Vertriebenenorganisation(en)

1. Kurzbeschreibung

In Deutschland und in Österreich wird der Begriff "Vertriebenenorganisation" als Sammelbezeichnung für Zusammenschlüsse und Vereinigungen der am Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg aus Ostmittel-, Südost- und Osteuropa nach Deutschland, in geringerer Anzahl auch nach Österreich gekommenen Vertriebenen, Flüchtlinge, Aussiedler und Spätaussiedler verwendet. Dachorganisationen sind der Bund der Vertriebenen (BdV), Bonn, und der Verband der Volksdeutschen Landsmannschaften Österreichs (VLÖ), Linz. Nach Herkunftsgebieten gebildete Landsmannschaften (LM) bilden wiederum Dachorganisationen für regionale und lokale Vertriebenenorganisationen; zahlreiche weitere Vertriebenenorganisationen sind weder im BdV noch in Landsmannschaften Mitglied. In Westdeutschland ist nach dem Zweiten Weltkrieg nach und nach ein differenziertes Vertriebenen-Organisationswesen entstanden. Dagegen verhinderte die auf rasche und vollständige Assimilation der Vertriebenen und Flüchtlinge abzielende Integrationspolitik in der sowjetischen Besatzungszone bzw. in der DDR die Bildung entsprechender Interessenverbände. Lediglich rudimentäre Formen der Selbstorganisation auf Basis privater Kontakte waren möglich; gewisse Schutzräume für landsmannschaftlich orientierte Gruppen boten die Kirchen. Vertriebenenorganisationen unterscheiden sich erheblich hinsichtlich ihrer Ziele und Aktivitäten, ihres Selbstverständnisses, ihrer Größe (Mitgliederzahlen), ihrer rechtlichen Formen sowie ihrer Organisationsstrukturen. Die Gesamtzahl der Vertriebenenorganisationen ist nicht bekannt.

Anderssprachige Bezeichnungen

engl. expellee / refugee organisations; poln. organizacje wypędzonych; tschech. organizace vyhnanců

2. Geschichte

Die erste landsmannschaftliche Gründung überhaupt war die am 12. Juli 1945 in München gegründete Sudetendeutsche Hilfsstelle (Stickler). Die ersten Vertriebenenorganisationen entstanden im kirchlichen Bereich als soziale Hilfsorganisationen der Gemeindemitglieder. Diese "Hilfskomitees", die bereits 1946 u. a. für die evangelisch-lutherischen Slowakeideutschen, Bessarabiendeutschen und Deutschen aus Polen gebildet wurden, schlossen sich 1951 zum Konvent der zerstreuten evangelischen Ostkirchen zusammen. Im wissenschaftlichen Bereich nahm der Göttinger Arbeitskreis e. V. ebenfalls schon 1946 seine Tätigkeit auf; 1950 wurden der Johann Gottfried Herder Forschungsrat und der Verein Ostdeutscher Kulturrat gegründet.

Politisch-gesellschaftliche Vertriebenenorganisationen konnten sich nach Ende des Koalitionsverbotes der Westalliierten bilden. Ende 1948 schlossen sich Vertriebene und Flüchtlinge auf regionaler und überregionaler Ebene zusammen. Zur Wahrnehmung von wirtschaftlichen und sozialpolitischen Interessen gründeten sie 1949 den Zentralverband der Vertriebenen Deutschen (ZvD). Zugleich organisierten sich Vertriebene zur Vertretung ihrer kulturellen und heimatpolitischen Belange entsprechend ihrer Herkunft in Landsmannschaften; diese assoziierten sich 1949 als Vereinigte Ostdeutsche Landsmannschaften (VOL) und 1952 als Verband der Landsmannschaften (VdL). 1957 erfolgte nach jahrelangen Debatten und Konflikten beider Dachverbände der Zusammenschluss von VdL und ZvD zum BdV.

3. Struktur

Korporative Mitglieder des BdV sind zum einen 20 Landsmannschaften. Zusätzlich bestehen 16 BdV-Landesverbände sowie weitere, an spezifischen Interessen ausgerichtete außerordentliche Mitgliedsverbände (z. B. Bauernverband der Vertriebenen, Frauenverband im BdV). In den Landsmannschaften sind regionale Vertriebenenorganisationen, insbesondere Heimatkreise, sowie Kreis- und Ortsgruppen, in den BdV-Landesverbänden nur Kreis- und Ortsruppen zusammengeschlossen. Teils innerhalb, teils außerhalb von BdV und Landsmannschaften bestehen weitere Vertriebenenorganisationen, u. a. Jugendorganisationen (z. B. Bund junges Ostpreußen, Schlesische Jugend Bundesgruppe e.V., Sudetendeutsche Jugend e.V.).

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Die Pflege von Brauchtum und insbesondere
von Trachten spielte in der Tätigkeit vieler
Vertriebenenorganisationen eine herausragende
Rolle [Foto: Breslauer Nachrichten, Mitteilungs-
blatt des Schlesier-Verbandes 1 (1949), Nr. 12,
S. 97, Bibliothek BKGE].

Während die Geschichte, die Strukturen und das Agieren von BdV und Landsmannschaften gut erforscht sind, ist über die große Zahl der überwiegend in den 1950er und 1960er Jahren entstandenen Vertriebenenorganisationen noch wenig bekannt: Gegründet wurden Vertriebenenorganisationen für kleinere Teilräume der Herkunftsgebiete (Kreis-, Orts-, Heimatgemeinschaften), ferner kulturelle, wissenschaftliche und Bildungsvereinigungen, außerdem soziale, berufsständische und fachliche Zusammenschlüsse unterschiedlichster Art (z. B. Studentenverbindungen, Literarische Gesellschaften, Kulturwerke, Schulgemeinschaften, Sing- und Spielscharen, Chöre).

Auf protestantischer Seite treten neben den Hilfskomitees weitere Zusammenschlüsse (z. B. Gemeinschaft evangelischer Schlesier e.V., Gemeinschaft evangelischer Ostpreußen e.V.) hervor. Katholische Vertriebenenorganisationen (z. B. Ackermann-Gemeinde, St.-Hedwigs-Werke, Adalberts Werk e. V.) schlossen sich 1966 in der Arbeitsgemeinschaft katholischer Vertriebenenorganisationen (AKVO) zusammen. Seit den 1970er Jahren, verstärkt nach 1989, knüpften Vertriebenenorganisationen Kontakte in die Herkunftsregionen, setzten sich für kulturelle Belange, Austausch und zwischenmenschliche Begegnungen ein.

1959 sprach der BdV von über 10.000 Ortsverbänden.[1] Gegenwärtig ist auf der BdV-Homepage von "rund 6000 regionalen Gliederungen und den über 1000 Heimatkreisvereinigungen bzw. Heimatortsgemeinschaften"[2] die Rede. Das 2012 von der Kulturstiftung der Vertriebenen erstellte "Kulturportal West-Ost" verzeichnet derzeit annähernd 3.000 Einrichtungen, Verbände, Vereine und Gruppen der Vertriebenen, Flüchtlinge und Aussiedler. Die Mitgliederzahlen der Vertriebenenorganisationen sind stark rückläufig; zahlreiche, insbesondere kleinere und lokal orientierte Vertriebenenorganisationen sowie deren Heimatsammlungen sind bereits aufgelöst bzw. von der Schließung bedroht.

4. Bedeutung der Vertriebenenorganisationen

Vertriebenenorganisationen übten seit Beginn erheblichen Einfluss auf die Politik, die Medien (z. B. auf Rundfunkräte) sowie auf die kulturelle und politische Bildung (z. B. auf Landesjugendringe) aus. Trotz ihres Beharrens auf dem "Recht auf Heimat" hatten sie für die letztlich erfolgreiche Eingliederung der Vertriebenen, Flüchtlinge und Aussiedler in die westdeutsche Gesellschaft bzw. in die Bundesrepublik Deutschland Bedeutung, indem sie in unterschiedlichen Kontexten als Interessengruppen agierten (Thränhart). Ob sie die Gefahr einer Radikalisierung der Millionen von Vertriebenen und Flüchtlingen eher vergrößerten oder eher abschwächten, wird in der Forschung unterschiedlich beurteilt. Als Interessenvertretungen engagierten sie sich anfangs insbesondere für humanitäre Fragen, Familienzusammenführungen, den Lastenausgleich sowie für weitere wirtschaftliche und soziale Belange. Darüber hinaus lagen oft ehrenamtlich wahrgenommene Aufgaben in den Bereichen Kultur-, Brauchtums- und Traditionspflege, Wissenschaft und Bildungsarbeit (oft mit konkreter regionaler und thematischer Ausrichtung), außerdem in der Durchführung von Heimattreffen, der Gründung und Unterhaltung von Einrichtungen (Kulturwerken, Bibliotheken, Archiven, Museen, Heimatstuben), der Herausgabe von heimatkundlichen Schriften, insbesondere von Zeitschriften, Heimatbüchern und Periodika, sowie in der Übernahme von Patenschaften.

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Neuroder Heimattreffen, Castrop-Rauxel. Die
Veranstaltung von Heimattreffen bildete eine wichtige
Aufgabe von Vertriebenenorganisationen – auf Bundes-
ebenso wie auf regionaler Ebene [Foto: Der Schlesier.
Breslauer Nachrichten 12 (1960), Nr. 41, Ausg. A, S. 8,
Bibliothek BKGE]

In Österreich ist die 1954 in Linz gegründete Arbeitsgemeinschaft der Volksdeutschen Landsmannschaften Österreichs (VLÖ) Dachorganisation mehrerer Landsmannschaften und Vertriebenenverbände. Anspruch des VLÖ ist die Vertretung der Interessen verschiedener Gruppen von Heimatvertriebenen deutscher Muttersprache aus den Gebieten der ehemaligen Habsburgermonarchie. Seine Aufgaben sieht der VLÖ darin, das Thema "Vertreibung" und die damit verbundenen Verbrechen, die eine moralische, rechtliche und wirtschaftliche Wiedergutmachung erforderten, vor dem Vergessen zu bewahren. Im Vergleich zur Bundesrepublik blieb der Einfluss der Vertriebenenorganisationen in Österreich zunächst schwach, u. a. weil die Vertriebenen und Flüchtlinge als "Staatenlose" weder Staatsbürgerschaft noch Wahlrecht besaßen. Politisch konnten die Vertriebenenorganisationen in Österreich von der gesamteuropäischen Entwicklung nach 1989 profitieren (1996 Eröffnung des Hauses der Heimat im Dritten Wiener Gemeindebezirk), weil ältere geschichtspolitische Fragen wieder aktualisiert wurden.

Die 2007 in Triest durch Zusammenschluss von Vertriebenenorganisationen aus elf Staaten (federführend: Unione degli Istriani) gegründete Europäische Union der Flüchtlinge und Vertriebenen (EUFV) versteht sich als europaweite Vertretung der Rechte von Flüchtlingen und Vertriebenen sowie der Opfer nationalistischer Bestrebungen und ethnischer Säuberungen von der Zeit des Zweiten Weltkriegs bis zu den Vertreibungen auf dem Balkan in den 1990er Jahren.[3] Wichtigste Forderungen sind ein Rückkehrrecht aller Flüchtlinge und Vertriebenen, die Regelung von Eigentumsfragen sowie die Einrichtung eines institutionellen Forums bei der Europäischen Union. Das Agieren der EUFV wird kontrovers beurteilt; sie hat bis heute keine größere Integrationskraft entfaltet. Der BdV ist der EUFV aufgrund von "Verbindungen [von Gründungspersönlichkeiten] zum rechtsextremen Spektrum"[4] nicht beigetreten.

5. Kontroversen

Umstritten bleibt bis heute das politische Agieren mancher Vertriebenenorganisationen. Eugen Lemberg fragte schon 1965, ob die Vertriebenen "Mittler oder Störenfriede"[5] seien. Vertriebenenorganisationen nahmen lange revisionistische Positionen ein, lehnten die Oder-Neiße-Grenze ab und stellten sich der Ostpolitik Willy Brandts sowie den Ostverträgen entgegen. 1985 löste das nach der Teilnahmezusage von Bundeskanzler Kohl gewählte Motto des Schlesiertreffens "40 Jahre Vertreibung - Schlesiens bleibt unser" lebhafte Diskussion aus. Verschiedentlich kamen Vertriebenenorganisationen durch Verbindungen zu rechtsextremen Milieus in die Medien. Z. B. erkannte die Landsmannschaft Ostpreußen ihrer 1991 gegründeten Jugendorganisation "Junge LM Ostpreußen" (heute: Junge LM Ostdeutschland) wegen extremistischer Ausrichtung diesen Status ab und gründete 2000 als neue Jugendorganisation den "Bund junges Ostpreußen" (BJO).

Kritisiert wurden wiederholt die lange einem älteren Verständnis verpflichteten, zum Teil von Stereotypen mitgeprägten Geschichtsbilder ("Kulturträgertheorie", Paradigmen der "Ostforschung"), die von manchen Vertriebenenorganisationen verbreitet wurden.

Die zahlreichen Vertriebenenorganisationen lassen sich aber nicht einheitlich charakterisieren oder politisch pauschal zuordnen. Die innerhalb der Vertriebenenorganisationen bestehende politische Meinungsvielfalt und Pluralität war bzw. ist infolge der prägenden Rolle des BdV öffentlich nur eingeschränkt wahrnehmbar.

6. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Wolfgang Kessler (Bearb.): Ostdeutsches Kulturgut in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Handbuch der Sammlungen, Vereinigungen und Einrichtungen mit ihren Beständen. München u. a. 1989.
  • Manfred Kittel: "Vertreibung der Vertriebenen? Der historische Deutsche Osten in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik (1961–1982). München 2007 (Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer).
  • Gregor Ploch: Clemens Riedel (1914-2003) und die katholischen deutschen Vertriebenenorganisationen. Motor oder Hemmschuh des deutsch-polnischen Verständigungsprozesses. Berlin 2011 (Beiträge zu Theologie, Kirche und Gesellschaft im 20. Jahrhundert 21).
  • Matthias Stickler: "Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch". Organisation, Selbstverständnis und heimatpolitische Zielsetzungen der deutschen Vertriebenenverbände 1949-1972. Düsseldorf 2004 (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte 46).
  • Matthias Stickler: Vertriebenenintegration in Österreich und Deutschland - ein Vergleich. In: Michael Gehler, Ingrid Böhler (Hg.): Verschiedene europäische Wege im Vergleich. Österreich und die Bundesrepublik Deutschland 1945/49 bis zur Gegenwart. Festschrift für Rolf Steininger zum 65. Geburtstag. Innsbruck 2007, S. 416-435.
  • Tobias Weger: "Volkstumskampf" ohne Ende? Sudetendeutsche Organisationen 1945-1955. Frankfurt/M. u.a. 2008 (Die Deutschen und das östliche Europa 2).

Weblink

Anmerkungen

[1] "Für Heimat und Zukunft 1959", Aufruf des BdV, zitiert nach: Eva Hahn, Hans Henning Hahn: Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte. Paderborn u. a. 2010, S. 516.

[2] Vgl. www.bund-der-vertriebenen.de/verband/mitgliedsverbaende (Abruf 06.08.2021).

[3] Vgl. die Webpräsenz www.eufv.de.vu/ (Abruf 19.03.2014).

[4] Mitteilung des BdV vom 18.02.2008: Große Mehrheit des BdV-Bundesausschusses gegen Mitgliedschaft in der Europäischen Union der Flüchtlinge und Vertriebenen (EUFV) in Italien. URL: www.bund-der-vertriebenen.de/presse/index.php3?id=710&druck=1 (Abruf 19.03.2014).

[5] Eugen Lemberg: Die Vertriebenen - Mittler oder Störenfriede? In: Peter Nasarski (Hg.): Nachbarn im Osten. Wandlungen und Erkenntnisse in zwei Nachkriegsjahrzehnten. Leer 1965 (Schriften zur deutschen Frage 15), S. 122-132.

Zitation

Matthias Weber: Vertriebenenorganisationen. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2014. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32701 (Stand 06.08.2021).

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OME-Redaktion (Stand: 30.07.2024)  | 
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