Historische Kommissionen

1. Kurzbeschreibung

„Historische Kommission (HK)“ ist die Bezeichnung für eine Vereinigung im Wesentlichen von Wissenschaftlern zur Erforschung und Vermittlung der Geschichte meist einer bestimmten Region, oft eines Bundeslandes. Ferner bestehen HK bei unterschiedlichen Institutionen (z. B. politischen Parteien, Rundfunkanstalten) sowie HK mit speziellen Aufgabenstellungen (z. B. HK des Börsenvereins, HK zur Erforschung des Pietismus). Für die historischen preußischen Ostprovinzen sowie Siedlungsgebiete von Deutschen im östlichen Europa gibt es eigene HK. Sie sind zu unterscheiden von den Fachkommissionen des Johann-Gottfried-Herder-Forschungsrats.

2. Organisation, Aufgaben und Tätigkeit

Die sieben HK für die historischen preußischen Ostprovinzen und Siedlungsgebiete von Deutschen im östlichen Europa sind heute als eingetragene Vereine registriert und organisiert. Zusammen mit dem Johann-Gottfried-Herder-Forschungsrat und weiteren Einrichtungen sind sie Mitglieder des Trägervereins des Herder-Instituts e.V. und werden über den Haushalt des Herder-Instituts von Bund und Ländern gefördert. Die Neuaufnahme von Mitgliedern, die stets fachlich ausgewiesen sein müssen, erfolgt in der Regel durch Kooptation. Die Mitwirkung am Vereinsgeschehen beziehungsweise die Ausübung des Stimmrechts kann von unterschiedlichen Arten der Mitgliedschaft („Ordentliche“, „Korrespondierende“ und „Externe“ Mitglieder) abhängig sein. Über ihre Tätigkeit berichten die HK meist jährlich in den in eigenen Organen publizierten Jahresberichten.

Ihre traditionellen Aufgaben sind: Quellenerschließung (Herausgabe von Regestenwerken und Urkundenbüchern, Editionen allgemein), Erstellung von Nachschlagewerken (z.B. biographische Lexika, „Lebensbilder“) sowie Durchführung insbesondere langfristig angelegter wissenschaftlicher Projekte (z. B. Bibliographien, Historische Atlanten). Die HK geben eigene Buchreihen heraus, veranstalten Tagungen und sind im Bereich der Förderung des akademischen Nachwuchses aktiv. Beispiele für Projekte von HK sind die Baltische Bibliographie das Schlesische Urkundenbuch, das Siebenbürgische Urkundenbuch, die Buchreihe Polono-Germanica, die Schriften der Kommission für die Geschichte der Deutschen in Polen e.V., der Historische Atlas für Pommern, die Deutschen Gesandtschaftsberichte aus Prag und das Handbuch der Geschichte Ost- und Westpreußens.

3. Geschichte

Die nach dem Vorbild von HK anderer Regionen (z. B. HK bei der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften, gegr. 1858) 1910/1911 in Stettin/Szczecin auf Anregung des Oberpräsidenten der damaligen preußischen Provinz Pommern gegründete HK für Pommern ist die älteste unter den heute bestehenden historisch-ostdeutsch ausgerichteten HK; es folgten die unter dem Eindruck der Oberschlesischen Aufstände ins Leben gerufene HK für Schlesien (gegr. 1921 in Breslau/Wrocław) und die HK für Ost- und Westpreußische Landesforschung (gegr. 1923 in Königsberg/Kaliningrad). Nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgten unter dem Dach des Johann-Gottfried-Herder-Forschungsrates in Marburg (Lahn) Neugründungen von HK, die teils an Vorgängerinstitutionen anknüpften, sowie Wiedergründungen von HK: der HK für Pommern (1951), der Historisch-Landeskundlichen Kommission für Posen und das Deutschtum in Polen (1950, umbenannt 1997 in Kommission für die Geschichte der Deutschen in Polen e.V.), der Baltischen Historischen Kommission (1951), der HK der Sudetenländer (1954, umbenannt 2000 in HK für die böhmischen Länder) und der Südostdeutschen HK (1957, umbenannt 2007 in Kommission für Geschichte und Kultur der Deutschen in Südosteuropa).[1]

Historisch ausgerichtet ist auch die innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde bestehende Kommission für deutsche und osteuropäische Volkskunde, die 1949 als Kommission für Volkskunde der Heimatvertriebenen (umbenannt 1962 in Kommission für ostdeutsche Volkskunde, erneut umbenannt 1994) gebildet worden ist. Im Gegensatz zu den vorstehend erwähnten HK verfolgt sie einen überregionalen Ansatz und stellt heute interethnische Aspekte der Alltagskultur in den Mittelpunkt.

Die auch nach dem Zweiten Weltkrieg weiterhin auf Landesgeschichte beziehungsweise Regionalforschung gerichteten Aufgabenstellungen der HK veränderten sich nicht wesentlich. Ihre Tätigkeit war allerdings nun geprägt von der besonderen Situation aufgrund der räumlichen Entfernung der Wissenschaftler zu ihren Bezugsregionen, dem eingeschränkten Archiv- und Bibliothekszugang sowie der politischen Konfrontation während des Kalten Krieges und der Teilung Europas. In der Bundesrepublik Deutschland waren die HK die wichtigsten Initiativen der landeskundlichen Forschung über die nun sämtlich außerhalb Deutschlands liegenden Regionen, für welche es ansonsten nur wenige speziell ausgerichtete wissenschaftlichen Körperschaften gab und die auch an Universitäten und anderen akademischen Forschungseinrichtungen nur unzureichend berücksichtigt wurden. Zahlreiche wissenschaftliche Projekte und insbesondere akademische Qualifikationsschriften wurden von Personen angestoßen, die in den HK aktiv waren.

Aufgrund ihrer regionalen Ausrichtung knüpften HK zum Teil schon ab den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, insbesondere durch persönliche Beziehungen, wissenschaftliche Kontakte zu Wissenschaftlern in ihren Bezugsregionen. Aus dieser Vorreiterrolle entwickelte sich infolge des von der politischen „Wende“ nach 1989/1990 ausgehenden Modernisierungs- und Internationalisierungsimpulses vielfach dichte Beziehungen und Kooperationen. Zunehmend wurden Tagungen, Publikationen und Forschungsprojekte gemeinsam realisiert. In jüngerer Zeit bildeten die HK jeweils regionalgeschichtliche, bi- beziehungsweise multilaterale Netzwerke von Wissenschaftlern und Institutionen aus. Nach erfolgter programmatischer Neuausrichtung, die zum Teil mit Umbenennungen (s.o.) einherging, sind die HK heute den Methoden und Themen der modernen beziehungsgeschichtlich ausgerichteten Ostmitteleuropaforschung verpflichtet. Im gegenwärtigen Selbstverständnis sehen sie sich als internationale Foren und Ansprechpartner, welche spezifisches Fachwissen und Regionalkompetenz über die Bezugsregion akkumulieren und für eine interessierte Öffentlichkeit bereithalten. Die von den HK herausgegebenen Buchreihen sowie weiteren Buch- und Internetpublikationen sind für die jeweilige Regionalforschung unverändert von herausgehobener Bedeutung.

4. Kontroversen und Desiderate der Forschung

Die Geschichte und Tätigkeiten der drei älteren HK in der Zeit des Nationalsozialismus wurden lange ausgeblendet[2] und sind bis heute nur teilweise erforscht. Ebenso sind Fragen von institutionellen und personellen Kontinuitäten beziehungsweise Diskontinuitäten zu den nach dem Zweiten Weltkrieg gegründeten (bzw. wiedergegründeten) HK noch nicht in allen Fällen geklärt. Eine traditionskritische, von den HK wenn auch spät selbst initiierte institutionengeschichtliche Aufarbeitung ihrer Vergangenheit hat in neuerer Zeit eingesetzt; für manche HK steht die Bearbeitung der Thematik noch aus.

Bei notwendiger Differenzierung in jedem Einzelfall und Berücksichtigung der Gegebenheit, dass das Paradigma der „Volksgeschichte“ kein deutsches Phänomen, sondern in ganz Ostmittel- und Südosteuropa verbreitet war, sind oft Affinitäten von Vorsitzenden und Mitgliedern von HK zum nationalsozialistischen Weltbild und zum Teil auch ihre Unterstützung der nationalsozialistischen Politik evident. Im Fall der HK für Pommern kann beispielsweise – nach eigener Darstellung – in den 1930er Jahren von einer „Wende hin zu einer nationalsozialistischen Kommission“[3] gesprochen werden. Auch stehen etwa Beiträge in der 1938 von der HK für Schlesien unter Leitung Hermann Aubins (1885-1969) publizierten und später mehrfach neu aufgelegten „Geschichte Schlesiens. Bd. 1: Von der Urzeit bis zum Jahre 1526“ methodisch und ideologisch der ethnozentrischen, völkischen Ostforschung und der nationalsozialistischen Ideologie nahe.[4] Hermann Aubin, Vorsitzender der HK für Schlesien 1934-1950 und späterer Präsident des Johann-Gottfried Herder-Forschungsrats, war ein führender Ostforscher in der NS-Zeit und prägte die Geschichtswissenschaft auch noch nach 1945 durch volkstumsorientierte Paradigmen.[5] Während eine wissenschaftliche Biographie über Aubin vorliegt, ist die Diskussion über den als „Protagonisten nationalsozialistischer Südosteuropapolitik“[6] bezeichneten Gründer der Südostdeutschen HK, Fritz Valjavec (1909-1960), noch nicht abgeschlossen.[7]

Bekannt ist, dass die beiden ersten Obmänner der HK der Sudetenländer, Rudolf Schreiber (1907-1954) und Kurt Oberdorffer (1900-1980), vorher NSDAP-Mitglieder und in NS-Organisationen aktiv waren.[8] Auch erfolgte die Gründung dieser HK in Anlehnung an die ältere HK der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Prag (gegr. 1891) sowie der Kommission für Geschichte bei der Sudetendeutschen Anstalt für Landes- und Volksforschung (gegr. 1940) in Reichenberg/Liberec. Die Vertreter dieser Vorgängerinstitutionen hatten lange gezögert, die frühere Vereinsidentität zu Gunsten der Neugründung aufzugeben.[9] Derartige Fragen von Involvierung, insbesondere der Gründergeneration der HK in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in das nationalsozialistische System, und institutionellen Kontinuitäten sind noch nicht ausreichend erforscht.

5. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Stefan Albrecht, Jiří Malíř, Ralph Melville (Hg.): Die „sudetendeutsche Geschichtsschreibung“ 1918-1960. Zur Vorgeschichte und Gründung der Historischen Kommission der Sudetenländer. München 2008 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 114).
  • Matthias Beer, Gerhard Seewann (Hg.): Südostforschung im Schatten des Dritten Reichs. Institutionen, Inhalte, Personen. München 2004 (Südosteuropäische Arbeiten 119).
  • Nils Jörn, Haik Porada (Hg.): Die Historische Kommission für Pommern 1911-2011. Bilanz und Ausblick (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern; Reihe V: Forschungen zur Pommerschen Geschichte, Bd. 47).  Köln, Weimar 2018.
  • Wolfgang Kessler, Markus Krzoska (Hg.): Zwischen Region und Nation. 125 Jahre Forschung zur Geschichte der Deutschen in Polen. Osnabrück 2013 (Polono-Germanica 7).
  • Eduard Mühle: Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung. Düsseldorf 2005 (Schriften des Bundesarchivs 65), darin das Kapitel „Die Historische Kommission für Schlesien: ‚Führer‘ der schlesischen Landesforschung“, S. 269-313.

Anmerkungen

[1] Aufgrund ihres engeren regionalen Zuschnitts und abweichender Organisationsform ist die „Historische Kommission für den Kreis Neustadt/OS“, ein Verband der an der Geschichte, Volkskunde und Kultur Oberschlesiens, insbesondere des ehemaligen Kreises Neustadt/OS Interessierten, keine HK im hier skizzierten Sinne.

[2] Vgl. exemplarisch Ludwig Petry, Herbert Schlenger: Fünfzig Jahre Historische Kommission für Schlesien. In: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau XVII (1972), S. 385-416, hier S. 389-394: Das Kapitel „Die Kommission am Vorabend und im Verlauf des Zweiten Weltkriegs“ kommt ohne Verwendung des Begriffs „Nationalsozialismus“ aus.

[3] Martin Schoebel: 100 Jahre Historische Kommission für Pommern. In: Nils Joern, Haik Porada (Hg.): Die Historische Kommission für Pommern 1911-2011. Bilanz und Ausblick (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern; Reihe V: Forschungen zur Pommerschen Geschichte, Bd. 47).  Köln, Weimar 2018, S. 16-24, hier S. 28.

[4] Vgl. Matthias Weber: Zur deutschen Historiographie über Schlesien seit 1945. In: Jerzy Kłoczowski, Witold Matwiejczyk, Eduard Mühle (Hg.): Doświadczenia przeszłości. Niemcy w Europie Środkowo-Wschodniej w historiografii po 1945 / Erfahrungen der Vergangenheit. Deutsche und Ostmitteleuropa in der Historiographie nach 1945. Lublin, Marburg 2000 (Tagungen zur Ostmitteleuropa-Forschung 9), S. 133-146, hier S. 137f.

[5] Hans-Erich Volkmann: Hermann Aubin. In: Ingo Haar, Michael Fahlbusch (Hg.): Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen, Institutionen, Forschungsprogramme, Stiftungen. München 2008, S. 58-62.

[6] Norbert Spannenberger: Vom volksdeutschen Nachwuchswissenschaftler zum Protagonisten nationalsozialistischer Südosteuropapolitik. Fritz Valjavec im Spiegel seiner Korrespondenz 1934-1939. In: Beer, Seewann (Hg.): Südostforschung, S. 215-235.

[7] Klaus Popa: Fritz Valjavec. In: Haar, Fahlbusch (Hg.): Handbuch (Anm. 5), S. 697-700.

[8] Stephan Dolezel: Zu den Anfängen der Historischen Kommission der Sudetenländer. In: Albrecht, Malíř, Melville (Hg.): Die „sudetendeutsche Geschichtsschreibung, S. 1-9; K. Erik Franzen, Helena Peřinová: Biogramme der Mitglieder der Historischen Kommission der Sudetenländer im Gründungsjahr 1954. In: Albrecht, Malíř, Melville (Hg.): Die „sudetendeutsche Geschichtsschreibung“, S. 219-276, hier S. 250 und 262.

[9] Dolezel: Zu den Anfängen (Anm. 8), S. 2.

Zitation

Matthias Weber: Historische Kommissionen. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2014. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32691 (Stand 21.02.2022).

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