Kulturlandschaften
1. Begriff
Etymologie
Das Kompositum setzt sich aus den Einzelwörtern „Kultur“ (von lat. „cultura“ = Bebauung, Bearbeitung, Pflege; „colere“ = bebauen, bearbeiten, pflegen) und „Landschaften“ zusammen.
Definition
Eine weithin anerkannte Definition des Begriffs „Kulturlandschaften“ stammt aus der World Heritage Convention bzw. International Convention for the Protection of the World’s Cultural and Natural Heritage der UNESCO von 1972[1] und den dazu 1992 vom Welterbekomitee (World Heritage Committee) der UNESCO beschlossenen Operational Guidelines, in denen „cultural landscapes“ als „combined works of nature and man“ beschrieben werden. Unterschieden werden folgende drei Kategorien, die nicht nur für Kulturgeografen, sondern auch für Kulturwissenschaftler und Historiker relevant sind:
- Landschaften, die vom Menschen intentional gestaltet und geschaffen wurden (landscapes designed and created intentionally by humans),
- Landschaften, die sich organisch entwickelt haben (organically evolved landscapes), wobei zwischen „Relikt- und Fossillandschaften“ (relict [or fossile] landscapes) und „kontinuierlichen Landschaften“ (continuing landscapes) differenziert wird, und
- assoziative Kulturlandschaften (associative cultural landscapes), bei denen künstlerische, religiöse oder sonstige kulturelle Zuschreibungen im Vordergrund stehen.[2]
Träger, Gebrauch
Der Begriff wird vor allem als Terminus technicus im wissenschaftlichen Raum verwendet, findet sich aber auch in populärwissenschaftlichen oder journalistischen Abhandlungen.
Fremdsprachige Entsprechungen
engl. cultural landscape; franz. paysage culturel; ital. paesaggio culturale; poln. krajobraz kulturowy; tschech. kulturní krajina; russ. культурный ландшафт [kul’turnyj landšaft].
2. Historischer Abriss
Der preußische Universalgelehrte Alexander von Humboldt (1769–1859) näherte sich in seinem populären Werk Ansichten der Natur dem „physiognomischen Charakter der Landschaft“ an.[3] Humboldt hatte dabei sowohl naturwissenschaftliche als auch menschlich-kulturelle Aspekte im Sinn. Auf ihn nahm der französische Ethnologe Paul Vidal de la Blache (1845–1918), der Begründer der so genannten Anthropogeografie, Bezug. Im Gegensatz zu deutschen Geografen wie Friedrich Ratzel (1844–1904) entwickelte er eine Theorie, die im Zusammenwirken von Mensch und Landschaft, dem von Vidal de la Blache im Französischen so bezeichneten „pays“, keinen Geodeterminismus erblickte, sondern lediglich eine mögliche Anpassungsleistung. Er sah eine Landschaft als ein „Reservoir“, in dem „Energien schlummern, deren Keim die Natur eingesenkt hat, deren Gebrauch aber vom Menschen abhängt“. Durch das „zusammenhängende Wirken örtlicher Umstände“ werde eine „Verbindung zwischen zerstreuten Charakterzügen“ hergestellt; im Ergebnis präzisiere und differenziere sich eine Landschaft und werde „auf die Dauer wie eine mit dem Bildnis eines Volkes geprägte Medaille“.[4] Auch der Königsberger Geograf Siegfried Passarge (1866–1958) trieb mit seiner Systematisierung bestimmter Landschaftstypen die Forschung voran, indem er zwischen „normalen Landschaftstypen“ (virtuellen, morphographischen, morphologischen) und „Modifikationstypen“ (nassen, trockenen, warmen, kalten, durch mechanische Zerstörung bedingten, kulturellen) unterschied.[5]
Eine bis heute akzeptierte Erläuterung von „cultural landscapes“ lieferte 1925 der an der University of Calilfornia in Berkeley lehrende Geograf Carl O. Sauer (1889–1975) in seinem Aufsatz The Morphology of Landscape:
The cultural landscape is fashioned from a natural landscape by a cultural group. Culture is the agent, the natural area is the medium, the cultural landscape is the result. Under the influence of a given culture, itself changing through time, the landscape undergoes development, passing through phases, and probably reaching the end of its cycle of development. With the introduction of a different, that is, alien culture, a rejuvenation of the cultural landscapes sets in, or a new landscape is superimposed on rem- nants of an older one. The natural landscape is of course of fundamental im- portance, for it supplies the materials out which the cultural landscape is formed. The shaping force, however, lies in culture itself.[6]
Damit war – im Unterschied zum geodeterministischen Modell Ratzels und seiner Schüler – die ständige Veränderung von Landschaften postuliert, die ständig neuen Vorstellungen und Bedürfnissen angepasst wird. Als deren treibende Kräfte sah Sauer Ideologien, Gewohnheiten und Traditionen sowie das Alltagsleben der in einer Landschaft wohnenden und agierenden Menschen.
In historisch multiethnischen Gebieten Ost-, Zentral- und Südosteuropas können bereits die mehrsprachigen „linguistic landscapes“ Ausweis einer komplexen Kulturlandschaft sein. Dies beginnt bei mehrsprachigen Ortseingangsschildern (etwa „Cluj-Napoca/Kolozsvár/Klausenburg“ im rumänischen Siebenbürgen) und setzt sich über Straßenschilder, Ladenaufschriften, Denkmäler und Erklärungstafeln fort. Ebenso bezeichnend sind Zeugnisse einer multireligiösen oder multikonfessionellen Vergangenheit. In zahlreichen Orten Südosteuropas existieren nebeneinander Moscheen, orthodoxe, katholische und evangelische Kirchen, und auch im Erscheinungsbild preußisch-schlesischer Dörfer und Städte war das Nebeneinander katholischer und evangelischer Kirchen eine gelebte Normalität. Die Existenz mehrerer ethnisch kodierter Einrichtungen in unmittelbarer Nähe kann sowohl Ausdruck von wechselseitiger Toleranz sein als auch ein Anzeichen eines Konkurrenzverhältnisses, etwa im Fall des Turnerheims (des Deutschen Turnvereins) und der „Sokolovna“ (des Heims des tschechischen Turnervereins Sokol) in der südmährischen Metropole Brünn/Brno, die beide an der Ringstraße liegen.
3. Debatten und Kontroversen
Als problematisch hat sich in vergangenen Diskursen, die zum Teil bis in die Gegenwart nachwirken, ein essentialistisches Verständnis von „Kulturlandschaften“ erwiesen, das auf die oben genannte geodeterministische Schule zurückgeht. Insbesondere das exklusive Verständnis von Kultur als „Hochkultur“ und „eigener Kultur“ in Abgrenzung zu einer vermeintlich niedriger stehenden und „fremden“ Kultur hat zu kolonialistisch geprägten Hierarchievorstellungen geführt. Wurde dies auch noch mit ethnischen Exklusivitätsdiskursen verknüpft, konnten daraus bedenkliche Segregationsvorstellungen erwachsen. So wurde etwa in deutschen „völkischen“ Darstellungen der böhmischen oder der schlesischen Geschichte häufig das Argument gebraucht, der mittelalterliche deutsche Eisenpflug sei beim Pflügen tief in die Scholle eingedrungen und habe sie beim Bearbeiten gewendet, während der slawische Holzpflug die Oberfläche lediglich angeritzt habe. Aus dieser angeblichen technologischen Überlegenheit wurde ein Anspruch der Deutschen auf den Boden abgeleitet.
Albrecht Penck (1858–1945) konstruierte aufgrund solcher Vorstellungen 1925 die Idee vom „deutschen Volks- und Kulturboden“ und schuf dafür eine lange nachwirkende geografische Darstellung.[7] Für Penck gehörten solche Gegenden, die entweder Teil des deutschen Staatsgebiet waren oder in denen Menschen deutscher Sprache und Kultur lebten, als „deutschen Volksboden“, wohingegen er andere Gebiete, die seiner Auffassung nach maßgeblich von „deutscher Kultur“ geprägt waren, ohne dass dort noch Deutsche ansässig sein mussten, „deutschen Kulturboden“ nannte. Diese Theorie ging über die Revision der Gebietsverluste nach 1919 hinaus, indem sich so weite Teile des östlichen Europas als „deutscher Kulturboden“ deklarieren ließen.
Im Sprachgebrauch der deutschen Vertriebenenorganisationen nach 1945 findet sich in Beschreibungen der zurückgelassenen Heimatlandschaften häufig das Argument, die Steine sprächen dort deutsch,[8] womit der fortdauernde Anspruch auf die verlorenen „Ostgebiete“ legitimiert werden sollte. Allerdings meinte auch der damalige polnische Primas Stefan Kardinal Wyszyński (1901–1981) in einer Predigt im Breslauer Dom im August 1965, in Breslau/Wrocław sprächen die Steine polnisch („we Wroclawiu kamienie mówią po polsku“).[9] Polnische Publizisten verwenden bis heute in einer gewissen Analogie zum deutschen Vertriebenendiskurs im Hinblick auf die verlorenen „Kresy“ gerne die Wendung „gdzie kamienie mówią po polsku“ [wo die Steine polnisch sprechen].[10] Anhand dieses Beispiels lässt sich illustrieren, wie sich Zuschreibungen im Laufe der Geschichte wandeln können – von einer bilateralen, kulturpolitisch untermauerten Konfrontationsstellung zwischen „verlorenen“ oder „wiedergewonnenen“ Gebieten bis hin zum aktuellen Verständnis eines „gemeinsamen Kulturerbes“, das nicht exklusiv einer Gruppe zuzuschreiben ist.
4. Bibliographische Hinweise
Literatur
Kristin Kopp: Germany’s Wild East. Constructing Poland as Colonial Space. Ann Arbor 2012.
Hansjörg Küster: Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa. Von der Eiszeit bis zur Gegenwart. München 1995.
Hansjörg Küster: Schöne Aussichten. Kleine Geschichte der Landschaft. München 2009.
Simon Schama: Landscape and Memory. New York 1995.
Tobias Weger: Cultural Landscapes – ein kulturwissenschaftliches Konzept. In: Andrew Demshuk, ders. (Hgg.): Cultural Landscapes. Transatlantische Perspektiven auf Wirkungen und Auswirkungen deutscher Kultur und Geschichte im östlichen Europa. München 2015 (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 52), S. 17–28..
Anmerkungen
[1] Convention Concerning the Protection of the World Cultural and Natural Heritage, whc.unesco.org/en/conventiontext/ (Zugriff 29.03.2021).
[2] Operational Guidelines for the Implementation of the World Heritage Convention, whc.unesco.org/archive/opguide92.pdf (Zugriff 29.03.2021).
[3] Alexander von Humboldt: Ansichten der Natur. Volksausgabe mit Humboldt’s Biographie und Humboldt’s Portrait. New York 1859, S. 205.
[4] Paul Vidal de la Blache: Tableau de la Géographie de la France. Paris 1905, in deutscher Übersetzung zitiert bei H. Beck: Große Geographen. Pioniere, Außenseiter, Gelehrte. Berlin 1962, S. 301.
[5] Siegfried Passarge: Die GrundlagenderLandschaftskunde.Breslau1923 (3 Bde.).
[6] Carl O. Sauer: The Morphology of Landscape. In: University of California Publications in Geography 2/2 (1925), S. 19–53, hier: S. 46.
[7] Albrecht Penck: Deutscher Volks- und Kulturboden. In: K[arl] C[hristian] v. Loesch (Hg.): Volk unter Völkern. Breslau 1925, S. 62–73.
[8] Vgl. etwa Elisabeth Ruge, Peter Ruge: Nicht nur die Steine sprechen deutsch. Polens deutsche Ostgebiete. München, Wien 1985. Kritisch dazu Michaela Marek: Können alte Mauern „deutsch“ sein? Zum Problem deutscher Baudenkmäler in Polen zwischen Nostalgie, Politik und Denkmalpflege. In: Hans-Jürgen Karp (Hg.): Deutsche Geschichte und Kultur im heutigen Polen. Marburg 1997, S. 103–117.
[9] Zitiert nach ks. Andrzej Dzielak: „Gdyby nie kardynał Kominek, nie byłoby Jana Pawła II“. Wspomnienie o Bolesławie Kominku i Orędziu biskupów polskich do biskupów niemieckich [„Ohne Kardinal Kominek hätte es keinen Johannes Paul II gegeben“. Erinnerungen an Bolesław Kominek und die Botschaft der polnischen Bischöfe an die deutschen Bischöfe]. In: Wrocławski Rocznik Historii Mówionej 1 (2011), S. 195–212, hier: S. 206.
[10] Tam, gdzie kamienie mówią po polsku [Dort, wo die Steine polnisch sprechen] wurde beispielsweise im Jahre 2019 als Motto des II Międzynarodowy Polonijny Konkurs Literacki [Zweiter internationaler Polonia-Literaturwettbewerb], ausgerichtet vom Związek Piłsudczyków RP [Verband der Piłsudski-Anhänger in der Republik Polen], gewählt. Vgl. www.patronaty.wzp.pl/patronaty-honorowe-marszalka/listopad-2019/ii-miedzynarodowy-polonijny-konkurs-literacki-tam-gdzie-kamienie-mowia-po-polsku (Zugriff 29.03.2021).
Der vorliegende Artikel basiert auf:
Tobias Weger: Cultural Landscapes – ein kulturwissenschaftliches Konzept, in: Andrew Demshuk, Tobias Weger (Hg.): Cultural Landscapes.Transatlantische Perspektiven auf Wirkungen und Auswirkungen deutscher Kultur und Geschichte im östlichen Europa (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 52). München 2015, S. 17–28.
Zitation
Tobias Weger: Kulturlandschaften. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2021. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32712 (Stand 17.04.2023).
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