Volkstum
1. Begriff
„Volkstum“ bezeichnet eine utopisch-idealisierte Konstruktion kulturell, ethnisch oder auch weltanschaulich begründeter Gruppenidentitäten. Die Zugehörigkeit zu einem vermeintlich ethnisch homogenen ‚Volkstum’ wurde im deutschen Diskurs im Sinne eines Kontinuitätsmythos als historisch gewachsen definiert. Sie sollte eine gemeinschaftliche Verbundenheit des Volkes in bestimmten Räumen und aufgrund gemeinschaftlicher Kultur und Abstammung begründen sowie auf eine kollektive zukünftige Schicksalshaftigkeit in hierarchischer Abgrenzung zu anderen Völkern oder ‚Rassen‘ verweisen. „Volkstum“ bezieht sich somit sowohl auf die Inklusion von ethnisch-kulturell definierten Gruppen in einem ‚Volk’ als auch auf die Exklusion von ebenso definierten ‚Fremdartigen’ aus einem ‚Volk’. ‚Volkstum’ ist dabei in seiner weltanschaulichen Bedeutung, seinem Konstruktionscharakter und seiner politischen Wirksamkeit nicht von den zeitgenössischen Definitionen und den jeweiligen historischen Kontexten zu trennen.
Fremdsprachige Entsprechungen
Der Begriff „Volkstum“ hat eine spezifische Konnotation im deutschsprachigen Raum und findet nur annähernde fremdsprachige Entsprechungen wie die englischen Beschreibungen von folk oder ethnicity.
2. Historischer Abriss
Frühe Entwicklungen des Konzeptes (bis 1871)
Das ‚Volkstums‘-Konzept etablierte sich in Deutschland zwischen 1770 und 1830. Der Begriff wurde 1810 von Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852) geprägt als „das Gemeinsame des Volkes, sein innewohnendes Wesen, sein Regen und Leben, seine Wiedererzeugungskraft, seine Fortpflanzungsfähigkeit.“ Die Diskussionen um ein ‚Volkstum’ als Grundlage ethnisch-kultureller Zusammengehörigkeit wurden durch die Frage nach einer deutschen Nationsbildung und der Zugehörigkeit deutschsprachiger Siedlungsgruppen in verschiedenen Reichen und Nationalstaaten befördert.
Auch nachdem das Heilige Römische Reich Deutscher Nation 1806 aufgelöst worden war, bezogen sich Definitionen einer deutschen Nation zunächst oft weiterhin auf eine ‚Reichsnation’, in der sich die territorialen Grenzen nicht mit den Siedlungsgebieten der deutschsprachigen Bevölkerungen deckten. Im ausgehenden 18. Jahrhundert entwickelte sich unter den Gebildeten als Gegenbewegung zu der um Rationalität bemühten Aufklärung das Konzept von einem deutschen ‚Volk’ zu einer romantisch-mythisierten Weltanschauung. Unter Rückbesinnung auf die Geschichte wurden in der Romantik individuelle historische Entwicklungen von ‚Völkern’ betont und eine gefühlsbetonte Gemeinschaftlichkeit in den Mittelpunkt nationaler Identität gestellt. Johann Gottfried Herder (1744–1803), der ‚Volk’ als Sprach- und Kulturgemeinschaft ansah, sprach von der Pluralität menschlicher Gemeinschaften sowie von einem einzigartigen ethnischen Charakter der ‚Völker’, der durch Geographie und Geschichte begründet sei.
Vor allem während der antinapoleonischen Kriege (1813–1815) verstärkten sich Konzeptionen von ‚Volkstum’, die in Abgrenzung zu den Ideen der Französischen Revolution sowie auch gegen einzelstaatliche Dynastien standen und sich mit Forderungen nach nationalstaatlicher Konsolidierung verbanden. Bei Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) und Ernst Moritz Arndt (1769–1860) wurde der Krieg zum gemeinschaftsstiftenden „Instrument der Katharsis“ zur Erweckung eines patriotischen Nationalstolzes gegen das Feindbild des französischen Nationalismus. Der französischen Nation setzte Fichte in seinen Reden an die deutsche Nation ein deutsches „Urvolk“ als historisch gewachsene Kulturgemeinschaft entgegen, das sich als Willensverband konstituiere. ‚Volkstums‘ideologie wurde zur Mobilisierungsressource im Krieg gegen die Ideale der Französischen Revolution.
Wie zuvor schon Herder bestimmten Jacob Grimm (1785–1863) und Wilhelm Grimm (1786–1859) die deutsche Sprache als Grundlage für das deutsche ‚Volk’ als organische Einheit. Auf dem Germanistentag 1846 wurde der Zusammenhang von Sprache und Kultur sowie von Nation und ‚Volk’ bestätigt, und damit das Prinzip der Deterritorialisierung der Nationszugehörigkeit unterstrichen. Das Konzept eines deutschen ‚Volksstaates’ entwickelte sich zur politischen Ideologie. Die sich daran anknüpfende Leitfrage nach der Ausgestaltung eines zukünftigen deutschen Nationalstaates konnte im Zuge der 1848er Revolution in den Diskussionen um eine kleindeutsche oder großdeutsche Reichseinigung (unter Einschluss Österreichs) und um den protestantisch-katholischen Gegensatz als grundlegendes Problem ethnisch-homogenisierender ‚Volkstums‘ideologie nicht gelöst werden.
In den nachfolgenden Jahrzehnten konsolidierte sich bei Wilhelm Heinrich Riehl (1823–1897) ein Volkstumskonzept, das deutsche Innerlichkeit als eine Gegenwelt zur Moderne erhob. Nach Riehl war die Entwicklung eines „Volksorganismus“ auch nach der Industrialisierung und Urbanisierung in einer organischen Verbundenheit mit seinem naturhaften Umfeld begründet, als ursprünglicher Ort nicht entfremdeter Identität und kultureller Eigenart.
Deutsches Kaiserreich (1871–1914)
Die kleindeutsche Reichsgründung 1871 erfüllte wesentliche Forderungen der deutschen Nationalbewegung, wurde von den Befürwortern einer großdeutschen Lösung jedoch als Beginn und nicht als Endpunkt deutscher Nationsbildung angesehen. Auch die innere Nationsbildung blieb unvollendet und eröffnete weitere Diskursräume für ‚Volkstums‘ideologen. Die Beendigung des Kulturkampfes gegen die katholische Kirche, die Sozialgesetzgebung, ein autoritärer Nationalstaat sowie die ‚Weltpolitik’ in Form kolonialer Erwerbungen sollten die innere Nationsbildung befördern und die gesellschaftliche Integration stärken, wenngleich das Kaiserreich in seiner politischen Kultur ein Kompromiss verschiedener Identitätsbildungen blieb. Der Kampf gegen ethnisch-kulturelle Minderheiten wie den Polen, der durch Verbände wie dem Ostmarkenverein und dem Alldeutschen Verband popularisiert und durch eine staatliche ‚Germanisierungspolitik’ forciert wurde, zielte auf eine ethnische Homogenität des ‚Deutschtums’.
Die völkische Bewegung, die um 1900 ihren Aufschwung nahm, synthetisierte im Konzept des ‚Volkstums’ die Elemente Sprache, Rasse, Religion und Raum zu vermeintlich ‚arteigenen’ Charaktermerkmalen eines Volkes. Gesellschaft wurde zunehmend als biologisches Gesamtsystem interpretiert, dessen Grundlage nicht der Staat, die Nation oder das durch flexible Grenzen definierte imperiale Reich bildeten, sondern ein organisch gewachsenes ‚Volk’ gleicher kultureller, ethnischer und geographischer Abstammung. Bürgerliche Wertekategorien der Aufklärung und Normen des christlichen Glaubens wie Humanität, Gleichheit und Wertschätzung des Individuums wurden durch naturgesetzliche Denkansätze der ‚rassischen’ Hierarchisierung von Völkern und gesellschaftsbiologische Übertragungen der Naturlehren Charles Darwins (1809–1882) über natürliche Konkurrenz und Auslese ersetzt. An sozialdarwinistische Evolutionsideen und Vorstellungen vom Staat als biologistischen Organismus lehnte sich auch Friedrich Ratzel (1844–1904) an, der um die Jahrhundertwende das Schlagwort vom „Lebensraum“ prägte. Solche biologistische Raumvorstellungen verbanden sich mit Konzepten der Geopolitik und des Krieges als notwendigen Entscheidungskonflikt zwischen konkurrierenden Völkern.
Die krisenhafte Wahrnehmung von Bevölkerungsentwicklungen, Migration, Urbanisierung und Industrialisierung verschärfte Diskussionen um eine rigidere staatliche Lenkung dieser komplexen sozialen Prozesse der Moderne und um eine normative Gestaltung des ‚Volkskörpers’. Eine staatliche Steuerung der Fortpflanzung bis zur Zwangssterilisierung wurde bis in die Kreise der deutschen Sozialdemokratie propagiert. Die „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ fand in den neuen Disziplinen der Rassenanthropologie und Rassenhygiene/Eugenik statt, deren Grundlagen für den deutschsprachigen Raum unter anderem von Alfred Ploetz (1860–1940) und Wilhelm Schallmayer (1857–1919) gelegt wurden. Die Rassetheorien von Arthur de Gobineau (1816–1882) wurden um die Jahrhundertwende durch Übersetzungen popularisiert und in der völkischen Bewegung breit rezipiert.
In den Forderungen der völkischen Bewegung nach ethnisch-kultureller Homogenisierung und ‚Rassereinheit’ der deutschen Gesellschaft besaß die Exklusion der Juden einen zentralen Stellenwert. Bereits in den 1870er und 1880er Jahren gewannen antisemitische Parteien sowie der protestantische Hofprediger Adolf Stoecker (1835–1909) an Zuspruch. Der Historiker Heinrich von Treitschke (1834–1896), der mit seinem Konzept des Machtstaates zwar gegen eine ethnisch bedingte ‚Volkstumspolitik’ war, wirkte mit seiner Bezeichnung der Juden als „Unglück“ im Antisemitismusstreit 1879/1880 dennoch nachhaltig auf eine ganze Generation. Eugen Dühring (1833–1921) sprach 1881 explizit von einer „Racenschädlichkeit“ der Juden.
Die Diskussionen um die Zugehörigkeit zum deutschen ‚Volk’ und zur deutschen Nation berührten auch die Regelung der Staatsangehörigkeit. Das bereits 1842 im Preußischen Staatsangehörigkeitsgesetz verankerte Abstammungsprinzip ius sanguinis (im Gegensatz zum Territorialstaatsprinzip ius soli) galt auch im deutschen Kaiserreich. Die Beibehaltung der Staatsangehörigkeit im Ausland wurde ermöglicht und in der Novellierung des Staatsbürgerschaftsrechts 1913 ebenso bestätigt wie die Ablehnung des Staatsbürgerbegriffs als Grundlage für die Schaffung eines „exklusiven Volkstums.“ Insbesondere Interessengruppen wie der Alldeutsche Verband traten für eine Erschwerung des Verlustes des deutschen Staatsangehörigkeitsrechtes für ethnisch deutsche Siedler außerhalb der Reichsgrenzen ein. Solche Forderungen, die seit Mitte der 1890er im Reichstag diskutiert wurden, fanden 1913 Aufnahme in das reformierte Staatsangehörigkeitsgesetz. 1906 ging der Kartograph und Geograph Paul Langhans (1867–1952) in einer methodisch fragwürdigen und überhöhten Schätzung von einer „Volkszahl der Deutschen“ in Höhe von insgesamt 95 Millionen ethnischen Deutschen in der Welt aus, von denen nur 55,7 Millionen im Deutschen Reich lebten. Im Zuge einer verstärkten Politisierung („diasporisation“) der ‚Auslandsdeutschen’ verstärkten sich Forderungen nach ihrer staatsrechtlichen und kulturellen Anbindung an das Deutsche Reich.
Erster Weltkrieg (1914–1918)
Die Diskussionen um das ‚Auslandsdeutschtum’ wurden während des Ersten Weltkrieges von der Obersten Heeresleitung und dem Alldeutschen Verband in umfassenden Forderungen nach weiterem Siedlungsraum im Osten sowie nach Umsiedlungen eutscher Siedler und gleichzeitiger Aussiedlung ‚Fremdstämmiger’ gebündelt. Der Erste Weltkrieg beförderte im Zuge der Debatte um die deutschen Kriegsziele generell eine Dynamisierung und Radikalisierung der Volkstumsideologie. Forderungen nach einer grundlegenden „völkischen Feldbereinigung“, wie sie im Umfeld des Alldeutschen Verbandes und vor allem im Kriegszielprogramm von Heinrich Claß (1868–1953) aufgestellt wurden, verweisen auf eine Radikalisierung ethnischer Siedlungspolitik.
Das seit 1890 verschärfte preußische Kontrollsystem zur Regulierung polnischer Arbeitsmigration wurde im Zuge der verstärkten Arbeitskräftenot in der Industrie und der Landwirtschaft während des Ersten Weltkrieges auch bei der Anwerbung und Deportation von Arbeitern vor allem aus Belgien und Polen beibehalten. Die Schließung der Grenze gegen ostjüdische Einwanderung wurde innerhalb der radikalen Rechten bereits vor dem Krieg gefordert und im Zuge des Friedens mit Russland durch die erfolgte Schließung der preußischen Ostgrenze im April 1918 auch umgesetzt.
Gleichzeitig nahmen Homogenisierungsbestrebungen zu, die sich auf die deutsche Gesellschaft selbst richteten und mit einer antisemitischen Radikalisierung sowohl der politischen Rechten als auch in staatlichen Institutionen, wie bei der 1916 angeordneten ‚Judenzählung’ im preußischen Heer, einhergingen. ‚Volksgemeinschaft’ wurde im Ersten Weltkrieg zur beherrschenden Kategorie gemeinsamen sozialen Zusammenhaltes, die sich zunehmend von ethnischer Zusammengehörigkeit auch auf weltanschauliche Homogenisierung ausweitete.
Weimarer Republik (1918–1933)
Die Abtretung von 13 Prozent des Reichsgebietes und ca. 10 Prozent der Reichsbevölkerung durch die Bedingungen des Versailler Friedensvertrages vom 28. Juni 1919 verstärkte das „Spannungsverhältnis zwischen Staats- und Volksnation“. Gleichzeitig erleichterte der Zusammenbruch des Habsburger Reiches großdeutsche Anschlussforderungen und verstärkte nicht nur bei der radikalen Rechten die Propagierung einer ethnischen Homogenisierung in einem Staat, der alle kulturell-ethnischen Deutschen vereinigen sollte. In der Weimarer Republik kam es zu einer forcierten Ausgrenzung nationaler Minderheiten, zur Betonung deutscher Volkszugehörigkeit und einer restriktiven Einbürgerungspraxis für ‚fremdstämmige’ oder ‚kulturfremde’ Ausländer.
Während ca. eine Million abgewanderte Deutsche aus den abgetretenen Gebieten in der Weimarer Republik integriert werden musste, stützte der Staat die Interessen der dortigen deutschen Minderheiten und beschäftigten sich verschiedene Stiftungen und von der Regierung geförderte Institute mit der Volks- und Kulturforschung in Ost-, Süd- und Mitteleuropa. Max Hildebert Boehm (1891–1968) und Wilhelm Stapel (1882–1954) erklärten das deutsche ‚Volk’ zu einer unaufhebbaren Größe mit eigener ‚Wesensart’ und spezifischem ‚Volkswillen’. Hans Grimm (1875–1959) beklagte die Inkongruenz von ‚Volk’, Siedlungsraum und Nationalstaat mit dem Schlagwort „Volk ohne Raum“.
Während Arthur Moeller van den Bruck (1876–1925) bereits 1923 „Das dritte Reich“ erwartete, bündelte Adolf Hitler (1889–1945) seine Propaganda von ‚Volksgemeinschaft’ und ‚Deutschtumspolitik’ in der nationalsozialistischen Massenbewegung. Neben politischen Zielen wie Antimarxismus, Beseitigung der parlamentarischen Demokratie, Ausschaltung von Pazifisten, Liberalen, Freimaurern und Gewerkschaften verfolgte er vor allem einen radikalen Antisemitismus sowie die Bekämpfung all derer, die einem völkischen Normierungs- und Formierungsprozess sowie der Geschlossenheit des ‚Volkskörpers’ vermeintlich entgegenstanden. Diese Forderungen wurden zur weltanschaulichen Grundlage der NSDAP als selbst ernannter ‚Volksbewegung’. Unter dem Aufruf ‚Ein Volk, ein Reich, ein Führer’ sollte charismatische Führerschaft die politische und weltanschauliche Fragmentierung der deutschen Gesellschaft durch Homogenisierung und Expansion überwinden.
Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (1933–1945)
Die radikale Praxis des nationalsozialistischen Antisemitismus und der rassistischen ‚Auslesepolitik’ sowie der Umsiedlungs- und Vernichtungspolitik während des Zweiten Weltkrieges stellte den Höhepunkt einer radikalisierten deutschen ‚Volkstumspolitik’ zwischen 1933 und 1945 dar. Der Nationalsozialismus stand mit dem Paradigma der ‚Rassereinheit’ auf dem Fundament der völkischen Bewegung. Er vollzog im Rahmen einer territorialen Expansionspolitik eine Politik des Anschlusses ethnisch deutscher Bevölkerungsgruppen bei gleichzeitiger Ausschluss- und Vernichtungspolitik gegenüber ‚Fremdvölkischen’, insbesondere im Hinblick auf Juden und Slawen. Der Ausschluss von ‚Abweichenden’ im eigenen ‚Volkstum’ und die Ausmerzung von ‚Gemeinschaftsunfähigen’ wie auch die Bekämpfung des Eindringens ‚fremden Volkstums’ wurden konstitutiv für eine ganzheitliche Gesamtkonzeption nationalsozialistischer ‚Rassenpolitik’, die sowohl auf ethnische, soziale und politische Homogenisierung zielte als auch eine radikalisierte Praxis gesellschaftsbiologischer Weltanschauung von ‚Volkstum’ und ‚Volksgemeinschaft’ darstellte.
Wissenschaftler der Volksgeschichte, der Ostforschung oder der ‚Rassenkunde’ dienten dem nationalsozialistischen Regime als Experten zur Planung von Ausgrenzung und Vernichtung und trugen durch ihre Publikationen und Beratungstätigkeiten zur Radikalisierung der ‚Volkstumspolitik’ und der rassistischen Vernichtungspolitik im Nationalsozialismus bei. Die ‚Rassenanthropologie’ gewann im Nationalsozialismus den Status einer weltanschaulich begründeten Leitwissenschaft.
Die Ausgrenzung ‚Asozialer’ aus der ‚Volksgemeinschaft’ wurde durch Gesetze zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (14. Juli 1933) und den Erlass Hitlers zur Tötung „unheilbarer Kranker“ (Oktober 1939) radikal umgesetzt. In Dachau entstand eines der ersten Konzentrationslager zur Inhaftierung politischer Gegner (u. a. Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschaftsfunktionäre), sozialer ‚Gemeinschaftsfremder’ (u. a. Alkoholiker, Homosexuelle, Straffällige), religiöser und pazifistischer Aktivisten sowie von Juden. Die stufenweise umgesetzte Exklusion der Juden aus der deutschen Gesellschaft, die ideologisch auf einer Zusammenführung verschiedener Stränge des völkischen Antisemitismus basierte, begann mit dem Boykott jüdischer Geschäfte (1. April 1933) und fand ihre rechtliche Kodifizierung durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums (7. April 1933) sowie die Nürnberger Rassengesetze (15. September 1935). Eheschließungen mit Juden wurden verboten.
Die Volksabstimmung im Saargebiet (13. Januar 1935), die Remilitarisierung des Rheinlandes (7. März 1936), der Einmarsch deutscher Truppen in Österreich (12. März 1938) sowie die Münchener Konferenz zur Überlassung der sudetendeutschen Gebiete an das Deutsche Reich (29. September 1938) verwiesen auf den Anspruch des Nationalsozialismus, die Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages zu revidieren sowie ‚Volkstum’ und Siedlungsraum durch Expansion in Übereinstimmung zu bringen. Die nationalsozialistische Rüstung und Mobilisierung für den Weltkrieg zielte auf die konkrete Umsetzung der Konzepte vom notwendigen Erwerb von ‚Lebensraum’ und ethnischer Homogenisierung in einem Weltanschauungskrieg, der gerade für Juden und Slawen zu einem rassistischen Vernichtungskrieg wurde.
Vor allem die Angriffe auf Polen (1. September 1939) und die Sowjetunion (22. Juni 1941) eröffneten durch die „kooperative Konkurrenz“ von Wehrmacht und SS sowie weiterer NS-Institutionen eine „kumulative Radikalisierung“ rassistischer ‚Volkstumspolitik’. Die Umsiedlung von mehr als 500.000 ‚Volksdeutschen’ u. a. aus dem Baltikum, Wolhynien, Südtirol, Bessarabien, der Bukowina und der Dobrudscha vor allem in die besetzten polnischen Gebiete sollte nur den Auftakt einer umfassenden ethnischen Neuordnung Europas bilden. Zuständig dafür war der Reichsführer SS Heinrich Himmler (1900–1945), der als Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums die ‚Rassen’-, Bevölkerungs- und Strukturpolitik in Osteuropa koordinierte.
Grundlage dafür sollte der vom Agrarwissenschaftler und Raumplaner Konrad Meyer (1901–1973) entworfene Generalplan Ost sein, der später zum Generalsiedlungsplan erweitert wurde. Er sah die zwangsweise vorgenommene Versklavung und Ermordung sowie die Vertreibung von 37 bis 45 Millionen Juden und Slawen bei gleichzeitiger Ansiedlung von 10 Millionen Deutschen innerhalb von 30 Jahren vor. Die Wannsee-Konferenz (20. Januar 1942) sollte für die von Reinhard Heydrich (1904–1942) geforderte ‚Endlösung der Judenfrage’ durch die geplante Ermordung von elf Millionen Juden in Europa die Zusammenarbeit zentraler Reichsbehörden, Ministerien und dem Militär unter Führung der SS ermöglichen und ein umfassendes Umsiedlungsprogramm zur ethnischen Homogenisierung im Osten in die Wege leiten.
Aufgrund des stockenden Kriegsverlaufs seit dem Winter 1942/43 rückte die Umsetzung der nationalsozialistischen Expansions- und Siedlungspläne in weite Ferne. Umso stärker wurde die Vernichtung der europäischen Juden durch Massenexekutionen und das System der Konzentrations- und Vernichtungslager wie in Bełżec, Kulmhof, Lublin-Majdanek, Sobibór, Treblinka und vor allem Auschwitz/Oświęcim forciert. Waren bis zur Wannsee-Konferenz ca. 500.000 Juden in Europa durch die Nationalsozialisten umgebracht worden, so erhöhte sich die Zahl bis zum Kriegsende auf sechs Millionen. In der radikalen Vernichtungspolitik wurde die verbrecherische Dimension der nationalsozialistischen ‚Volkstumspolitik’ deutlich.
Entwicklungen nach 1945
Die Politik ethnischer Gemeinschaftlichkeit wirkte über 1945 hinaus. Die DDR verstand sich zwar ausdrücklich nicht als ethnisch definierte Gesellschaft, entwickelte aber ein sozialistisches Ideal nationaler Zugehörigkeit, das sich an Klassenzugehörigkeiten, lokalen Heimatbegriffen und regionalen Traditionen orientierte. „Volk“ wurde vornehmlich als emanzipatorische Einheit verstanden, die sich gegen kapitalistische und imperialistische Gesellschaftsmodelle wandte, fungierte aber auch als territorialer und politischer Zusammengehörigkeitsfaktor. Nicht zuletzt die deutschsprachige Exklusivität im sozialistischen Lager und die besondere Rolle an der frontier des Kalten Krieges sorgten für ein nationales Eigenbewusstsein. Die als „Umsiedler“ bezeichneten über vier Millionen Deutschen vor allem aus den abgetretenen Ostgebieten machten zeitweise über 24 Prozent der Bevölkerung der DDR aus.
Während das Kriegsende in der DDR als Teil des antifaschistischen Gründungsmythos interpretiert wurde, basierte seine Deutung in Westdeutschland auf dem Konstrukt einer deutschen ‚Volksgemeinschaft’ als „Opfer- und Schicksalsgemeinschaft“. Die Flucht und Vertreibung von acht Millionen Deutschen aus den abgetretenen Gebieten zwischen 1944/45 und 1950 in die westlichen Besatzungszonen bedeutete eine Herausforderung hinsichtlich ihrer ökonomischen und kulturellen Integration, die durch das Lastenausgleichsgesetz vom 14. August 1952, erleichtert wurde. Der Übersiedlungsprozess selbst sowie die ca. 300.000 in Polen verbliebenen Einwohner, die Ende 1949 von der polnischen Regierung als ‚deutsch’ definiert wurden, verstärkten auch ausgeprägte Bilder einer imaginierten ‚Volksgemeinschaft’ über das Kriegsende hinaus.
Im bundesdeutschen Diskurs konnten Volkstumsforscher wie Max Hildebert Boehm ihre Konzepte „ethnisierender Gesellschaftsentwürfe“ mit gewissen semantischen Anpassungsleistungen weiterführen. Personelle und institutionelle Vernetzungen wirkten als „Kontinuitätsbrücken“ über 1945 hinaus. Der Begriff des „Volkstums“ blieb trotz der Erfahrung nationalsozialistischer Rassenpolitik beispielsweise im § 6 des Bundesvertriebenengesetzes zur Definition der ‚Volkszugehörigkeit’ bestehen. Auch in den Vertriebenenverbänden hatte die kulturelle und ethnische Definition von „Volk“ in Sprache und Politik Bestand.
Erst das Gesetz zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vom 15. Juli 1999 weichte das ‚Abstammungsprinzip’ durch Öffnungen für das ‚Geburtsortsprinzip’ auf und ermöglichte für in Deutschland geborene Kinder von Ausländern, die mindestens acht Jahre in Deutschland gelebt hatten und eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung besaßen, den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft. Im Jahr 2000 wurden auch großzügigere Ausnahmeregelungen für doppelte Staatsbürgerschaften zugelassen, während Neugeborene von deutschen Staatsbürgern im Ausland nicht mehr automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft erhielten. Die weiteren Novellen der Zuwanderungsgesetze vom 30. Juli 2004 und vom 19. August 2007 sowie des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes vom 13. November 2014 unterstrichen die Öffnung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechtes hin zum Territorialstaatsprinzip bei gleichzeitiger Aufweichung historischer Bezüge und ethnischer Zugehörigkeit als Voraussetzung für die deutsche Staatsangehörigkeit.
3. Bibliographische Hinweise
Literatur
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- Wolfgang Emmerich: Zur Kritik der Volkstumsideologie. Frankfurt/M. 1971.
- Dieter Gosewinkel: Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland. Göttingen 22003 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 150).
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- Ulrich Herbert: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge. München 2001.
- Herbst, Ludolf: Das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945. Die Entfesselung von Gewalt, Rassismus und Krieg, Frankfurt/Main 1996.
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- Brian Vick: Defining Germany. The 1848 Frankfurt Parliamentarians and National Identity.Boston/Mass. 2002.
- Peter Walkenhorst: Nation-Volk-Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890–1914. Göttingen 2007.
- Peter Weingart, Jürgen Kroll, Kurt Bayertz (Hg.): Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt/M. 1988.
Anmerkungen
[1] Friedrich Ludwig Jahn: Deutsches Volkstum. Breslau 1935 [1810], S. 13.
[2] Echternkamp: Aufstieg, S. 223.
[3] Johann Gottlieb Fichte: Reden an die deutsche Nation (1808). In: Fichtes Werke. Hg. v. Imanuel Hermann Fichte. Bd. 7. Berlin 1845/46 (ND Berlin 1971), S. 359ff.
[4] Wilhelm Heinrich Riehl: Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik. Bd. 1. Stuttgart, Augsburg 1854, S. 9.
[5] Friedrich Ratzel: Der Lebensraum. Eine biogeographische Studie. Tübingen 1901.
[6] Lutz Raphael: Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderungen für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts. In: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165–193.
[7] Heinrich von Treitschke: Unsere Aussichten. In Preußische Jahrbücher 44 (1879). H. 5, S. 560–576, hier S. 575.
[8] Eugen Dühring: Die Judenfrage als Frage der Racenschädlichkeit für Existenz, Sitte und Cultus der Völker, Berlin 41892.
[9] Walkenhorst: Nation-Volk-Rasse, S. 165.
[10] Paul Langhans (Hrsg.): Justus Perthes Alldeutscher Atlas, Gotha 1900, S. 2. Zum Begriff siehe Ders.: Die Volkszahl der Deutschen.In: Alfred Geiser (Hrsg.): Deutsches Reich und Volk. Ein nationales Handbuch. München 1906, S. 217–212.
[11] Stefan Manz: Constructing a German Diaspora. The „Greater German Empire“ 1871–1914. New York, London 2014, S. 13.
[12] Heinrich Claß: Zum deutschen Kriegsziel. Eine Flugschrift. München 1917, S. 47.
[13] Gosewinkel: Einbürgern und Ausschließen, S. 343.
[14] Vgl. Jochen Oltmer: Migration in der Weimarer Republik. Göttingen 2006, S. 100f.
[15] Hans Grimm: Volk ohne Raum. 2 Bde. München 1926.
[16] Arthur Moeller van den Bruck: Das dritte Reich. Berlin 1923.
[17] Wolfang Seibel: Polykratische Integration: Nationalsozialistische Spitzenbeamte als Netzwerker in der deutschen Besatzungsverwaltung in Belgien 1940–1944. In: Sven Reichhardt, Wolfgang Seibel (Hg.): Der Prekäre Staat. Herrschen und Verwalten im Nationalsozialismus. Frankfurt/M. 2011, S. 243.
[18] Hans Mommsen: Der Nationalsozialismus. Kumulative Radikalisierung und Selbstzerstörung des Regimes. In: Meyers Enzyklopädisches Lexikon. Bd. 16. Mannheim 1976, S. 785–790.
[19] Constantin Goschler: „Versöhnung“ und „Viktimisierung“. Die Vertriebenen und der deutsche Opferdiskurs, In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 53 (2005), H, 10. S. 873–884, hier S. 875.
[20] Für die Zahlen vgl. Hugo Service: Germans to Poles. Communism, Nationalism, and Ethnic Cleansing after the Second World War. Cambridge 2013, S. 124.
[21] Ulrich Prehn: Max Hildebert Boehm. Radikales Ordnungsdenken vom Ersten Weltkrieg bis in die Bundesrepublik. Göttingen 2013, S. 382, 377.
Zitation
Björn Hofmeister: Volkstum. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2018. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32692 (Stand 14.09.2021).
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