Wolhynien
1. Toponymie
Deutsche Bezeichnung
Wolhynien (teilweise auch Wolynien)
Anderssprachige Bezeichnungen
poln. Wołyń; russ. Volyn'; ukr. Volin'; tschech. Volyň
Etymologie
Die Bezeichnung soll sich von der nicht mehr existierenden Burg Wolyn, dem Siedlungszentrum des ostslawischen Stammes der Wolhynier oder Wolynanen, ableiten.
2. Geographie
Lage
Die historische Region Wolhynien erstreckt sich von ca. 52º bis 50º nördlicher Breite und 27º bis 24º östlicher Länge. Im Westen wird sie begrenzt vom westlichen Bug, nördlich vom Prypjat und seinen Nebenflüssen bzw. die durch sie gebildeten Sumpfgebiete, im Süden und Osten gibt es keine naturräumliche Begrenzung. Hier reicht(e) Wolhynien etwa bis Dubno bzw. Schitomir/Žytomyr. Die Größe der Region Wolhynien beträgt ca. 90.000 qkm.
Topographie
Wolhynien als nördlicher Teil der wolhynisch-podolischen Platte gehört zur Osteuropäischen Ebene. Norden und Nordwesten sind charakterisiert durch Wälder und Sümpfe, die bis zum Beginn partieller Trockenlegungen in den 1930er Jahren nahezu undurchdringlich waren und noch heute das größte zusammenhängende Sumpfgebiet Europas bilden. Im Süden schließen sich fruchtbare Lößebenen und daran Ausläufer der Karpaten an (Wolhynische Höhen, bis 250 m ü. NN). Diese leicht hügelige Landschaft setzt sich im Osten fort.
Historische Geographie
Im 9. und 10. Jahrhundert war Wolhynien Teil des als Kiewer Rus` bezeichneten Verbands von Fürstentümern, im 11. Jahrhundert wurde es unabhängiges Fürstentum, ab 1199 Teil des Fürstentums Halytsch-Wolhynien bzw. Wolodymyr. In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts gelangte Wolhynien unter die Herrschaft des Großfürstentums Litauen, Galizien zum Königreich Polen, die nach 1569 die Polnisch-Litauische Union bildeten. Ende des 16. Jahrhunderts wurde auch Wolhynien polnische Woiwodschaft, die im Zuge der Teilungen Polens 1793 bzw. 1795 an Russland kam (Gouvernement Wolhynien). Im Frieden von Riga 1921 wurde Wolhynien zwischen Polen und Russland (Ukrainische SSR, ab 1922 Teilrepublik der UdSSR) aufgeteilt. Heute liegt der Großteil der historischen Region Wolhynien in der Ukraine (Oblast Wolhynien, Oblast Rivne und westlicher Teil der Oblast Žytomir), kleinere Anteile in Südostpolen und im Südwesten Weißrusslands.
3. Geschichte und Kultur
Gebräuchliche Symbolik
Frühere Wappen Wolhyniens zeigten ein weißes oder silbernes Tatzenkreuz (breit auslaufende, gleichlange Arme) auf rotem Grund. In Flagge und Wappen der heutigen Oblast hingegen berührt das weiße Kreuz die Ränder.
Vor- und Frühgeschichte
Das Gebiet ist seit dem Paläolithikum (Altsteinzeit) besiedelt. Bereits zwischen dem 6. und dem 3. Jahrtausend v. Chr. bestand eine frühe sesshafte Kultur, bei Mizoch (heute Oblast Rivne) wurden bronzezeitliche Funde (ca. 1700 v. Chr.) gemacht.
Mittelalter
In das 7. Jahrhundert geht die Gründung von Schitomir zurück, das zweihundert Jahre später Stadtrechte erhielt. Zu den mittelalterlichen Gründungen gehören Dubno, Kowel (russ. Kovel‘), Ladomir/Wolodimir (später ukr. Volodymyr-Volynskyj/ russ. Vladimir-Volynskij, poln. Włodzimierz), Luzk (ukr. Luz’k, russ. Luzk, poln. Łuck) und Woswjagel (später ukr. Novohrad-Volyns‘kyj, russ. Novograd-Volynskij, poln. Nowogród Wołyński).
Nach seiner Gründung durch Roman Mstislawitsch (auch Roman der Große, 1150–1205) gehörte das Fürstentum Halytsch-Wolhynien im 13. Jahrhundert zu den wichtigsten Nachfolgestaaten der Kiewer Rus`. Unter Fürst Danilo (Daniel 1201–1264) gelangte es nach dem Einfall der Mongolen 1240/41 unter deren Oberherrschaft. Danilo wurde 1253 von einem päpstlichen Gesandten zum König der Rus' (Rex Russiae) gekrönt; damit verbundene Hoffnungen auf einen erfolgreichen Kreuzzug gegen die Mongolen erfüllten sich jedoch nicht.
Nach deutsch(sprachig)en Kaufleuten und Handwerkern, die sich bereits zuvor in Städten niedergelassen hatten, waren neben Russen, Polen und Juden auch deutsche Kolonisten an der Wiederbesiedlung zerstörter und entvölkerter Orte in Wolhynien beteiligt. Städte wie Volodymyr-Volynskyj, Chełm/Cholm, das unter Danilo zur Festung ausgebaut wurde, und Luzk gewannen nach der Zerstörung Kiews/Kyjiv/Kiev (1240) an Bedeutung.
Neuzeit
Seit dem 12. Jahrhundert entstanden jüdische Gemeinden, die polnisch-litauische Adelsrepublik (1569–1795) entwickelte sich aufgrund einer toleranten Politik zum Zentrum jüdischen Lebens in Ostmitteleuropa, das wolhynische Schitomir zu einem Zentrum der chassidischen Bewegung.
Eine stärkere Einwanderung deutschsprachiger Bevölkerungsgruppen setzte Ende des 18. Jahrhunderts mit Mennoniten ein, die nach 1870 größtenteils nach Nordamerika auswanderten. Anfang des 19. Jahrhunderts kamen Siedler aus Schlesien und Pommern bzw. den angrenzenden Provinzen Posen und Westpreußen; auch Pfälzer und Württemberger wurden in Wolhynien ansässig. Während es die Schlesier überwiegend zu Holzgewinnung und -verarbeitung in den waldreichen Nordwesten Wolhyniens zog, gründeten die übrigen landwirtschaftliche Kolonien, schwerpunktmäßig im Süden und Südosten. 1815 wurde bei Nowograd-Wolynsk die Kolonie Annette gegründet, die auch als „Mutterkolonie der Wolhyniendeutschen“[1] bezeichnet wird.
Nach dem polnischen Novemberaufstand 1830/31 setzte eine Wanderungsbewegung Deutscher aus dem russischen Kongress-Polen ins russische Wolhynien ein, die v. a. politisch und wirtschaftlich motiviert war. Stärker wurde diese nach 1860, was von verschiedenen Faktoren ausgelöst bzw. begünstigt wurde: u. a. dem Mangel an landwirtschaftlichen Arbeitskräften nach Aufhebung der Leibeigenschaft in Russland (1861), der Enteignung und Vertreibung von am polnischen Januaraufstand (1863/64) beteiligten Grundbesitzern sowie einer relativen Überbevölkerung in Mittelpolen. Auch die Einwanderung von Tschechen setzte um diese Zeit ein und war ganz ähnlich motiviert und strukturiert. Die deutschen Einwanderer dieser Periode waren überwiegend evangelisch-lutherisch, kamen zum größten Teil aus Mittel-/Kongresspolen und siedelten ohne staatliche Hilfen meist auf Initiative von Gutsbesitzern auf Pachtland unter anfangs harten Bedingungen. Schwerpunkte der deutschen Ansiedlungen lagen zwischen Nowograd-Wolynsk und Schitomir und zwischen Luzk, Rožyšče/russ. Rožišče/ poln. Rożyszcze/ und Torčyn/russ. Torčin/poln. Torczyn.
Ende der 1880er Jahre setzte eine Gesetzgebung ein, die Ausländern Erwerb und Pacht von Land verbot und die Vererbung bestehenden Landbesitzes einschränkte. Damit sollte eine weitere unkontrollierte Einwanderung eingedämmt und die bereits siedelnden Einwanderer zur Annahme der russischen Untertanenschaft veranlasst werden.
Aufgrund dieser und anderer gesetzlicher Einschränkungen wanderten bis 1895 ca. 30.000 Deutsche nach Übersee, vor allem nach Brasilien, aus.
In den Jahren 1904 und 1905 kam es zu antijüdischen Pogromen in Kowel und Schitomir.
Zeitgeschichte
Im Ersten Weltkrieg wurde der Grundbesitz von Personen deutscher Abstammung liquidiert, im Sommer 1915 erfolgte die Evakuierung der Deutschen vor der heranrückenden deutschen Front; ein Teil von ihnen kehrte nach 1917/18 in die in Frontnähe teilweise stark zerstörten Orte oder auf ihre inzwischen von Ukrainern oder Polen bewohnten Höfe zurück, andere wanderten ganz ab, z. B. nach Deutschland. In der Zwischenkriegszeit verstärkte Deutschland seine Bemühungen, die Auslandsdeutschen finanziell und kulturell zu unterstützen, in ihrem Deutschtum zu bestärken und zum Bleiben zu bewegen.
Im östlichen, nunmehr russischen Teil Wolhyniens kam es 1931–1933 zu einer Hungersnot (ukrain. Holodomor), deren Ursachen neben Missernten erhöhte Zwangsabgaben, Kollektivierung und die Verfolgung selbständiger Bauern (sog. Entkulakisierung) waren und die auf dem Gebiet der Ukrainischen SSR mindestens 3,5 Mio. Todesopfer forderte.
Auf der Grundlage des Geheimen Zusatzprotokolls des Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffspaktes wurden die sog. Volksdeutschen aus den nunmehr der Sowjetunion (SU) zugestandenen Teilen Polens umgesiedelt. Im Winter 1939/40 erfolgte die von der Volksdeutschen Mittelstelle (VoMi) organisierte Umsiedlung der Deutschen aus Westwolhynien. Nach Registrierung und Erfassung der Vermögen verließen insgesamt ca. 66.400 Menschen mit Eisenbahntransporten und Trecks ihre Heimatorte in Richtung Westen. Nach teilweise längeren Aufenthalten in verschiedenen, häufig überfüllten und baulich ungeeigneten Lagern erfolgte die Ansiedlung durch die Einwandererzentralstelle (EWZ): Nur ein kleiner Teil (13,2 Prozent) gelangte ins sog. Altreich, die Mehrheit (85,5 Prozent) war als Siedler in den von Deutschland besetzten Ostgebieten (Reichsgau Wartheland, Generalgouvernement) zur ‚Germanisierung‘ vorgesehen, die Übrigen wurden als „Sonderfälle“ eingestuft, worunter „Fremdstämmige“ und „Zweifelsfälle“ fielen. Vor der Ansiedlung der Volksdeutschen wurden Polen und Juden systematisch und kurzfristig vertrieben, damit jene die Häuser und Höfe übernehmen konnten.
Während des Krieges war die Westukraine und mit ihr Wolhynien ein zentraler Schauplatz von Völkermord und Holocaust verübt durch nationalsozialistische Organisationen und die deutsche Wehrmacht. Zur Gewaltgeschichte der Region gehören auch Massaker an der polnischen Zivilbevölkerung, die während des Krieges von der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) begangen wurden.
Beim Rückzug der deutschen Truppen aus Russland verließen 1943 auch 40.000 Deutsche das östliche Wolhynien. Die im Reichsgau Wartheland und im Generalgouvernement angesiedelten Wolhyniendeutschen flohen bei Kriegsende nach Westen. Aus der SBZ wurde ein Teil in Arbeitslager in die SU deportiert, kehrte erst nach Jahren zurück oder verblieb dort bis zum Fortzug als Spätaussiedler. 73 Familien wurden 1945 als Neubauern im mecklenburgischen Linstow angesiedelt. In den westlichen Besatzungszonen bildete der niedersächsische Kreis Uelzen einen Schwerpunkt der Neuansiedlung, ohne dass diese planmäßig erfolgte.
Verwaltung
Auf dem Gebiet der historischen Region Wolhynien existierten mehrere Verwaltungseinheiten. Luzk war Hauptstadt der Woiwodschaft Wolhynien in Polen bis 1795 sowie zwischen 1921 und 1939, auch die heutige ukrainische Oblast wird von Luzk aus regiert. Lediglich während der Zugehörigkeit zum Russischen Reich war das östlicher gelegene Schitomir die Gouvernementshauptstadt. Während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg bildete Wolhynien mit dem südlich angrenzenden Podolien einen Verwaltungsbezirk des Reichskommissariats Ukraine mit der Hauptstadt Rivne.
Weitere Städte und Sitze untergeordneter Verwaltungseinheiten waren bzw. sind Dubno, Kowel und Volodymyr-Volynskyj.
Bevölkerung
Die Mehrzahl der Bewohner der Region waren Ukrainer, die Bevölkerung bis zum Zweiten Weltkrieg multiethnisch. In vielen Städten stellten Juden die Bevölkerungsmehrheit, während Ukrainer und Deutsche mehrheitlich auf dem Land lebten. Nachdem die Einwanderung Deutscher am Ende des 19. Jahrhunderts weitgehend beendet war, stellten sich die Bevölkerungsanteile im Gouvernement Wolhynien in der Volkszählung von 1897[3] folgendermaßen dar:
Gesamt | Ukrainer | Juden | Polen | Deutsche | Russen | Tschechen | Andere |
3 Mio. | 2.095.000 | 395.000 | 184.000 | 171.300 | 104.900 | 27.700 | 22.100 |
100% | 70% | 13,2% | 6,1% | 5,7% | 3,5% | 0,9% | 0,6% |
Die polnischen Volkszählungen von 1921 und 1931[4] weisen für die Woiwodschaft Wolhynien (d. h. Westwolhynien) folgende Anteile aus (gerundet)[5]:
Jahr | Gesamt | Ukrainer (Ruthenen) | Polen | Juden | Deutsche | Russen |
1921 | 1.579.600 | 1.073.600 (68,4%) | 263.500 (16,8%) | 164.800 (10,5%) | 26.700 (1,7%) | keine Angabe |
1931 | 2.086.000 | 1.445.000 (70%) | 326.000 | 208.000 (10%) | 47.000 (2,3%) | 23.000 (1,1%) |
In den 1920er Jahren zählte die polnische Wojewodschaft Wolhynien mit 48 Einwohnern/qkm zu den am dünnsten besiedelten Teilen des Landes (Landesdurchschnitt waren 70 Einwohner/qkm).[6]
Die Deutschen stellten insgesamt eine kleine Minderheit dar; aufgrund der gezielten Ansiedlung entstanden zunächst ethnisch homogene Siedlungen, sog. Kolonien, v. a. in den Städten und später durch Landerwerb auch in den Dörfern war die Bevölkerung gemischter. Die überwiegende Mehrheit der Deutschen und der Ukrainer lebte in ländlichen Siedlungen, während die polnische und die jüdische Bevölkerung zu einem größeren Teil in den (Klein-) Städten ansässig war. Im Sommer 1941 begann die systematische Verfolgung und Ermordung der Juden durch die deutsche Wehrmacht und andere NS-Organisationen.
Wirtschaft
In den waldreichen Gebieten herrschten Holzgewinnung und -verarbeitung vor, sonst überwog Landwirtschaft, wobei die Produktivität entscheidend von der Bodenqualität und den Bearbeitungsmethoden abhing. Handwerke des unmittelbaren Bedarfs waren meist in den Kolonien ansässig, es gab aber auch schwerpunktmäßige Handwerker-Kolonien. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg entstanden landwirtschaftliche Genossenschaften, verstärkt aber in den 1920er und 30er Jahren, um die wirtschaftliche Not zu lindern, den Wiederaufbau nach dem Krieg zu beschleunigen und die Abwanderung zu stoppen. Die industrielle und gewerbliche Produktion umfasste vor allem Holz- und Metallverarbeitung, Weberei, Papierherstellung und Mühlenbetriebe.
Militärgeschichte
Die Burg in Dubno (Powiat Rivne) wurde im 19. Jahrhundert zu einer militärisch bedeutenden Festung ausgebaut, die im Ersten Weltkrieg stark beschädigt wurde. Der anschließende polnische-russische Krieg (1919–21) brachte weitere Zerstörungen und verzögerte den Wiederaufbau auch der ländlichen Siedlungen, insbesondere in der Gegend um Luzk.
Im Zweiten Weltkrieg fand im Juni 1941 zwischen Dubno, Brody und Luzk eine deutsch-sowjetische Panzerschlacht statt.
Gesellschaft
Das Gemeindeleben in den Kolonien prägte eine starke und nüchterne Religiosität, Geselligkeit blieb überwiegend auf Familie und Kirche beschränkt. An Vereinen existierten vor allem Genossenschaften und Hilfsvereine/Unterstützungskassen, Posaunen- und Gesangschöre verblieben im kirchlichen Rahmen.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurden verstärkt Versuche unternommen, eine gemeinsame Identität der unterschiedlichen deutschen Gruppen in Polen zu schaffen und zu festigen. Dabei gerieten auch die Deutschen in Westwolhynien stärker in den Blick; die Ansprache erfolgte meist von Deutschen aus Zentralpolen und führte zur Gründung von Vereinigungen wie dem 1921 gegründeten Verein der Deutschen Wolhyniens, der sich zunächst in erster Linie der wirtschaftlichen Nöte der Wolhyniendeutschen annahm. Auch den Pastoren der evangelischen Kirche kam eine zentrale Rolle für die Identität und das gesellschaftliche Leben der deutschen Bevölkerung zu.
In den Städten gab es unter den wenigen Deutschen neben Handwerkern, Gewerbetreibenden und Arbeitern auch Unternehmer, Juristen, Ärzte u. a.; ein umfassenderes gesellschaftliches und kulturelles Leben der Deutschen gab es anscheinend aber nicht.
Religions- und Kirchengeschichte
Ähnlich vielfältig wie die ethnische/nationale Zusammensetzung der Bevölkerung war auch die religiöse. Neben einer christlich-orthodoxen Mehrheit gab es einen größeren jüdischen Bevölkerungsanteil sowie Angehörige der römisch-katholischen und der evangelisch-lutherischen (und ev.-luth. Kirche Augsburger Bekenntnisses) Kirche, der die Deutschen Wolhyniens mehrheitlich angehörten. Es existierten auch kleinere pietistische Gemeinden und Täufer (Baptisten, Mennoniten), da die Einwanderung zum Teil religiös motiviert war.
Die jeweils größten Religionsgemeinschaften nach den Volkszählungen von 1897 (Russisches Gouvernement) und 1931 (Polnische Woiwodschaft) in prozentualen Anteilen (gerundet):
1897 | orthodox | jüdisch | römisch- katholisch | evangelisch- lutherisch |
71% | 13,2% | 9,9% | 5,8% |
1931[8] | orthodox | römisch- katholisch | jüdisch | evangelisch- lutherisch | andere |
70% | 16% | 10% | 2,6% | 1,4% |
Alltagskultur
Die Alltagskultur der deutschsprachigen Bevölkerung war von der überwiegend agrarischen Lebensweise geprägt. In der Ansiedlungszeit lebten die Siedler teilweise in Erdhütten, auch nach der Rückkehr aus der Vertreibung im Ersten Weltkrieg wurde auf diese einfache Form der Behausung zurückgegriffen. Ansonsten dominierten vielfach Holzhäuser in Ständer- bzw. Blockbauweise, die größeren Höfe waren Vierseitanlagen aus Wohnhaus, Stall, Scheune und Schuppen, kleinere Höfe vereinigten Wohnräume und Stall unter einem Dach. Die Küche war einfach und beruhte überwiegend auf Selbstversorgung: Speisen wie Getreidegrütze, Mehlsuppen, Eintöpfe, Kartoffeln, Gemüse, Obst, Brot, (Sauer-) Milch und wenig Fleisch bestimmten den Speiseplan, der Einflüsse aus der russischen und polnischen Küche aufwies. Auch die Kleidung war einfach, zweckmäßig und schmucklos. Familienstruktur und Arbeitsteilung waren traditionell-patriarchalisch, das Heiratsalter niedrig, die Kinderzahl hoch, nicht zuletzt, da Kinder wichtige Arbeitskräfte waren. Die Sprache der Deutschen war anfangs jeweils durch ihre Herkunft geprägt entweder niederdeutsch oder hoch-/mitteldeutsch (Schlesisch, Pfälzisch u. a.) gefärbt; später verloren die Mundarten an Bedeutung und ein sog. „Kolonistendeutsch“, ein mit polnischen, ukrainischen und russischen Lehnwörtern angereichertes Hochdeutsch, entstand.
Zu den ältesten erhaltenen Profanbauten zählt die Burg des Fürsten Liubartas (1323–1383) bei Luzk (Mitte 14. Jahrhundert), daneben haben sich Kirchen, Synagogen und Klöster aus vier Jahrhunderten erhalten, die unterschiedliche Stilrichtungen und nationale Anklänge/Einflüsse repräsentieren. Erwähnenswert ist ferner die Große Synagoge in Luzk (erbaut 1626–29), die Einflüsse der polnischen Renaissance aufweist.
Musik
Das Musikleben der deutschsprachigen Siedlungen war überwiegend kirchlich geprägt und wenig differenziert. Es bestanden eine Vielzahl von Posaunen- und Gesangschören, die hauptsächlich pietistisches Liedgut darboten und nur ein niedriges musikalisches Niveau erreichten; in den 1930er Jahren wurde versucht, dieses Niveau zu heben, u. a. durch die Einsetzung eines „Musikwarts“, der die Chorleiter schulte, Singwochen veranstaltete usw.
Aus Schitomir stammte der berühmte Pianist Swjatoslaw Richter (1915–1997).
Bildung
Schule und Bethaus waren in den meisten deutschen Kolonien vorhanden, bildeten meist eine bauliche Einheit; den Unterricht besorgten sog. Kantor- oder Küsterlehrer. Über diese Elementarschulen hinaus gab es keine höheren deutschen Schulen und keine deutsche Universität oder Hochschule. Qualität und Quantität des Unterrichts waren überwiegend gering, da die Kinder als Hilfskräfte in der Landwirtschaft gebraucht wurden und die religiöse Unterweisung im Mittelpunkt stand. Ab den 1870er Jahren und stärker nach 1890 verstärkten sich die staatlichen Bemühungen, Russisch neben dem bzw. statt des Deutschen als Unterrichtssprache zu etablieren, was v. a. in den evangelisch-lutherischen Kolonien auf Widerstand stieß, teilweise aber auch als notwendig für das Leben im Russischen Reich akzeptiert wurde, solange die Religionsausübung in deutscher Sprache unangetastet blieb. 1904 nahm die deutsche Lehrerbildungsanstalt in der Kolonie Heimthal bei Schitomir ihre Arbeit auf, die Kantorlehrer für fünf Gouvernements ausbildete. Die kleine deutsche Bildungselite bestand überwiegend aus Pastoren und Lehrern. Der Bildungsgrad war allgemein niedrig, die Zahl der Analphabeten lag Anfang der 1920er Jahre auf dem Land teilweise bei mehr als 50 Prozent, ein Anteil, der bei anderen Bevölkerungsgruppen ähnlich hoch bzw. darüber lag. Erst Anfang der 1930er Jahre folgte auf ein Verbot der Kantoratsschulen im polnischen Teil Wolhyniens die Einrichtung von deutschen Volksschulen mit ausgebildeten Lehrern in kirchlicher Trägerschaft; auch an staatlichen Schulen gab es teilweise deutschen Sprachunterricht.
Literatur
In Wolhynien konnte sich keine deutschsprachige literarische Tradition entfalten. Nur einzelne deutschsprachige Autorinnen und Autoren wie der in der Kolonie Annette geborene Lyriker Herbert Henke (1913–?) werden im Kontext russlanddeutscher Literatur rezipiert.
Auch eine eigenständige deutschsprachige politische Presse existierte in Wolhynien nicht. Die evangelisch-lutherische Kirche gab von 1927 bis 1936 den Wolhynischen Boten, die evangelisch-augsburgische Kirche den Wolhynischen Volkskalender (1935–38) heraus.
Der Schriftsteller Joseph Conrad (1857–1924) wurde als Józef Teodor Konrad Korzeniowski in der Nähe von Berditschew (ukr. Berdyčiv/russ. Berdičev/poln. Berdyczów) in Wolhynien geboren.
Gedächtnis- und Erinnerungskultur
Da keine ausgeprägte Gruppenidentität als Wolhynier bestand, organisierten sich in der Bundesrepublik Deutschland Westwolhynier in der Landsmannschaft (LM) Weichsel-Warthe, Ostwolhynier in der LM der Deutschen aus Russland. Der gemeinsamen Geschichte beider Gruppen widmet sich der 1975 gegründete Historische Verein Wolhynien.
Im mecklenburgischen Linstow entstand Anfang der 1990er Jahre das Wolhynier Umsiedlermuseum als Freilichtmuseum und kulturelles Zentrum.
4. Diskurse/Kontroversen
Durch die Teilung Wolhyniens 1921 in einen polnischen und einen russischen Teil wurden auch die Deutschen Wolhyniens in zwei unterschiedlichen historischen Diskursen untersucht. Dabei erfolgte die Erforschung der Deutschen in Westwolhynien im Kontext der Deutschen in Polen und nahm auch von hier seit den 1920er Jahren ihren Ausgang, während das Interesse an den Deutschen in Ostwolhynien gering war, sodass diese zudem kleine Gruppe innerhalb der Deutschen in Russland bis heute eher randständig und vergleichsweise wenig erforscht blieb.
Da die in den 1920er und 1930er Jahren im Kontext der Sprachinselforschung durchgeführten Forschungen über die deutsche Bevölkerung Wolhyniens unter politischen bzw. ideologischen Vorzeichen (u. a. Stärkung und Bekanntmachung des wolhynischen „Deutschtums“, Nachweis kolonisatorischer bzw. „rassischer“ Überlegenheit, Grundlage für praktische „Volkstumsarbeit“) entstanden, sind ihre Ergebnisse kritisch zu bewerten.
5. Bibliographische Hinweise
Literatur
- Nikolaus Arndt: Die Deutschen in Wolhynien. Ein kulturhistorischer Überblick. Würzburg 1994.
- Alfred Cammann: Heimat Wolhynien. 2 Bde. Marburg 1985 u. 1988 (Schriftenreihe der Kommission für ostdeutsche Volkskunde 33 u. 41) [enthält zahlreiche Erinnerungsberichte Deutscher aus Wolhynien]
- Stephan Döring: Die Umsiedlung der Wolhyniendeutschen in den Jahren 1939 bis 1940. Frankfurt/M. 2001 (Militärhistorische Untersuchungen).
- Susanne Düwell: „Heimat auf Zeit“. Soziokulturelle Entwicklung und Selbstverständnis der Deutschen aus Wolhynien. In: Erik Fischer (Hg.): Deutsche Musikkultur im östlichen Europa. Stuttgart 2012, S. 143–160.
- Alfred Karasek, Kurt Lück (Hg.): Die deutschen Siedlungen in Wolhynien. Geschichte, Volkskunde, Lebensfragen. Leipzig 1931.
- Dietmar Neutatz: Die „deutsche Frage“ im Schwarzmeergebiet und in Wolhynien. Politik, Wirtschaft, Mentalitäten und Alltag im Spannungsfeld von Nationalismus und Modernisierung (1856–1914). Stuttgart 1993 (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa 37).
- Hugo Karl Schmidt: Die evangelisch-lutherische Kirche in Wolhynien. Marburg 1992 (Schriftenreihe der Kommission für ostdeutsche Volkskunde 59).
- Jörg Wiesner: Die soziale und wirtschaftliche Stellung der deutschen Bauern in Wolhynien 1919–1939. Bonn 1980. [Kompakte Zusammenstellung, die auf Akten der Heimatauskunftsstelle Polen sowie Publikationen der Sprachinselforschung und Gutachten zur Umsiedlung fußt, allerdings ohne ausreichende gedankliche und sprachliche Distanz zu deren ideologischen Implikationen.]
Periodika
- Deutsche Blätter in Polen. Monatsschrift für die Deutschen aus Polen. 1924–31.
- Wolhynische Hefte. Hrsg. v. Historischen Verein Wolhynien e. V. Wiesentheid. 1 (1979) – 14 (2007).
Weblinks
- www.myvolyn.de (private Website, v.a. für Familienforscher, mit zahlreichen historischen Quellen, Dokumenten und Fotografien)
- www.wolhynien.de (Informationssammlung zu Wolhynien mit Schwerpunkt Familienforschung)
- umsiedlermuseum-wolhynien.de/ (Website des Umsiedlermuseums in Linstow)
- www.memorialmuseums.org/laender/view/26/Ukraine (Gedenkstättenportal zu Orten der Erinnerung in Europa)
Anmerkungen
[1] Arndt (1994), S. 46.
[2] Anteile aus: Döring (2011), S. 232f.
[3] Henning Bauer u. a. (Hg.): Die Nationalitäten des Russischen Reiches in der Volkszählung von 1897. (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa 32 A u. B) Stuttgart 1991, S. 169, 173, 175, 184, 200. Gefragt worden war nicht nach der Nationalität, sondern nach der Muttersprache. Zu Abweichungen führte dies vor allem bei den Juden, von denen 3,1% (im gesamten Russischen Reich) eine andere Sprache als Jiddisch als Muttersprache angaben; in Wolhynien dürfte die Übereinstimmung jedoch höher gewesen sein.
[4] 1921 war nach der Nationalität (narodowość) gefragt worden, 1931 fragte man dagegen nach der Muttersprache.
[5] Historia Polski w liczbach. Ludność, terytorium [Geschichte Polens in Zahlen. Bevölkerung, Territorium]. Warszawa 1994, S. 157 u. 164.
[6] Historia Polski w liczbach. Ludność, terytorium [Geschichte Polens in Zahlen. Bevölkerung, Territorium]. Warszawa 1994, S. 134.
[7] Die Forschung über Deutsche in Wolhynien konzentriert(e) sich auf deren auf dem Land lebende Mehrheit.
[8] Historia Polski w liczbach, S. 162.
Zitation
Heinke Kalinke: Wolhynien. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2018. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32594 (Stand 24.08.2020).
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