Böhmische Brüder
1. Genese
Begriff
Der im Deutschen seit langem gebräuchliche Gruppenbegriff ‚Böhmische Brüder‘ umfasst Angehörige, Männer wie Frauen, einer sich in Böhmen und Mähren während der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts etablierenden Religionsgemeinschaft. Die geographisch genauere, bereits in der Frühen Neuzeit zu findende Benennung „Böhmisch-Mährische Brüder"[1] hat sich in der Forschung nicht durchsetzen können. Dass sich die Mitglieder schon der ersten Gemeinden untereinander als Brüder und Schwestern anredeten, entsprach ihrem theologischen Selbstverständnis, an Vorstellungen und Gebräuche des Urchristentums anzuknüpfen.
Träger, Gebrauch
Neben der Benennung nach den Orten einzelner Gemeinden („Kunwalder Brüder“) sind in den frühen Bekenntnisschriften die Selbstbezeichnungen „Brüder des Gesetzes Christi“ (fratres legis Christi) und „Brüder vom Orden Christi“ (bratří zákona Kristova) zu finden, die bereits die Bedeutung des Neuen Testaments für Lehre und Lebensführung der Brüder zum Ausdruck bringen. Erst allmählich bildete sich für die Gesamtheit der Gemeinden ein eigener Begriff heraus: Die „brüderliche Vereinigung“ (jednota bratrská, unitas fratrum, Brüderunität) verstand sich stets als bloße Teilkirche der einen allgemeinen Kirche Christi. Vor allem in lateinischen und deutschen Schriften, die sich an Leser außerhalb der böhmischen Länder richteten, wurde nach 1600 die Eigenbezeichnung „Böhmische Brüder“ zunehmend geläufig.
Namen und fremdsprachige Entsprechungen
Aufgrund der Gepflogenheit der Inquisition, neue religiöse Bewegungen mit bereits von der Kirche verurteilten alten Häresien zu identifizieren, wurden die Böhmischen Brüder von ihren Gegnern in Anlehnung an die im 15. Jahrhundert aus der französischen Picardie nach Böhmen gezogenen Glaubensflüchtlinge als ‚Pikarden‘ (Pikharten, Picardi Bohemiae) oder als Waldenser bezeichnet; die Bezeichnung ‚Pikarden‘ findet sich regelmäßig in obrigkeitlichen Erlassen gegen die Brüder. Mit den deutschen und piemontesischen Waldensern suchten die Böhmischen Brüder tatsächlich wiederholt Kontakt, da sie annahmen, dass die Ursprünge der Waldenser bis in die Apostelzeit zurückreichten. Auch andere Ketzernamen wurden auf die Brüder übertragen.
Die Existenz brüderischer Exilgemeinden besonders in Polen, die Begründung der Herrnhuter Brüdergemeine in der Oberlausitz im 18. Jahrhundert und deren spätere Niederlassung in den böhmischen Ländern und schließlich die Entstehung neuzeitlicher, brüderische Traditionen aufnehmender Kirchen in der Tschechoslowakei nach dem Ersten Weltkrieg tragen bis zur Gegenwart zu einer Begriffsverwirrung bei, die durch Übersetzungen von Fachliteratur oft noch verstärkt wird. Die in Polen seit dem 16. Jahrhundert lebenden Brüder böhmischen Ursprungs sind nicht zu verwechseln mit den „Polnischen Brüdern“ (Bracia Polscy), einer eigenständigen, stark vom antitrinitarischen Sozinianismus geprägten Religionsgemeinschaft. In der 1722 durch Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700–1760) in Herrnhut begründeten „Erneuerten Brüderunität“, die an das Erbe der alten Unitas Fratrum anknüpfte, gewann der Name „Mährische Brüder“ eine ganz eigene Bedeutung.[2] Die Gemeinden der Herrnhuter, die nach 1862 auch in Böhmen Fuß gefasst hatten, durften sich nach Gründung der Tschechoslowakischen Republik 1918 „Brüderunität“ (Jednota bratrská) nennen. An das brüderische Erbe knüpften dort auch die 1918/19 von tschechischen reformierten und lutherischen Gemeinden gebildete „Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder“ (Českobratrská cirkev evangelická) sowie verschiedene Freikirchen an.
2. Definition
Die Unität der Böhmischen Brüder, eine in Böhmen und Mähren nach 1450 aus verschiedenen Reformgruppen des Hussitismus entstandene Religionsgemeinschaft mit eigenen Bischöfen, Priestern und Diakonen, besaß schon lange vor der lutherischen Reformation einen beachtlichen Organisationsgrad und eine ausgeprägte Lehrtradition. In ihrem Mutterland war sie bis Anfang des 17. Jahrhunderts, als ihre Gemeinden im Zuge des verfassungsrechtlichen Systemwechsels in den böhmischen Ländern aufgelöst wurden, neben der utraquistischen Kirche die zweite aus der hussitischen Bewegung hervorgegangene Konfession. Die anfangs mehrheitlich in dörflicher Gemeinschaft lebenden, später auch in städtischen Gemeinden aktiven Brüder lebten in bewusster Distanz zur Gesellschaft streng nach dem Evangelium, lehnten Sakramente und Priestertum der Katholiken und Utraquisten ab und verpflichteten sich zu einem in Glaube, Liebe und Hoffnung verankerten demütigen Leben. Geleitet wurde die Unität von Synoden und einem Rat der Bischöfe und Ältesten (Senioren).
3. Lehre und kirchenamtliche Strukturen
Charakteristisch für die Brüderunität als eigenständige Kirche waren ihre entschiedene Ablehnung von Gewalt in Glaubenssachen wie in Fragen der gesellschaftlichen Ordnung, eine radikale Festlegung auf das Schriftprinzip, christlicher Ökumenismus, Vereinfachung der Zeremonien, Betonung der Kindererziehung und religiösen Unterweisung in den als Lebens- und Dienstgemeinschaft verstandenen Gemeinden sowie Dreiteilung der Brüdergemeinschaft in incipientes, proficientes und perfecti. Kontakte bestanden ins lutherische Wittenberg ebenso wie zu dem Straßburger Reformator Martin Bucer (1491–1551). Eine Ferdinand I. (1503–1564) im Jahr 1535 auf Tschechisch vorgelegte Konfession, die den böhmischen König von der Rechtgläubigkeit der Brüder überzeugen sollte, erschien drei Jahre später in lateinischer Sprache mit einem Vorwort Martin Luthers; sie blieb die Grundlage aller Überarbeitungen des Brüderbekenntnisses bis Anfang des 17. Jahrhunderts.
Die durch die Synodalbeschlüsse von 1494 revidierte brüderische Kirchenverfassung erfuhr in der Folgezeit nur noch geringfügige Veränderungen. Höchstes Leitungsgremium war der „Enge Rat“, dem die – in der Regel vier – Bischöfe der Unität und acht bis zwölf weitere „Älteste“ aus dem brüderischen Priesterstand angehörten, die auf Lebenszeit gewählt wurden. Der Vorsitz des zentralen Kontroll- und gesetzgebenden Organs, das sich gegenüber der Synode, der aus allen Kirchendienern der Unität (Senioren, Priestern, Diakonen, Akoluthen) bestehenden Versammlung, zu verantworten hatte, oblag dem „Richter“, das heißt dem jeweils ältesten der amtierenden Bischöfe. In den Einzelgemeinden gab es neben dem Priester und dessen geistlichen Gehilfen weitere Amtsträger, die auf Kirchenzucht und Einhaltung der Ordnungen achteten und die Almosen verwalteten. Der polnische Zweig der Unität wählte eigene Senioren (die Amtsbezeichnung Bischof war hier unüblich) und – beginnend mit Daniel Ernst Jablonski (1660–1741), einem Enkel von Johann Amos Comenius (Komenský, 1592–1670) – einen „auswärtigen Senior“. Jablonski war es auch, von dem Zinzendorf 1737 die Bischofsweihe erhielt.
4. Historischer Abriss
Im Zuge der hussitischen Revolution zerbrach in Böhmen innerhalb von weniger als zwei Jahrzehnten die Einheit der kirchlichen Lehre und des kanonischen Rechts. Die Erschütterung der alten Ordnung ging hier sehr viel weiter als bei vergleichbaren Bewegungen in der lateinischen Christenheit, die vor der Reformation allgemein als Häresien bezeichnet wurden. In der Folge entstand ein breites Spektrum neuer religiöser Strömungen – und damit die fortwährende Herausforderung zu einem Ausgleich zwischen den einzelnen Gruppen und zu öffentlicher Toleranz. Diese religiöse und zwangsläufig auch politisch-gesellschaftliche Auseinandersetzung prägte die zweihundertjährige Epoche der „Böhmischen Reformation“ (česká reformace), die zugleich die engere Wirkungsgeschichte der Böhmischen Brüder in ihrem Herkunftsland markiert.
Entstehung, Konsolidierung und Abgrenzung (1450er Jahre bis 1548)
Neben den beiden stärksten, gesetzlich anerkannten Glaubensparteien im Land, dem Utraquismus und dem Katholizismus, bildete sich die Unitas Fratrum in Böhmen während der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts als eine dritte, im Landrecht allerdings nicht verankerte Konfession heraus. Eine klare Distanzierung von der utraquistischen Kirche, der die neue, fast ausschließlich aus Laien bestehende Bewegung eine wachsende Annäherung an Rom zum Vorwurf machte, erfolgte 1467 auf der Brüderversammlung im ostböhmischen Dorf Lhotka bei Reichenau an der Kněžna / Rychnov nad Kněžnou, auf der erstmals – nach apostolischem Vorbild durch das Los – eigene Priester gewählt wurden. Während die erste Generation der Brüder noch überwiegend aus einfachsten Lebensverhältnissen stammte, lassen sich bereits in der zweiten Generation zahlreiche gebildete Männer und Frauen sowie Angehörige des Ritter- und Herrenstandes identifizieren. Dies hatte zur Folge, dass zu den bisherigen, bewusst in ländlicher Abgeschiedenheit und außerhalb der gängigen Sozialordnung gebildeten Gemeinden neue, unter dem Schutz des Adels stehende städtische Gemeinden, oft mit eigenen Versammlungs- und Bethäusern (sbory), entstanden. Die Brüder erhielten steten Zuzug aus utraquistischen Gemeinden im Land, aber auch von auswärtigen Gläubigen, etwa Waldensern aus der Mark Brandenburg. Auch Lukas von Prag (um 1460–1528), der bedeutendste Theologe der Unität in jener Phase, war ein ehemaliger „Kelchner“ (lat. calix, Kelch; Anhänger der gemäßigten Richtung der Hussiten, die den Laienkelch beim Abendmahl gefordert hatten; siehe auch „Utraquisten“). Es wird geschätzt, dass die Gesamtzahl der Brüder, die um 1480 noch bei 1.000–2.000 lag, bis zur Wende zum 16. Jahrhundert auf rund 10.000 anstieg.
Zur Gruppen- und Identitätsbildung der Brüder trugen auch die Verfolgungen bei, die bereits 1461 einsetzten, als König Georg von Podiebrad (1420–1471) die Ketzerdekrete Karls IV. (1316–1378) erneuerte, um sein angespanntes Verhältnis zum Papsttum zu entlasten. Als besonders wirkmächtig erwies sich das sogenannte St.-Jakobs-Mandat König Vladislavs II. (1456–1516) gegen die „Pikarden“, dem die katholischen wie die utraquistischen Stände auf dem böhmischen Landtag 1508 zugestimmt hatten. Das bis 1602 mehrfach erneuerte Mandat untersagte den Brüdern jede öffentliche Religionsausübung und verfügte empfindliche Einschränkungen ihres Gemeindelebens. Für Glaubenslehre und Volkspredigt gewannen daher die in eigenen Druckereien hergestellten Traktate, Erbauungsschriften und Gesangbücher, die als lateinische und deutsche Ausgaben auch außerhalb Böhmens und Mährens Verbreitung fanden und den Austausch mit Luther (1483–1546), Bucer (1491–1551) und anderen Reformatoren intensivierten, zunehmend an Bedeutung. Das Heraustreten aus der Abgeschiedenheit erhöhte allerdings das Risiko, in die konfessionspolitischen Auseinandersetzungen, die sich in den 1540er Jahren bedrohlich zuspitzten, hineingezogen zu werden.
Wie sehr die Spannungen zwischen Utraquisten, Brüdern und Lutheranern sowie regionale Differenzen zwischen den böhmischen Ländern die Ständeopposition gegen den Landesherrn schwächten, der adlige und städtische Mitsprache- und Kontrollrechte zurückzudrängen suchte, wurde beim Scheitern der antihabsburgischen Ständeerhebung von 1546/47 deutlich. Die Konfiskation der Güter des aufständischen Brüderadels hatte zur Folge, dass die Unitätsgemeinden an vielen Orten unter die direkte Herrschaft des Königs kamen und damit verstärkter Verfolgung ausgesetzt waren. Auch im städtischen Raum wurde das Leben der tschechischen und deutschen Gemeindemitglieder nahezu vollständig unterdrückt. Zahlreiche brüderische Priester und Gläubige wurden verhaftet, gefoltert und eingekerkert; Bischof Jan Augusta (1500–1572) hielt man 16 Jahre lang auf Burg Křivoklat gefangen. Ein Teil der Brüder in Böhmen entschied sich in dieser Situation zur Emigration nach Mähren, aber auch nach Polen und Preußen.
Neuausrichtung und Politisierung (1548–1609)
Die Formierung einer auf politischer Ebene gemeinsam agierenden evangelischen Religionspartei – und in diesem Zusammenhang das Bemühen um eine Legalisierung der Brüder und Lutheraner – war bestimmend für die böhmische Innen- und Konfessionspolitik der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Mit der Confessio Bohemica, die auf dem Prager Landtag von 1575 ausgearbeitet wurde, legten die verschiedenen evangelischen Gruppen Böhmens einschließlich der Brüder sogar eine gemeinsame Bekenntnisschrift vor. Die theologischen und kirchenrechtlichen Meinungsverschiedenheiten namentlich mit der Brüderunität, die strikt an einer selbständigen Kirchenorganisation festhielt, blieben jedoch auch weiterhin ein Stein des Anstoßes. Seinen Höhepunkt fand der durch die einsetzende Rekatholisierung beflügelte Solidarisierungs- und Formierungsprozess 1609 mit dem böhmischen Majestätsbrief Kaiser Rudolfs II. (1552–1612) für freie Religionsausübung und dem ebenfalls in die Landtafel eingetragenen „Vergleich“ zwischen den Ständen sub una et sub utraque. Durch den Majestätsbrief, der die Confessio Bohemica als Bekenntnisgrundlage einer evangelischen Kirchenorganisation in Böhmen billigte, wurde die Unität der Böhmischen Brüder erstmals gesetzlich und kirchenamtlich anerkannt.
Innerhalb des böhmischen Länderverbands hatte die Unität den Schwerpunkt ihres Wirkens nach 1548 in die Markgrafschaft Mähren verlagert, die sich nicht am Aufstand beteiligt hatte und insofern auch keine Böhmen vergleichbaren Verfolgungen kannte. Die religiöse Vielfalt Mährens, die Vorstellungen von konfessioneller Koexistenz und Toleranz begünstigte, war zugleich der Schulbildung, dem Buchdruck und der Kultur förderlich. Das eigene Schulwesen der Brüder, das sich an modernen protestantisch-humanistischen Lateinschulen orientierte, stand auch Schülern offen, die keinen Priesterberuf anstrebten. Ihr Schrifttum erreichte in den Volkssprachen Tschechisch und Deutsch auch Bürger und Bauern. Hervorzuheben ist überdies das Werk des Brüderbischofs Jan Blahoslav (1523–1571), der zahlreiche Schriften zur Geschichte, Literatur- und Musiktheorie verfasste und mit seiner 1571 nach zwanzigjähriger Arbeit abgeschlossenen Gramatika česká (Tschechische Grammatik) einen Grundstein der tschechischen Sprachwissenschaft legte. Größten Ruhm erwarb er als Bibelübersetzer: Die unter Leitung Blahoslavs begonnene, mit einem Kommentar versehene Übersetzung der Heiligen Schrift, die zwischen 1579 und 1594 in sechs Bänden in dem Dorf Kralitz/Kralice bei Brünn/Brno gedruckt wurde, erfuhr sogleich große Verbreitung. Die Sprache der Kralitzer Bibel blieb bis zum frühen 19. Jahrhundert die Richtschnur der tschechischen Literatursprache.
Ein eigener Zweig der Unität, der sich schon bald verselbständigen sollte, entwickelte sich nach der Emigration zahlreicher Brüder Mitte des 16. Jahrhunderts in Polen-Litauen. Zum Zentrum der Kirchenleitung wurde Lissa/Leszno, wo allein rund 800 Brüder eine neue Heimat fanden. 1570 ging die Unität eine brüderliche Vereinigung (fraterna coniunctio) mit anderen Bekenntnisgemeinschaften ein. In dem auf einer gesamtevangelischen Synode in Sandomir/Sandomierz geschlossenen und nach dieser benannten Consensus Sendomiriensis bestätigten sich Böhmische Brüder, Reformierte und Lutheraner gegenseitig ihre Rechtgläubigkeit, ohne ihre Eigenständigkeit als gesonderte Kirchen preiszugeben. Dass sich der polnische Zweig der Unität, der in der Adelsrepublik – anders als im böhmischen Mutterland – die Zeit des Dreißigjährigen Krieges überlebte, schrittweise der reformierten Kirche öffnete, zeichnete sich gleichwohl schon frühzeitig ab. Die um 1700 noch existierenden 15 brüderischen Gemeinden der polnischen Unität hatten sich längst den Reformierten angeschlossen und einzig aus Gründen der Tradition den älteren Namen beibehalten.
Legalisierung und Liquidierung (1609–1628)
Unter dem Schutz des rudolfinischen Majestätsbriefs konnte die Unität nach 1609 in Prag/Praha, in den königlichen Städten und auf dem Land wieder öffentliche Gottesdienste abhalten. Im neugestalteten Konsistorium an der Theynkirche in der Prager Altstadt waren die Brüder angemessen vertreten; der obersten evangelischen Kirchenbehörde oblag die Aufsicht über die Geistlichkeit, die Ordination neuer Geistlicher und die Bestätigung der jeweiligen Besetzung von Pfarr- und Predigerstellen. Auch mit Blick auf die literarische und verlegerische Arbeit der Unität stellt das zweite Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts, in dem die letzte Revision der Kralitzer Bibelübersetzung erschien (1613), eine Blütezeit dar.
Auch wenn die Brüder nicht „Calviniani ante Calvinum“ waren,[3] wie es namentlich lutherische Theologen behaupteten, so ist die Annäherung der Unität in Böhmen und Mähren an das Reformiertentum doch unbestreitbar: in Gemeindeaufbau und Kirchenzucht ebenso wie in Studienorten, Buchdruck und Liedgut in tschechischer, lateinischer und deutscher Sprache. Hinzu kam der Einfluss der großpolnischen Unität. Die Reformierten betrachteten die Unität ohnehin als zu ihnen gehörig und nahmen die lateinische Konfession der Brüder von 1535 ohne deren Wissen in ihre Sammlungen symbolischer Bücher auf. Gegen die zunehmende Ausrichtung nach Genf gab es freilich starke Widerstände von denjenigen, die eine Rückbesinnung auf den früheren apolitischen Weg anmahnten und eine Zuspitzung der innenpolitischen Krise befürchteten. Die reformierten Netzwerke trugen das Ihre zum Ständeaufstand 1618 und besonders zur Wahl Friedrichs V. von der Pfalz (1596–1632), des mächtigsten reformierten Territorialherrn in Mitteleuropa, zum böhmischen König im Folgejahr bei. Gekrönt wurde er am 4. November 1619 im Prager Veitsdom vom Brüderbischof Jan Cyrill (1569–1632) und dem utraquistischen Administrator Jiří Dikastus (um 1560–1630).
5. Kontroversen/Forschung
Nach den mitunter heftigen, für das konfessionelle Zeitalter freilich nicht untypischen Polemiken von katholischer, aber auch von utraquistischer und lutherischer Seite standen die Böhmischen Brüder erneut während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts im Zentrum öffentlich ausgetragener Kontroversen. Es waren vor allem erinnerungskulturelle, in einem dezidiert nationalen Kontext stehende Auseinandersetzungen, die durch die Spannungen zwischen Tschechen und Deutschen in der österreichischen Monarchie zusätzliche Dynamik erfuhren. František Palacký (1798–1876) wie auch Tomáš Garrigue Masaryk (1850–1937), die führenden Köpfe der tschechischen Nationalbewegung, stellten ihre politischen Emanzipationsbestrebungen in eine direkte Beziehung zur hussitischen Revolution und zur brüderischen Tradition. Die Reformationsepoche stand im Zentrum eines große Teile der Öffentlichkeit beschäftigenden Disputs um den „Sinn der tschechischen Geschichte“ (smysl českých dějin). Während Jan Hus (um 1369–1415) zum Vorkämpfer moderner Humanität und Demokratie stilisiert wurde, verklärte man die Brüderunität und ihren letzten Bischof Johann Amos Comenius zur edelsten Blüte des reformatorischen Aufbruchs in Böhmen und Mähren. Das religiös-theologische Vermächtnis Comenius’ wurde weitgehend säkularisiert, aktuellen Zeitbedürfnissen angepasst und zum Baustein ideologischer Konzepte in Staat und Gesellschaft gemacht. Wie bei keiner anderen Figur der eigenen Vergangenheit sah man im leidvollen Lebensweg des großen Brüdertheologen das Schicksal der ganzen Nation. Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein war Comenius, als Repräsentant einer verfolgten und unterdrückten Minderheit, weit über Böhmen hinaus Lichtfigur und Hoffnungsträger für die Sehnsüchte der kleinen Völker im östlichen Mitteleuropa.[4]
Die Aufmerksamkeit, die die Böhmischen Brüder in der Öffentlichkeit fanden, kam gleichzeitig der Forschung zugute. Nicht nur Kirchenhistoriker und Theologen, auch mehrere Generationen von Allgemeinhistorikern – von Antonín Gindely (1829–1892), einem Schüler Palackýs, über Kamil Krofta (1876–1945) bis hin zu Otakar Odložilík (1899–1973), einem der führenden Vertreter der tschechoslowakischen Geschichtsforschung in der Zwischenkriegszeit – widmeten einen beträchtlichen Teil ihres Werkes Fragen der Reformationsepoche und speziell der Brüdergeschichte. Eine völlig neue Situation ergab sich infolge der politisch-ideologischen Umwälzungen nach 1945. Der Umfang kirchen- und religionsgeschichtlicher Forschungen nahm zwar stetig ab; die institutionell und personell vergleichsweise gut ausgestattete Comenius-Forschung bot jedoch weiterhin eine wichtige, auch Dissidenten offen stehende Plattform für Studien zu Reformation, konfessionellem Zeitalter und brüderischem Erbe. Profitierten andere historische Disziplinen und Teilgebiete von der Neuausrichtung der tschechischen Wissenschaft nach der politischen Wende von 1989, so ist bei den hier im Zentrum stehenden Fragen eher ein Rückgang des fachlichen und öffentlichen Interesses zu beobachten.[5] Neue Impulse für die Erforschung der Böhmischen Brüder verspricht die 2011 durch eine deutsch-tschechische Kommission begonnene Erschließung der 14 Foliobände umfassenden Acta Unitatis Fratrum, des bedeutendsten Quellenkorpus zur Geschichte der alten Brüderunität.[6]
6. Bibliographische Hinweise
Literatur
- Craig D. Atwood: The Theology of the Czech Brethren from Hus to Comenius. University Park, Pa. 2009.
- Joachim Bahlcke, Winfried Eberhard, Miloslav Polívka (Hg.): Handbuch der historischen Stätten. Böhmen und Mähren. Stuttgart 1998 (Kröners Taschenausgabe 329).
- Joachim Bahlcke: Die böhmische Brüder-Unität und der reformierte Typus der Reformation im östlichen Europa. In: Comenius-Jahrbuch 161–7 (2008/09), S. 11–23.
- Joachim Bahlcke: Geschichte Tschechiens. München 2014.
- F[rantišek] M[ichálek] Bartoš: Bojovníci a mučedníci [Kämpfer und Märtyrer]. 2. Aufl. Praha 1946 (1. Aufl. 1939).
- Jaroslav Bidlo: Jednota bratrská v prvním vyhnanství [Die Brüderunität in der ersten Vertreibung]. Bd. 1–4. Praha 1900–1932.
- Peter Brock: The Political and Social Doctrines of the Unity of Czech Brethren in the Fifteenth and Early Sixteenth Centuries. The Hague 1957.
- Jolanta Dworzaczkowa: Bracia czescy w Wielkopolsce w XVI i XVII wieku [Die Böhmischen Brüder in Großpolen im 16. und 17. Jahrhundert]. Warszawa 1997.
- Winfried Eberhard: Reformatorische Gegensätze, reformatorischer Konsens, reformatorische Formierung in Böhmen, Mähren und Polen. In: Joachim Bahlcke, Hans-Jürgen Bömelburg, Norbert Kersken (Hg.): Ständefreiheit und Staatsgestaltung in Ostmitteleuropa. Übernationale Gemeinsamkeiten in der politischen Kultur vom 16.–18. Jahrhundert. Leipzig 1996, S. 187–215.
- Henryk Gmiterek: Bracia czescy a kalwini w Rzeczypospolitej (połowa XVI – połowa XVII wieku). Studium porównawcze [Böhmische Brüder und Calvinisten in der Adelsrepublik (Mitte des 16. bis Mitte des 17. Jahrhunderts). Eine vergleichende Studie]. Lublin 1987.
- Jindřich Halama: Sociální učení českých bratři 1464-1618 [Die Soziallehre der Böhmischen Brüder 1464–1618]. Brno 2003.
- Ferdinand Hrejsa: Sborové Jednoty bratrské [Die Gemeinden der Brüderunität]. Praha 1935 [= 1939].
- Jiří Just: 9.7.1609. Rudolfův Majestát. Světla a stíny náboženské svobody [9.7.1609. Der Majestätsbrief Rudolfs II. Licht und Schatten der Religionsfreiheit]. Praha 2009.
- Franz Machilek: Böhmische Brüder. In: Theologische Realenzyklopädie 7 (1981), S. 1–8.
- Dietrich Meyer: Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine 1700-2000. Göttingen 2000.
- Amedeo Molnár: Boleslavští bratří [Die Bunzlauer Brüder]. Praha 1952.
- Amedeo Molnár: Böhmische Reformation. In: Pavel Filipi u.a. (Hg.): Tschechischer Ökumenismus. Historische Entwicklung. Praha 1977, S. 81–144.
- Joseph Th[eodor] Müller: Geschichte der Böhmischen Brüder. Bd. 1-3. Herrnhut 1922–1931.
- Otakar Odložilík: A Church in a Hostile State: The Unity of Czech Brethren. In: Central European History 6 (1973), S. 111–127.
- Erhard Peschke: Die Theologie der Böhmischen Brüder in ihrer Frühzeit. Bd. 1/1: Das Abendmahl. Untersuchungen. Stuttgart 1935 (Forschungen zur Kirchen- und Geistesgeschichte 5).
- Noemi Rejchrtová: „Das Land, das ich dir zeige“. Die Brüder-Unität im 15.–17. Jahrhundert und ihre Emigranten. In: Martin Prudký (Hg.): Landgabe. Festschrift für Jan Heller zum 70. Geburtstag. Praha 1995, S. 238–244.
- Rudolf Říčan: Dějiny Jednoty bratrské [Geschichte der Brüderunität]. Praha 1957 (dt. Berlin 1961, Basel 2007).
- Rudolf Říčan (Hg.): Bratrský sborník [Sammelband zur Brüderunität]. Praha 1967.
- Martina Thomsen: „Wider die Picarder“. Diskriminierung und Vertreibung der Böhmischen Brüder im 16. und 17. Jahrhundert. In: Joachim Bahlcke (Hg.): Glaubensflüchtlinge. Ursachen, Formen und Auswirkungen frühneuzeitlicher Konfessionsmigration in Europa. Berlin 2008 (Religions- und Kulturgeschichte in Ostmittel- und Südosteuropa 4), S. 145–164.
- Martin Wernisch (Hg.): Unitas Fratrum 1457-2007. Jednota bratrská jako kulturní a duchovní fenomén [Unitas Fratrum 1457–2007. Die Brüderunität als kulturelles und geistliches Phänomen]. Praha 2009.
Quellen
- Jaroslav Bidlo (Hg.): Akty Jednoty bratrské [Die Akten der Brüderunität]. Bd. 1–2. Brno 1915–1923 (Prameny dějin moravských 3–4).
- Joseph Fiedler (Hg.): Todtenbuch der Geistlichkeit der Böhmischen Brüder. In: Fontes rerum Austriacarum. Oesterreichische Geschichts-Quellen, Abt. 1: Scriptores. Bd. 5. Wien 1863.
- Anton Gindely (Hg.): Dekrety Jednoty bratrské [Synodalbeschlüsse der Brüderunität]. Praha 1865.
- Anton Gindely (Hg.): Quellen zur Geschichte der böhmischen Brüder, vornehmlich ihren Zusammenhang mit Deutschland betreffend. Wien 1859 (Fontes Rerum Austriacarum 2/19).
- Jaroslav Goll (Hg.): Quellen und Untersuchungen zur Geschichte der Böhmischen Brüder. Bd. 1–2. Prag 1878–1882.
- Jiří Just (Hg.): „Hned jsem k Vám dnes naschvalí poslíka svého vypravil“. Kněžská korespondence Jednoty Bratrské z českých diecézí z let 1610–1618 [„Ich habe heute gleich einen Boten zu Euch gesandt“. Die bischöfliche Korrespondenz der Brüderunität aus den böhmischen Diözesen der Jahre 1610–1618]. Praha 2011 (Archiv Matouše Konečného I/1).
- Jiří Just, Martin Rothkegel: Confessio Bohemica. 1575/1609. In: Andreas Mühling, Peter Opitz (Hg.): Reformierte Bekenntnisschriften. Bd. 3/1. Neukirchen-Vluyn 2012, S. 47–176.
- Amedeo Molnár: Českobratrská výchova před Komenským [Das Erziehungswesen der Böhmischen Brüder vor Comenius]. Praha 1956.
- Michael Rohde: Luther und die Böhmischen Brüder nach den Quellen. Brno 2007 (Pontes Pragenses 45).
- Maria Sipayłło (Hg.): Akta synodów różnowierczych w Polsce [Synodalbeschlüsse der Andersgläubigen in Polen]. Bd. 4: Wielkopolska 1569–1632 [Großpolen 1569–1632]. Warszawa 1997.
Periodika
- Acta Comeniana (Praha, 1969ff)
- Comenius-Jahrbuch (Sankt Augustin, 1993ff)
- Communio viatorum (Prague, 1958ff)
- Reformační sborník. Práce z dějin československého života náboženského [Reformations-Sammelband. Arbeiten aus der Geschichte des tschechoslowakischen religiösen Lebens] (Bd. 1–8, Praha 1921–1941 [1946])
- Studia Comeniana et historica (Uherský Brod, 1971ff)
- Teologická reflexe [Theologische Reflexion] (Praha, 1995ff)
- Unitas Fratrum. Zeitschrift für Geschichte und Gegenwartsfragen der Brüdergemeine (Herrnhut, 1977ff)
- Z kralické tvrze [Aus der Burg Kralitz] (Brno, 1967ff)
Anmerkungen
[1] Joh[ann] Gottlob Carpzov: Religions-Untersuchung der Böhmisch- und Mährischen Brüder, von Anbeginn ihrer Gemeinden, bis auf gegenwärtige Zeiten. Leipzig 1742.
[2] Edita Sterik: Mährische Brüder, böhmische Brüder und die Brüderunität. In: Unitas Fratrum. Zeitschrift für Geschichte und Gegenwartsfragen der Brüdergemeine 48 (2001), S. 106–114.
[3] Vgl. exemplarisch Joh[ann] Christoph Koecher: Die drey Letzte und Vornehmste Glaubens-Bekenntnisse der Böhmischen Brüder [...]. Franckfurt, Leipzig 1741, S. 488f.
[4] Joachim Bahlcke, Lenka Řezníková: Johann Amos Comenius. In: Joachim Bahlcke, Stefan Rohdewald, Thomas Wünsch (Hg.): Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Konstitution und Konkurrenz im nationen- und epochenübergreifenden. Berlin 2013, S. 693–708.
[5] Joachim Bahlcke: Die tschechische und slowakische Geschichtsschreibung zu Reformation und konfessionellem Zeitalter vom Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart. In: Archiv für Reformationsgeschichte 100 (2009), S. 155–174.
[6] Martin Rothkegel: Editionsprojekt Acta Unitatis Fratrum. In: Comenius-Jahrbuch 19 (2011), S. 241–244.
Zitation
Joachim Bahlcke: Böhmische Brüder. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2014. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32846 (Stand 30.09.2021).
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