominik Dziewanowski. Nach dem Wiener Kongress wurde die Stadt Teil des Russland zugeordneten Königreichs Polen (Kongresspolen) und 1837 Hauptstadt des Gouvernements. Während des Ersten Weltkriegs besetzten deutsche und österreichisch-ungarische Truppen im Sommer 1915 die Stadt.

Zeitgeschichte

Am 7./8. November 1918 wurde die provisorische Regierung des unabhängigen Polen unter Leitung von Ignacy Daszyński in Lublin gebildet, das bis zur Konstituierung der Regierung in Warschau mehrere Tage lang Hauptstadt Polens war.

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Zerstörung der Bima in einem Bethaus des jüdischen
Viertels in Lublin, März 1942
(Foto: Czesław Gawdzik).

Im Zweiten Weltkrieg war Lublin wegen seiner Grenzlage besonders von deutschen Truppenbewegungen und Kriegshandlungen betroffen. Am 9. September 1939 bombardierten deutsche Fliegerverbände Lublin, am 17. September besetzten deutsche Truppen die Stadt. Im selben Monat erfolgte die Abschiebung der noch in Deutschland lebenden Juden, die in einem "Reichsghetto" für alle Juden im Gebiet um Lublin konzentriert werden sollten. Die erste große Deportation von deutschen Juden aus dem "Altreich" (über 1.100 Menschen) erfolgte am 13. Februar 1940 aus Stettin/Szczecin.[1] 1941 gab Heinrich Himmler bei einem Besuch in Lublin dem SS- und Polizeiführer des Distrikts Lublin, Odilo Globocnik, den Auftrag zum Bau eines Gefangenenlagers. Vom Herbst 1941 an wurde das "Kriegsgefangenenlager der Waffen-SS Lublin" in Majdanek südöstlich der Stadt gebaut, im Februar 1943 wurde es in "Konzentrationslager Lublin" umbenannt. Bis zum Herbst 1943 kamen von den vermutlich insgesamt 150.000 Gefangenen des Lagers etwa 80.000 Häftlinge um, zwei Drittel davon Juden: Männer, ab Oktober 1942 auch Frauen, politische Häftlinge und Kinder aus fast 30 Ländern – vor allem Polen, Sowjetbürger, Tschechen. Von Juli 1942 bis Oktober 1943 wurden im Rahmen der "Aktion Reinhardt" auch aus dem Distrikt Lublin des Generalgouvernements Juden und Roma in den drei Vernichtungslagern Bełżec, Sobibór und Treblinka ermordet. Der geschlossene jüdische Wohnbezirk in Lublin wurde am 17. April 1943 liquidiert, die letzten Bewohner in die Lager Majdanek, Bełżec und Sobibór deportiert. Am 3./4. November 1943 fanden Massenerschießungen, die sog. "Aktion Erntefest", statt. Allein in Majdanek kamen mehr als 17.000 Juden um. Kurz vor der Besetzung der Stadt durch sowjetische und verbündete polnische Einheiten erschossen am 22. Juli 1944 deutsche Truppen etwa 200 Häftlinge im Gefängnis im Schloss. Am 23. Juli 1944 wurde das KZ Majdanek befreit.[2] Danach wurde das Lager vom NKWD als Gefängnis für Mitglieder des polnischen Untergrundstaates genutzt; außerdem wurden hier deutsche Kriegsgefangene untergebracht. Von Juli bis Dezember 1944 hatte die von Stalin eingesetzte polnische Regierung ihren Sitz in Lublin. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich Lublin zu einem Zentrum von Bildung, Wissenschaft und Industrie. Im Juli 1980 streikten Arbeiter in Świdnik und Lublin (noch vor den Werftarbeitern in Danzig/Gdańsk) - die freie Gewerkschaft "Solidarność" setzte sich für eine Demokratisierung des Landes ein. Seit dem Beitritt Polens zur Europäischen Union befindet sich Lublin erneut in einer Randlage.

Bevölkerung

Im Laufe des 19. Jahrhunderts nahm die Zahl der Einwohner stark zu. Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte Lublin 122.000 Einwohner, danach 99.400. Die bisher höchste Einwohnerzahl von über 359.000 erreichte die Stadt 1999. Heute ist Lublin mit über 348.000 Einwohnern die neuntgrößte Stadt Polens (Woiwodschaft Lublin: 2,15 Millionen).

Bevölkerungsentwicklung

Jahr Gesamt Juden Protestanten Russisch-Orthodoxe
 1807*  7.082  49,7 %  1,94 %  0,32 %
 1835  14.028  56,8 % (1837)  1,21 % (1837)  0,32 % (1837)
 1860  18.304  49,8 %  2,37 % (1859)  7,23 % (1859)
 1890  52.065  49,3 %  1,9 %  8,42 %
 1914  83.126      
 1939**  122.000      
 1946  99.400      
 1960  181.304      
 1999***  359.154      
 2012****  348.120      

* Daten bis 1914 nach Archivrecherchen von Jörg Gebhard. Vgl. Gebhard: Lublin, S. 362. Gebhard weist darauf hin, dass es sich um Richtwerte, nicht um absolute Zahlen handelt.
** 1939–1979 Roczniki statystyczne GUS. pl.wikipedia.org/wiki/Ludno%C5%9B%C4%87_Lublina (Abruf 22.03.2013).
*** 1995–2008 Bank danych regionalnych GUS. pl.wikipedia.org/wiki/Ludno%C5%9B%C4%87_Lublina (Abruf 22.03.2013).
**** Vgl. www.stat.gov.pl/cps/rde/xbcr/gus/l_ludnosc_stan_struktura_30062012.pdf (Abruf 22.03.2013).
 

Lublin hatte bis zum Zweiten Weltkrieg einen großen jüdischen Bevölkerungsanteil: 1807 stellten die Juden die Hälfte der Einwohner (von 7.100), 1939 ein Drittel (von 122.000). Die Lubliner Juden wurden durch die Vernichtungspolitik der deutschen Besatzer ausgelöscht, die Judenstadt und der jüdische Stadtteil Wieniawa zerstört.

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Evangelische Kirche in Lublin
(Foto: lublin.travel/).

Die ersten Industriellen der Stadt waren meist fremdethnischer Herkunft, darunter auch deutschstämmige, protestantische Unternehmer und Kaufleute, die oft aus Posen/Poznań und Warschau kamen.[3] Zu den bekannten Lubliner Deutschstämmigen zählen die Industriellen Rudolf, August und Julius Vetter, Albert und Emil Plage sowie Heinrich Sachs, ebenso der evangelische Pastor Aleksander Schoeneich. Der evangelische Landesbischof Juliusz Bursche (1862–1942) kam am 6. September 1939 nach Lublin, nachdem er Warschau kurz nach Kriegsbeginn verlassen musste. Nach einem Gottesdienst in der evangelischen Kirche in Lublin wurde er am 3. Oktober 1939 von der Gestapo verhaftet. Ihm wurde Verrat am deutschen Volk und Polonisierung der evangelischen Kirche in Polen vorgeworfen.

Wirtschaft

Lublin befand sich innerhalb Polen-Litauens in einer zentralen Lage an den Handelswegen zwischen Ost und West und wurde zu einem wichtigen Handelsplatz in Ostmitteleuropa. Durch die Verlegung der Hauptstadt von Krakau/Kraków nach Warschau (1596), die polnischen Teilungen sowie den Wiener Kongress geriet Lublin in eine Randlage. An der Peripherie dominierten Landwirtschaft, Handwerk und Kleinhandel. Der kurzzeitige Aufschwung im 19. Jahrhundert (1877 Eröffnung der Eisenbahnlinie nach Warschau und Kowel) führte zu einem Wandel des Stadtbildes und zur Modernisierung der Infrastruktur Lublins, war aber mit dem Ersten Weltkrieg beendet. Unter der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg wurde der Distrikt Lublin zum Zentrum jüdischer Zwangsarbeit im Generalgouvernement. Nach 1945 entwickelten sich Bau-, Elektro-, Schwerindustrie- und metallverarbeitende Betriebe sowie Maschinenbau neben den Bereichen Handel und Dienstleistungen. Wichtigste Wirtschaftszweige sind bis heute die Autoindustrie und das Bildungswesen. Der Ende 2012 eröffnete Flughafen bietet der Stadt eine neue internationale Anbindung.

Gesellschaft

Charakteristisch für Lublin war jahrhundertelang eine Teilung in jüdische und nicht-jüdische Lebenswelten. 1535 erhielt Lublin das Privileg De non tolerandis Judaeis (bis 1862), eine selbstständige Judenstadt entstand. 1578 begründete König Stefan Báthory (Batory) das Krontribunal im Rathaus in Lublin als höchste Gerichtsinstanz für den Adel in Kleinpolen, 1580 den sog. Vierländersejm als Selbstverwaltungsorgan (Va'ad Arba' Aratzot) der polnischen Juden (bis 1764).

Im 19. Jahrhundert gab es parallele, aber keine gemeinsamen Entwicklungen (Entstehung eines Proletariats, Vereinsgründungen, politische Parteien).[4] Industrielle wie die Brauereibesitzer August und Julius Vetter wurden zu Sponsoren des städtischen Bildungswesens.

Religions- und Kirchengeschichte

Lublin wurde geprägt durch eine konservativ-katholische ebenso wie eine konservativ-ostjüdische Tradition. 1260 kamen Dominikaner nach Lublin, Ende des 16. Jahrhunderts machten Jesuiten die Stadt zu einem Zentrum der Gegenreformation. 1805 wurde Lublin Bischofssitz. Es ist bis heute ein Zentrum des polnischen Katholizismus.

Auch andere christliche Gemeinschaften lebten in Lublin: 1390 wurden erstmals Orthodoxe erwähnt, um 1560 "polnische Brüder" (antitrinitarischer Arianer), seit Mitte des 16. Jahrhunderts auch Calvinisten. 1784 genehmigte König Stanislaus II. August (Stanisław II August) den Bau der evangelisch-augsburgischen Kirche mit Schule und Krankenhaus.

Das jüdische Lublin entwickelte sich zu einem bedeutenden aschkenasischen Zentrum, einer Hochburg orthodoxer Frömmigkeit mit berühmten Rabbinern und Lehrautoritäten. Hier lebte der Begründer des Chassidismus, Zaddik Ya‘akov Yitsḥak Horowitz (1745–1815), der „Seher von Lublin“.

Bildung und Wissenschaft

Jesuiten gründeten Ende des 16. Jahrhunderts ein Kolleg. Seit 1812 gab es ein Gymnasium, in den 1860er Jahren kamen weitere hinzu. Elementarschulen waren staatlich, katholisch, evangelisch (seit 1836), jüdisch (seit 1844) und russisch-orthodox (seit 1865). Russisch war seit 1866 Pflichtfach in Lubliner Schulen.

1918 wurde im neuen polnischen Staat die Katholische Universität Lublin (Katolicki Uniwersytet Lubelski [KUL]) gegründet. 1944 entstand die staatliche Marie-Curie-Skłodowska-Universität (Uniwersytet Marii Curie-Skłodowskiej [UMCS]), aus der später weitere Hochschulen ausgegliedert wurden. Mit etwa 84.000 Studierenden (Studienjahr 2011/12)[5] an fünf Universitäten und sechs weiteren Hochschulen ist Lublin heute ein wichtiges akademisches Zentrum.

Die jüdische Gelehrtenstadt hatte ca. 1530 eine erste Talmud-Akademie und bekannte Rabbiner wie Solomon (Shelomoh ben Yeḥi'el) Luria (ca. 1510–1573). 1930 kam es zur Gründung der modernen jüdischen Talmudhochschule der Gelehrten von Lublin (Jeszywas Chachmej Lublin), einer zentralen Hochschule des orthodoxen Judentums. Sie wurde im September 1939 von den deutschen Besatzern geschlossen und im Innern verwüstet. 2007 wurde die restaurierte Synagoge in dem Gebäude wiedereröffnet.

Alltagskultur

Die Vorstädte Piaski und Czwartek oder das Städtchen Wieniawa waren typische jüdische Schtetl. In der nicht-jüdischen Stadt entstanden wegen der monatelangen Gerichtssitzungen des Krontribunals repräsentative Palais des polnischen Adels.

Kunstgeschichte

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Kirchenschiff der gotischen Kapelle
der hl. Dreifaltigkeit/Kaplica Trójcy
Swiętej (Muzeum Lubelskie w
Lublinie, Foto: Piotr Maciuk).

Neben den mittelalterlichen Stadttoren Brama Krakowska und Grodzka und dem Rathaus (1389) sind die Dominikanerkirche von 1342, die Heilig-Geist-Kirche von 1419, das Bernhardinerkloster von 1470 und der neugotische Trinitätsturm von Antonio Corazzi von 1819 bemerkenswert. Außergewöhnlich ist die 1418 fertiggestellte Ausmalung der gotischen Schlosskapelle aus dem 13. Jahrhundert mit polychromen ruthenisch-byzantinischen Fresken (Meister Andrej im Auftrag von Władysław II. Jagiełło). Nach einem Großbrand 1575 wurde die Stadt im Stil der Renaissance wiederaufgebaut. Im Schlossmuseum befindet sich das Gemälde Unia Lubelska von Jan Matejko (1869).

Buch- und Druckgeschichte

Jiddische Bücher, Bibelübersetzungen und Talmudausgaben wurden bereits im 16. Jahrhundert in Lublin gedruckt. So entstand 1536 in der Druckerei von Chaim Schwarz ein Gebetbuch für Feiertage (Machsor) mit polnischer Übersetzung.[6]

Literatur

1584 starb der Renaissancedichter Jan Kochanowski in Lublin, der den Abschluss der Lubliner Union 1569 und die Lehenshuldigung Albrechts II. Friedrich von Hohenzollern an den polnischen König Sigismund August miterlebte und in seinen Gedichten festhielt. In seiner Reise nach Polen (1924) beschrieb Alfred Döblin die Judenstadt von Lublin. Der 1903 in Lublin geborene Avantgardedichter der Zwischenkriegszeit Józef Czechowicz starb bei einem Bombenangriff auf Lublin am 9. September 1939. Das Konzentrationslager Majdanek ist Thema des Gedichts von Johannes R. Becher Kinderschuhe aus Lublin.

Gedächtnis- und Erinnerungskultur

Wichtiger Gedenkort Lublins ist der pl. Litewski im Zentrum der Stadt. Hier sollen 1569 polnische und litauische Adlige die Union von Lublin beschlossen haben, an die ein Obelisk erinnert. Auf dem ehemaligen Paradeplatz finden noch heute offizielle Feiern statt. Die jeweiligen Besatzer demonstrierten hier ihre Macht: durch Umbenennungen in "Adolf-Hitler-Platz" bzw. "Józef-Stalin-Platz" sowie durch den Bau der in Lublin als Fremdkörper empfundenen orthodoxen Kirche (1873–1876) an diesem Platz,[7] oder die Errichtung eines "Dankes-Denkmals" für die Sowjetarmee 1945, das zu Beginn der 1990er Jahre demontiert und 1991 durch ein Denkmal für Marschall Józef Piłsudski ersetzt wurde.

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Grabmal der Familie Vetter auf dem
evangelischen Friedhof in der ul. Lipowa
(Foto: lublin.travel/).

Der Friedhof an der ul. Lipowa zeigt ein "Kaleidoskop der Geschichte der nichtjüdischen Stadt"[8], auf ihm findet man auch die Gräber der deutschstämmigen Lubliner Industriellen (Plage, Scholtz, Vetter, Voigt). Das Denkmal für Stefan Kardinal Wyszyński und Papst Johannes Paul II. (Karol Wojtyła) im Innenhof der KUL erinnert an die beiden eng mit der KUL und Lublin verbundenen berühmten Polen. Bereits im Oktober 1944 entstand auf dem Gelände des KZ Majdanek das erste Museum zum Gedenken an die Opfer des Holocaust. Die Gedenkstätte spielte auch im Prozess der deutsch-polnischen Versöhnung eine zentrale Rolle, als 1965 eine erste Fahrt von Aktion Sühnezeichen aus der DDR eine Gruppe junger Frauen nach Majdanek führte (parallel zu einer Fahrt junger Männer nach Auschwitz).[9] Jörg Gebhard schreibt, das kollektive Gedächtnis der Stadt sei "als ausschließlich nichtjüdisches fassbar": "Dieser Diskurs der örtlichen Gesellschaft vollzog sich unter der Prämisse fast beständiger, mehr oder weniger deutlicher Fremdbestimmung ganz unterschiedlicher Natur – zarischer Obrigkeitsstaat, nazistische Gewaltherrschaft, stalinistische Diktatur, poststalinistischer Sozialismus." Opfer des Konflikts zwischen "verordneter" Erinnerung und eigener historischer Erfahrung der Einwohner war "die Erinnerung an die multiethnische Vergangenheit Lublins, vor allem an ihre vormalige jüdische Hälfte, deren Existenz nach 1944 systematisch negiert und verdrängt wurde."[10] Der Erinnerung an die Lubliner Juden und ihre Geschichte widmen sich heute neue Initiativen und Vereine sowie das Kulturzentrum "Brama Grodzka – Teatr NN". Jüdische Friedhöfe wurden restauriert und erinnern an ehemalige Lubliner Juden – darunter berühmte Rabbiner und Gelehrte. Seit 1989 ist der Prozess einer neuen Geschichtsbetrachtung und Selbstdefinition in Gang gekommen. Impulse für die öffentliche Beschäftigung mit der multiethnischen und multikonfessionellen Geschichte Lublins brachte auch die Bewerbung um den Titel Kulturhauptstadt Europas 2016, bei der die Stadt dem Mitbewerber Breslau/Wrocław unterlag.

4. Diskurse/Kontroversen

Die jahrhundertelang stark jüdisch geprägte Stadt findet großes Interesse in Wissenschaft, Medien und Öffentlichkeit.[11] Allerdings gibt es auch feindselige Reaktionen: Akteure der lokalen Kulturinstitutionen und Gedenkstätten wurden mehrfach Zielscheibe antisemitischer gewalttätiger Übergriffe.

Das Staatsarchiv Lublin (Archiwum Państwowe w Lublinie) verfügt über Akten der historischen städtischen und Gouvernement-Behörden. Zum jüdischen Lublin findet man Bestände in Warschau (Archiwum Główne Akt Dawnych, Żydowski Instytut Historyczny) und Jerusalem (Central Zionist Archives).

Forschungsdesiderate bestehen in Bezug auf die Zeit der österreichisch-ungarischen Besetzung Lublins im Ersten Weltkrieg.[12]

5. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Mogens Dyhr, Ingeborg Zint: Lubliner Jiddisch. Ein Beitrag zur Sprache und Kultur des Ostjiddischen im 20. Jahrhundert anhand eines Idiolekts. Tübingen 1988.
  • Jörg Gebhard: Lublin. Eine polnische Stadt im Hinterhof der Moderne (1815–1914). Köln u. a. 2006.
  • Claudia Kuretsidis-Haider, Irmgard Nöbauer, Winfried R. Garscha, Siegfried Sanwald, Andrzej Selerowicz (Hg.): Das KZ Lublin-Majdanek und die Justiz. Strafverfolgung und verweigerte Gerechtigkeit. Polen, Deutschland und Österreich im Vergleich. Graz 2011.
  • Wojciech Lenarczyk, Dariusz Libionka (Hg.): Erntefest 3–4 listopada 1943. Zapomniany epizod Zagłady [Die "Aktion Erntefest" vom 3.–4. November 1943. Ein vergessenes Kapitel des Judenmords]. Państwowe Muzeum na Majdanku. Lublin 2009.
  • Bogdan Musial: Deutsche Zivilverwaltung und Judenverfolgung im Generalgouvernement. Eine Fallstudie zum Distrikt Lublin 1939–1944. Wiesbaden 1999 (Deutsches Historisches Institut Warschau, Quellen und Studien 10).
  • Dieter Pohl: Von der "Judenpolitik" zum Judenmord. Der Distrikt Lublin des Generalgouvernements 1939–1944. Frankfurt/M. 1993 (Münchner Studien zur neueren und neusten Geschichte 3).
  • David Silberklang: Gates of Tears. The Holocaust in the Lublin District. Jerusalem/Yad Vashem 2013.
  • Wolfgang Wilhelmus unter Mitarbeit von Irmfried Garbe: Die Lubliner Judenliste. Die erste Deportation deutscher Juden vom 13. Februar 1940 aus dem pommerschen Regierungsbezirk Stettin. In: Zeitgeschichte regional. Mitteilungen aus Mecklenburg-Vorpommern. Sonderheft 3, 1/2009.

Weblinks

Anmerkungen

[1] Wilhelmus, Garbe: Die Lubliner Judenliste.

[2] Die Opferzahlen des Konzentrationslagers Majdanek wurden nach 1944 unterschiedlich angegeben. Sie schwanken zwischen 1,7 Millionen (1944) und etwa 80.000 Opfern (Kranz 2007). Vgl. Tomasz Kranz: Die Erfassung der Todesfälle und die Häftlingssterblichkeit im KZ Lublin. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 55 (2007), H. 3, S. 220–244, hier S. 243.

[3] Gebhard: Lublin, S. 16f.

[4] Gebhard: Lublin, S. 28.

[5] www.stat.gov.pl/cps/rde/xbcr/lublin/ASSETS_Prezentacja-konferencja_12.06.2012.pdf (Abruf 22.03.1013).

[6] Arno Lustiger: library.fes.de/fulltext/historiker/00712001.htm (Abruf 26.02.2013)

[7] Alfred Döblin erlebte ihren Abriss mit: Alfred Döblin: Reise in Polen. München 1987, S. 158f.

[8] Gebhard: Lublin, S. 276.

[9] Die Frauen arbeiteten zwei Wochen in Majdanek und jäteten Unkraut an dem Massengrab, "wo am 3. November 1943, an einem einzigen Tag, 18.400 Menschen erschossen worden sind, von der SS zynisch 'Unternehmen Erntefest' genannt. Und sie säuberten die Wege im 'Rosengarten', wo Frauen und Kinder vor der Vergasung untergebracht waren – Rosengarten genannt wegen der Blutlachen, die nach dem 'Entladen' der Transporte dort entstanden." Konrad Weiß: Lothar Kreyssig. Prophet der Versöhnung. Gerlingen 1998 (Zeugen der Zeit), S. 384.

[10] Gebhard: Lublin, S. 29.

[11] 2012 wurde die Darstellung des jüdischen Lublin von Majer Bałaban "Die Judenstadt von Lublin" von 1919 in Lublin nachgedruckt. Zeitgleich wurde die polnische Übersetzung von Jan Doktór "Żydowskie miasto w Lublinie" veröffentlicht.

[12] Vgl. Stephan Lehnstaedt: Das Militärgeneralgouvernement Lublin. Die "Nutzbarmachung" Polens durch Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg. In: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 61 (2012), S. 1–26.

Zitation

Maria Luft: Lublin. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2013. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32320 (Stand 30.07.2021).

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