Europäisches Netzwerk Erinnerung und Solidarität/European Network Remembrance and Solidarity

1. Kurzbeschreibung

Das 2005 gegründete Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität/European Network Remembrance and Solidarity (ENRS) mit Sitz in Warschau/Warszawa ist ein Akteur der europäischen Erinnerungskultur. Arbeitsschwerpunkte sind die Durchführung und Begleitung international konzipierter Bildungsprojekte sowie wissenschaftlicher Vorhaben über die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert und deren Nachwirkungen. 

2. Ziel, Gegenstand, Aufgabe, Schwerpunkte

Gemäß der Erklärung von 2005 (s. u.) wurde das ENRS mit dem Ziel gegründet, „eine gemeinsame, ausschließlich vom europäischen Geist der Versöhnung getragene Analyse, Dokumentation und Verbreitung der Vergangenheit zu unterstützen, die Geschichte der Völker Europas miteinander zu verbinden, zur Entwicklung einer europäischen Erinnerungskultur beizutragen, um damit die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den beteiligten Staaten zu festigen“.

Gegenstand des ENRS ist die „Geschichte des 20. Jahrhunderts, eines Jahrhunderts der Kriege, der totalitären Diktaturen und der Leiden der Zivilbevölkerung – als Opfer von Kriegen, Unterdrückung, Eroberung, Zwangsmigrationen sowie als Opfer von nationalistischen, rassistischen und ideologisch motivierten Repressionen“.

Aufgaben sind dementsprechend „die Verbindung der in den einzelnen Ländern bereits bestehenden Initiativen, die Organisierung der Zusammenarbeit zwischen öffentlichen, staatlichen und Außerregierungsorganisationen, Forschungseinrichtungen und Orten der Erinnerung“, außerdem „die Förderung, Finanzierung und Durchführung gemeinsamer Forschungs- und Bildungsprojekte sowie von Konferenzen, Ausstellungen, Veröffentlichungen“[1] u.a.

Das ENRS sieht sich folgenden thematischen Schwerpunkten verpflichtet:

1) Genealogien der Erinnerung und des Gedenkens
2) Region – Kultur – Identität
3) Erinnerung an den Holocaust
4) Gedenken an die Opfer des Stalinismus und Kommunismus
5) Widerstand und Opposition
6) Gesellschaft und Familienleben in Diktaturzeiten
7) Auswirkungen von totalitären Regimes und Diktaturen

Die Arbeit des ENRS ist direkt oder indirekt mit der Geschichte des Ersten und des Zweiten Weltkriegs, des Nationalsozialismus, des Faschismus oder der kommunistischen Herrschaft verbunden. Eingeschlossen ist auch die Geschichte anderer europäischer Diktaturen sowie von Konflikten in Europa im 20. Jahrhundert.

Das ENRS möchte sich mit Wissenschaftlern, Gedenkinstitutionen und weiteren Partnern austauschen, um dadurch zur Entwicklung einer multiperspektivischen europäischen Erinnerungskultur beizutragen, die dem wechselseitigen Verstehen dienen soll; dabei soll insbesondere die jüngere Generation angesprochen werden. Das ENRS führt selbst Veranstaltungen durch und kooperiert organisatorisch, inhaltlich und finanziell mit zahlreichen Organisationen aus der Wissenschaft, der politischen und kulturellen Bildung sowie der Kunst. Herausgehobene Bedeutung hat das jährlich an jeweils unterschiedlichen Orten in Europa stattfindende European Remembrance Symposium, das Repräsentanten staatlicher und zivilgesellschaftlicher Institutionen, die sich mit Geschichte und Erinnerung an das 20. Jahrhundert auseinandersetzen,  zum Dialog zusammenbringt.

Ein weiteres Projektformat sind die seit 2011 jährlich stattfindenden Workshops und Konferenzen Genealogies of Memory in Central and Eastern Europe, die ein Forum der Diskussion neuer Ansätze der Gedächtnis- und Erinnerungsforschung bilden.

Für die junge Generation wurden eigene, kontinuierlich durchgeführte Veranstaltungsformate entwickelt: Im Rahmen des Projekts „Sound in the Silence“ setzen sich die Teilnehmenden mit Erinnerungs- und Gedenkorten (z. B. Auschwitz) und den dabei erlebten Emotionen auf künstlerisch-kreative Weise auseinander.


Neben der Unterstützung von Forschungsvorhaben führt das ENRS auch eigene Forschungen durch, z. B. zur Wahrnehmung von totalitären und autoritären Diktaturen durch junge Menschen in Europa.

Das ENRS begleitet und fördert durch eigene Vorhaben
(z. B. Filmproduktionen) den Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust am 27. Januar eines jeden Jahres ebenso wie den Europäischen Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus am 23. August[2] sowie weitere Jahres- und Gedenktage.

Die vom ENRS erarbeiteten Guidelines for international discourse on history and memory formulieren Standards, die zur Versachlichung und Strukturierung inner- und zwischenstaatlicher Geschichtsdiskurse beitragen sollen; Einzelpersonen ebenso wie Vertreter von Institutionen sind dazu eingeladen, diese Selbstverpflichtung zu unterzeichnen.

Die Beschäftigung mit der Geschichte der Deutschen im östlichen Europa ist ein Teilaspekt der Arbeit des ENRS. Er ist u. a. bei der Auseinandersetzung mit der Geschichte von Regionen, nationalen Minderheiten, Zwangsmigrationen, aber auch von Erinnerungskonflikten relevant.

Das ENRS kooperiert insbesondere mit den von den Kulturministerien der Mitgliedsländer beauftragten Institutionen (Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Oldenburg, Institut für Nationales Gedächtnis/ Ústav Pamäti Národa (Pressburg/Bratislava), Komitee für Nationale Erinnerung/ Nemzeti Emlékezet Bizottságának (Budapest), Nationaler Rat zur Erforschung der Archive der Securitate/ Consiliul Naţional Pentru Studierea Arhivelor Securităţii (Bukarest/Bucureşti).

Darüber hinaus arbeitet das ENRS mit zahlreichen Einrichtungen in Europa und weltweit zusammen. Partner in Deutschland sind u. a. Gedenkstätten an den Holocaust, an das SED-Unrecht sowie Einrichtungen der historischen Ost(mittel)europaforschung.

3. Organisation

Gründungsmitglieder des ENRS sind Deutschland, Ungarn, Polen und die Slowakei, 2014 erfolgte der Beitritt Rumäniens. Österreich und die Tschechische Republik sind seit Beginn beobachtende Mitglieder,[3] Lettland seit 2013, Albanien seit 2015. Die Zuständigkeit und ein Großteil der Finanzierung des ENRS obliegt den für Kulturfragen verantwortlichen Ministerien der Mitgliedsländer. Ferner besteht eine ergänzende Förderung durch die Europäische Kommission  (Europe for Citizens Programme) und den International Visegrad Fund.

Mit der Institutionalisierung des ENRS 2010 wurde zunächst ein mit dem Nationalen Kulturzentrum/ Narodowe Centrum Kultury verbundenes Sekretariat in Warschau geschaffen, welches die Aktivitäten koordinierte; seit 2015 wird die Aufgabe des Sekretariats durch das neue „Institut des Europäischen Netzwerkes Erinnerung und Solidarität“ wahrgenommen.

Gremien des ENRS sind folgende: Im Lenkungsausschuss (Steering Committee) entscheiden die von den Kulturministern entsandten Vertreter über die Strategie und die umzusetzenden Projekte (Vorsitz Prof. Jan Rydel). Dem aus Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zusammengesetzten Beratenden Ausschuss (Advisory Board; zwei Vertreter pro Land) obliegt die Beratung bei der mittel- und langfristigen Entwicklung des ENRS sowie dessen ergänzende Repräsentation nach außen. Der Wissenschaftliche Beirat (Academic Council; zwei Vertreter pro Land) ist insbesondere für die fachliche Qualitätssicherung zuständig.

Nach Auffassung von Aline Sierp und Jenny Wüstenberg handelt es sich beim ENRS um eine „hybride Organisation“, die sowohl durch nationale Regierungen als auch durch die Zivilgesellschaft beeinflusst ist und damit gleichzeitig Charakteristika einer internationalen Staatenorganisation ebenso wie eines Nicht-Regierungs-Netzwerkes aufweist.[4]

4. Geschichte

Der seit dem Jahr 2000 verfolgte Plan des Bundes der Vertriebenen (BdV) zur Gründung eines „Zentrums gegen Vertreibungen“, um an Flucht und Vertreibung der Deutschen am Ende bzw. nach dem Zweiten Weltkrieg zu erinnern, führte zu einer politisch und medial geführten Debatte innerhalb Deutschlands sowie insbesondere zwischen Deutschland und Polen. 2004 wurde von einem internationalen Wissenschaftlerkreis in der „Bonner Erklärung“ der Vorschlag zur Einrichtung eines multilateral konzipierten, dezentral organisierten „Netzwerks gegen Vertreibungen“[5] vorgelegt. Im Zuge politischer Gespräche wurde der anfängliche Fokus auf die Thematik „Zwangsmigrationen“ ausgeweitet und die Gründung des ENRS beschlossen, das die Geschichte der Kriege, totalitären Systeme und Diktaturen des 20. Jahrhunderts insgesamt in den Blick nehmen sollte.[6] Die Gründung erfolgte am 2. Februar 2005 durch eine gemeinsame „Absichtserklärung“ der Kulturminister Deutschlands, Polens, der Slowakei und Ungarns. Infolge der Regierungswechsel in Deutschland und Polen (2005) verzögerte sich die Arbeitsaufnahme des zentralen Sekretariats (Veranstaltungen ab 2008, vollständige Arbeitsaufnahme 2010 nach Konstituierung der Gremien und des Sekretariats).[7] Die Ausdehnung des Netzwerkes auf weitere Staaten, auch im Westen Europas, ist ein dauerhaftes Anliegen.

5. Herausforderungen

Die Zielsetzung des ENRS, sowohl an die kommunistischen Diktaturen als auch an den Nationalsozialismus zu erinnern, steht im Spannungsfeld eines europäischen Geschichtsdiskurses über die Unterschiedlichkeit und Vergleichbarkeit dieser Systeme. Das ENRS versucht an einer Erinnerungskultur mitzuwirken, die weder Unterschiede und Differenzen negiert noch Opferkonkurrenzen befördert oder Diskussionen trivialisiert.[8] Die Zusammenführung und wechselseitige Ergänzung von unterschiedlichen Narrativen, kulturellen Mustern und Geschichtsbildern in verschiedenen Ländern und ethnischen Gruppen in Europa ist dabei eine zentrale Herausforderung. Die Bildung eines einheitlichen, „normierten“ europäischen Gedächtnisses wird weder angestrebt noch unterstützt.

6. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Sebastian M. Büttner, Anna Delius: World Culture in European Memory Politics? New European Memory Agents Between Epistemic Framing and Political Agenda Setting. In: Journal of Contemporary European Studies  23, H. 3 (2015). S. 391–404.
  • Paweł Machcewicz: Ein Netzwerk aus polnischer Sicht. In: Anja Kruke (Hg.): Zwangsmigration und Vertreibung. Europa im 20. Jahrhundert. Bonn 2006. S. 147–150.
  • Stephan Raabe, Denny Schlüter (2011): Auf den Spuren des „Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität“. Hg. v. Konrad-Adenauer-Stiftung, 06.01.2011: www.kas.de/polen/de/publications/21555/ (Abruf: 27.09.2017).
  • Aline Sierp, Jenny Wüstenberg: Linking the Local and the Transnational. Rethinking Memory Politics in Europe. In: Journal of Contemporary European Studies  23, H. 3 (2015). S. 321–329.
  • Stefan Troebst: Towards a European Memory of Forced Migration? Processes of Institutionalization and Musealization in Germany and Poland. In: Manuel Borutta, Jan C. Jansen (Hg.): Vertriebene and Pieds-Noirs in Postwar Germany and France. Comparative Perspectives. Basingstoke, New York 2016. S. 233–251.
  • Stefan Troebst (Hrsg.): Vertreibungsdiskurs und europäische Erinnerungskultur. Deutsch-polnische Initiativen zur Institutionalisierung. Eine Dokumentation. Osnabrück 2006. S. 216–218.

Periodika und Publikationen

  • Remembrance and Solidarity. Studies in 20th Century European History. Warschau 2012ff.
  • Małgorzata Feusette-Czyżewska, Joanna Orłoś, Rafał Rogulski, Zhanna Vrublevska, Edward Assarabowski (Hg.): European Remembrance. Symposium of European Institutions dealing with 20th-century History: Lectures, Discussions, Commentaries, 2012–16. Warsaw 2016.
  • European Network Remembrance and Solidarity: ENRS. European Network Remembrance and Solidarity. Activities 2015/2016. Warsaw 2016.

Weblinks

Anmerkungen

[1] "Absichtserklärung der Kulturminister Deutschlands, Polens, der Slowakei und Ungarns über die Gründung des Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität, Warschau, 2. Februar 2005", in: Troebst: Vertreibungsdiskurs und europäische Erinnerungskultur. S. 216–218.

[2] Vgl. Büttner, Delius: World Culture in European Memory Politics?, S. 399.

[3] Troebst: Towards a European Memory of Forced Migration?, S. 234, 239.

[4] Sierp, Wüstenberg: Linking the Local and the Transnational, S. 327.

[5] Vgl. „Vertreibung gesamteuropäisch erinnern – gemeinsam nicht getrennt“, 2007: library.fes.de/pdf-files/historiker/04713.pdf

[6] Machcewicz: Ein Netzwerk aus polnischer Sicht, S. 147–150.

[7] Troebst: Towards a European Memory of Forced Migration?, S. 239f.

[8] Büttner, Delius: World Culture in European Memory Politics?, S. 397f.; European Network Remembrance and Solidarity: ENRS. Activities 2015/2016, S. 13f.

Zitation

Vincent Regente: Europäisches Netzwerk Erinnerung und Solidarität/European Network Remembrance and Solidarity. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2017. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p51272 (Stand 02.07.2019).

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(Stand: 19.01.2024)  | 
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