Flucht und Vertreibung - Interpretationen

1. Definition

Interpretationen der Zwangsmigration der Deutschen aus den ehemaligen Ostprovinzen des Deutschen Reiches sowie aus den Ländern im östlichen Europa am Ende und in der unmittelbaren Folge des Zweiten Weltkrieges gingen bereits mit dem Ereignis selbst einher. In den darauffolgenden Jahrzehnten kam es zu unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen, Erklärungs- und Deutungsmustern in verschiedenen Erinnerungskulturen und -subkulturen.

2. Genese

Begriff

Die Interpretation der „Flucht und Vertreibung“ – also der Zwangsmigration der Deutschen aus den ehemaligen Ostprovinzen des Deutschen Reiches sowie aus den Ländern im östlichen Europa am Ende und in der unmittelbaren Folge des Zweiten Weltkrieges – beginnt bereits mit der Wahl der Begrifflichkeiten, welche den Diskurs präfigurieren. In der frühen Bundesrepublik Deutschland wurde von Seiten des Staates gezielt der Begriff „Vertreibung“ gewählt. Nach dem Bundesvertriebenengesetz von 1953 (§1) umfasste er sowohl die „Ausweisung“ als auch die „Flucht“ der deutschen Bevölkerung, diente also als Oberbegriff für einen in sich mehrstufigen und heterogenen Prozess. Seit den 1960er Jahren wurde dieser im allgemeinen Sprachgebrauch zu dem heute geläufigen Doppelbegriff „Flucht und Vertreibung“ erweitert. Er verweist so auf die Vielgestaltigkeit des Vorgangs, der in zwei Phasen geteilt wird. Der Teilbegriff „Vertreibung“ fokussiert auf die Phase der Ausweisung nach Kriegsende, obwohl es im Sprachgebrauch meist keine eindeutige semantische Abgrenzung gibt.

Träger, Gebrauch

Der Begriff „Vertreibung“ bzw. „Flucht und Vertreibung“ war bis 1990 ein Spezifikum der Bundesrepublik. Er war von Seiten des Staates und der Vertriebenenorganisationen als ein emotional besetzter und moralisch aufgeladener Begriff bewusst gewählt worden und sollte den Zwangs- und Unrechtscharakter des Vorgangs, die mit ihm verbundene Gewalt sowie den Anspruch auf seine Revision zum Ausdruck bringen.

In der DDR wurde dagegen als terminus technicus der Begriff „Umsiedlung“ verwendet, der den Vorgang betont nüchtern als einen ordnungsgemäßen und endgültigen markieren sollte.

In der Wissenschaft wird heute meist neutral von der „Zwangsmigration“ der Deutschen gesprochen, welche die Phasen der Evakuierung, Flucht, „wilden“ Vertreibung sowie organisierten Aussiedlung umfasst.

Fremdsprachige Entsprechungen, Übernahmen, Übersetzungen

Ähnlich wie in der DDR waren in Polen und der Tschechoslowakei mit den Begriffen wysiedlenie (Aussiedlung) bzw. odsun (Abschiebung) nüchterne Bezeichnungen gewählt worden. Ähnliches galt für den englischsprachigen Raum, in dem anfangs der eher technische Begriff transfer dominierte. Mit dem Beginn des Kalten Krieges ging aber der Begriff „Vertreibung“ auch in den englischsprachigen und französischen Diskurs ein (expulsion). Nach dem Ende der Blockkonfrontation wurde er ab 1990 gelegentlich auch ins Polnische und Tschechische übersetzt (wypędzenie, vyhnání).

3. Diskurse, Kontroversen

Die bereits in den Begrifflichkeiten deutlich werdende Pluralität der Perspektiven und Deutungen in verschiedenen Ländern geht auf deren unterschiedliche Rollen und Interessen bei Kriegsende und in der Nachkriegszeit ebenso zurück wie auf ihre differierenden Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg und die sich daran anschließenden Erinnerungskulturen. Gemeinsam war den nichtdeutschen Perspektiven lange Zeit die grundsätzliche Überzeugung von der deutschen Eigenverantwortung für die erzwungene Migration der Deutschen aufgrund ihrer vorangegangenen aggressiven Kriegs- und Besatzungspolitik unter Instrumentalisierung deutscher Minderheiten in den östlichen Nachbarländern. Deren Aussiedlung schien durch das Ziel gerechtfertigt, die Wiederholung einer solchen Politik zukünftig zu vermeiden.

Darüber hinaus verweist insbesondere die begriffspolitische Differenz zwischen DDR und Bundesrepublik auf die Bedeutung des politischen und ideologischen Systemgegensatzes im Kalten Krieg. Sowohl die politische als auch die territoriale Nachkriegsordnung waren unmittelbar mit dem deutschen Gebietsverlust im Osten und der Zwangsmigration der deutschen Bevölkerung verknüpft. In den kommunistisch regierten Staaten, in denen die Herkunftsgebiete der Vertriebenen nun lagen, konnte die Aussiedlung der Deutschen daher nicht grundsätzlich hinterfragt werden, ohne das politische System und die staatliche Integrität selbst in Frage zu stellen. Die Thematisierung der Zwangsmigration der Deutschen in der Öffentlichkeit war daher hier stark reglementiert.

In allen beteiligten Ländern eröffneten das Ende des Kommunismus und der Systemkonfrontation sowie die endgültige Anerkennung der Oder-Neiße-Linie durch das vereinigte Deutschland neue Zugänge und Interpretationsmöglichkeiten. In den Ländern, aus denen die Deutschen ausgesiedelt worden waren, entwickelte sich in den 1990er Jahren insbesondere auf lokaler und regionaler Ebene ein neues, manchmal auch erstmaliges Interesse an der Geschichte der Deutschen vor Ort und ihrer erzwungenen Migration. Ihre Zwangsaussiedlung wurde nun wissenschaftlich intensiv bearbeitet. Auch auf staatlicher Ebene stieg die Bereitschaft, die Leiderfahrungen der betroffenen Deutschen zu würdigen und die eigene Mitverantwortung daran in den Blick zu nehmen. Während es somit zu Annäherungen an die (west-)deutsche Perspektive kam, blieb die historische Kontextualisierung als Folge des Zweiten Weltkriegs konstitutiv.

Gestört wurde diese erinnerungskulturelle Annäherung ab der Jahrtausendwende durch den zunehmenden Eindruck, dass im deutschen Diskurs insbesondere im Zuge der Diskussion über ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ und die Deutschen als Kriegsopfer der historische Zusammenhang mit der deutschen Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg gelockert und eine Umkehrung des Täter-Opfer-Verhältnisses vorgenommen werde. Nachteilig wirkten sowohl anhaltende Forderungen von Vertriebenenorganisationen und Teilen der deutschen Politik nach öffentlichen Schuldeingeständnissen, finanziellen Entschädigungen und der Rücknahme von Gesetzen als auch innenpolitische Parteiinteressen, die auf die Reaktivierung alter Feindbilder setzten.

4. Historischer Abriss der Entwicklung in Deutschland

Für die erinnerungskulturelle Entwicklung in Deutschland bildeten das Ende des Kalten Krieges und die deutsche Wiedervereinigung einen besonderen Einschnitt. Über fünf Jahrzehnte lang hatten in den beiden Teilstaaten zwei voneinander getrennte, wenn auch durchaus in Beziehung zueinander stehende Erinnerungskulturen existiert. Insbesondere das differierende Verhältnis zur Oder-Neiße-Grenze, zur Sowjetunion und zur Geschichte des Nationalsozialismus war für die Ausgestaltung und Entwicklung unterschiedlicher Erinnerungskulturen in beiden deutschen Teilstaaten verantwortlich. Erst die Wiedervereinigung von 1990 und die gemeinsame Anerkennung der Ostgrenze zu Polen führte sie zusammen und ließ sie zu zwei Erinnerungstraditionen werden, die sich auf den nachfolgenden Diskurs über die Zwangsmigration der Deutschen allerdings unterschiedlich stark auswirkten.

Sowohl vor als auch nach 1990 prägte die jeweilige staatliche Erinnerungspolitik den öffentlichen Diskurs. Daneben waren in beiden deutschen Staaten verschiedene zivilgesellschaftliche Akteure von Bedeutung (s. u.).

DDR

Die Erinnerungspolitik der DDR, wo der Anteil der Deutschen aus dem östlichen Europa noch größer war als in der Bundesrepublik, war maßgeblich von der Überzeugung bestimmt, dass die Ostgrenze zu Polen mit Rücksicht auf die Bindung an die Sowjetunion und das Verhältnis zu Polen als sozialistischem Bruderland nicht in Frage gestellt werden dürfe. Die Anerkennung der sogenannten Friedensgrenze im Görlitzer Vertrag von 1950 bildete seitdem das nicht zu hinterfragende Fundament für jeden öffentlichen Diskurs. Sie diente gleichzeitig zur Abgrenzung von der Bundesrepublik, deren Offenhalten der Grenzfrage das ideologische Gegenbild eines revisionistischen, noch im Faschismus verhafteten kapitalistischen Staates nährte, der die Rückkehrhoffnungen der Betroffenen bewusst schüre und ihre Integration dadurch verzögere.

Der Status der ‚Umsiedler‘ in der DDR dagegen sollte im gemeinsamen Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft, in der alle unabhängig von ihrer Herkunft eine neue Heimat finden sollten, baldmöglichst bedeutungslos werden. Die Erinnerung an die erzwungene Migration und die frühere Heimat im Osten erschien rückwärtsgewandt und für den Aufbau einer neuen sozialistischen Gesellschaft hinderlich sowie tendenziell revanchistisch. Selbstorganisationen von ‚Umsiedlern‘, die in Westdeutschland zentrale Akteure der Erinnerung waren, wurden in der DDR nicht zugelassen, Kontakte zu entsprechenden westdeutschen Verbänden geheimdienstlich überwacht.

Die öffentliche Erinnerung an die Zwangsmigration der Deutschen war stark reglementiert, wurde aber nicht vollständig unterbunden. In Schulbüchern wurde zum Beispiel eingeräumt, dass die Potsdamer Beschlüsse „für das deutsche Volk hart und schwer“ waren.[1] Freiräume, innerhalb derer die Leiderfahrungen der ‚Umsiedler‘ beschrieben und diskutiert wurden, boten von Beginn an insbesondere Literatur und Film, trotz der hier wirksamen Zensur.

In Romanen und Erzählungen kam vor allem die verlustreiche Phase der Flucht vor Kriegsende zur Sprache. Auch in Kino- und Fernsehfilmen wurde die Flucht der Bevölkerung vor der Front in dramatischen Bildern visualisiert. Der staatlich verordneten Doktrin des Antifaschismus entsprachen diese Darstellungen dadurch, dass das nationalsozialistische Regime für diese Phase und die damit verbundenen Todesopfer und Erlebnisse verantwortlich gemacht werden konnte, während gewaltsame Übergriffe der Roten Armee ausgeblendet blieben oder nur angedeutet wurden. Konstitutiv war eine Einbettung der Flucht in den ursächlichen Zusammenhang der deutschen Kriegspolitik und des Faschismus. Meist wurde ihr eine kathartische Wirkung zugeschrieben, indem sie den Charakter und die Folgen der nationalsozialistischen Herrschaft offenlegte und das Fundament für eine tatkräftige Bejahung einer sozialistischen Zukunft bildete.

Auch über die Zwangsaussiedlung wurde geschrieben, wobei jedoch gewaltsame Übergriffe weitgehend ausgeblendet blieben. Dagegen dominierte eine um Verständnis bemühte Haltung gegenüber den östlichen Nachbarn, ihren Kriegs- und Besatzungserfahrungen und ihren daraus resultierenden negativen Einstellungen gegenüber den Deutschen. Seit Ende der 1970er Jahre konnte auch die rigorose Integrationspolitik der DDR in der Literatur kritisch behandelt werden. Das betraf sowohl die Unterdrückung kultureller Eigenheiten von ‚Umsiedlern‘ aus Schlesien, Ostpreußen oder Pommern als auch den vermeintlichen Erfolg ihrer Integration in die sozialistische Gesellschaft. Auch das Heimweh vor allem älterer ‚Umsiedler‘ konnte nun mit Empathie beschrieben werden, selbst ihr teilweise anhaltender Unwille über den Verzicht auf ihre Herkunftsgebiete wurde thematisiert.

Bei aller Anerkennung des Leids der Betroffenen und etwaiger Fehler bei ihrer Integration blieb bis 1990 die Deutung der ‚Umsiedlung‘ als unumkehrbare Folge der nationalsozialistischen Kriegspolitik konstant. Dies war nicht nur staatlich verordnet und von der Zensur durchgesetzt, sondern entsprach auch der Einstellung der meisten zivilgesellschaftlichen Erinnerungsakteure, die sich öffentlich zu Wort melden konnten.

Bundesrepublik (bis 1990)

In der Bundesrepublik galten für die öffentliche Erinnerung an die Zwangsmigration der Deutschen keine staatlichen Vorgaben oder gar Zensurmaßnahmen, aber lange Jahre doch bestimmte Diskursregeln. Bis in die Mitte der 1960er Jahre herrschte ein breiter politischer und gesellschaftlicher Konsens über die Illegitimität der Ostgrenze, das ‚Heimatrecht der Vertriebenen‘ und das ‚Unrecht der Vertreibung‘. Der Staat förderte ein ‚gesamtdeutsches‘ Bewusstsein, das nicht nur die verlorenen Ostgebiete, sondern einen darüber hinausgehenden imaginären ‚deutschen Osten‘ umfasste. Dies sollte nicht nur die Vertriebenen in die westdeutsche Gesellschaft integrieren, sondern die westdeutsche Gesellschaft auch ideologisch einen – nicht zuletzt in Abgrenzung zur DDR, die die Ostgrenze anerkannt hatte.

Die Erinnerung an die Zwangsmigration der Deutschen blieb stets mit der Grenzfrage verbunden. Das wissenschaftliche Großprojekt einer Sammlung von Zeitzeugenberichten, das von 1953 bis 1962 in mehreren Bänden als monumentale „Dokumentation der Vertreibung“ erschien, war von der Bundesregierung in Auftrag gegeben und finanziert worden, um damit bei einer zukünftigen Friedenskonferenz über eine Grundlage für die Verhandlung territorialer Ansprüche und finanzieller Reparationen zu verfügen. Direkten Einfluss nahm der Staat über die schulische Ostkunde, die 1956 von der Kultusministerkonferenz als fächerübergreifendes Unterrichtsprinzip beschlossen und in der Verantwortung der Bundesländer durchgeführt wurde. Zusammen wirkten Bundes- und Länderregierungen bei der Kulturförderung nach §96 des Bundesvertriebenengesetzes, in deren Rahmen auch die Erinnerung an die Zwangsmigration der Deutschen in musealen Einrichtungen, Heimatstuben, Publikationen und Veranstaltungen gepflegt wurde. Die staatlich geförderten Verbände waren lange Zeit die wichtigsten zivilgesellschaftlichen Akteure bei der Erinnerung an die Zwangsmigration. Auf lokaler Ebene war bei der Organisation von Gedenktagen und Heimattreffen oder bei der Errichtung von Vertriebenendenkmälern und Heimatstuben auch die Kooperation mit staatlichen Behörden vor allem im Rahmen der kommunalen Patenschaften von Bedeutung. Daneben prägten Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Historikerinnen und Historiker sowie journalistisch und publizistisch Tätige den öffentlichen Diskurs mit.

Die Erinnerung an die Zwangsmigration der Deutschen stärkte in der Frühzeit der Bundesrepublik das allgemeine Bewusstsein, dass Deutschland selbst Opfer des Zweiten Weltkriegs geworden war und eine etwaige Schuld gegenüber anderen Gruppen damit relativiert werden könne. Akteure, die den Unrechtscharakter der Grenzziehung und der Zwangsaussiedlung in Frage stellten oder den historischen Zusammenhang mit der deutschen Kriegspolitik hervorhoben, fanden lange Zeit kaum Gehör.

Ab Mitte der 1960er Jahre wuchs in Politik und Gesellschaft jedoch die Überzeugung, dass die Ostgrenze doch eine endgültige sein würde, ebenso wie das Interesse für die NS-Opfer und die deutsche Tätergeschichte im Zweiten Weltkrieg. Die bis dahin vornehmlich auf Revision und Selbstviktimisierung angelegte Erinnerung an die Zwangsmigration der Deutschen wurde daher zunehmend kritisch betrachtet und nun stärker in einen Zusammenhang mit der vorangegangenen deutschen Kriegspolitik und den NS-Verbrechen gestellt. Mit der faktischen Grenzanerkennung im Warschauer Vertrag von 1970 durch die sozialliberale Bundesregierung wandelte sich die vormals relativ homogene deutsche Erinnerungsgemeinschaft endgültig in eine zerklüftete Erinnerungslandschaft.

Die Zwangsmigration der Deutschen wurde nun zu einem zunehmend umkämpften Erinnerungsort, über dessen Bedeutung und Bewertung sich verschiedene politische, aber auch erinnerungskulturelle Milieus stritten. Insbesondere die Vertriebenenorganisationen und die konservativen Parteien hielten bis 1990 an den traditionellen Opfernarrativen fest und verbanden sie nach wie vor mit der Grenzfrage. In den 1970er und 1980er Jahren erschien die Beschäftigung mit der Zwangsmigration der Deutschen vielen Jüngeren und politisch eher links Stehenden nahezu notwendig mit Revisionismus und Selbstviktimisierung verknüpft und daher wenig attraktiv und latent verdächtig zu sein. Während in den 1980er Jahren die Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl (1930–2017) die Förderung der Vertriebenenorganisationen und ihrer Erinnerungspflege finanziell und ideell verstärkte, versuchten vor allem publizistische Akteure und Schriftsteller wie zum Beispiel Sigfried Lenz (1926–2014) oder Horst Bienek (1930–1990), eine Erinnerung im größeren Kontext des Zweiten Weltkrieges und jenseits einer Fokussierung auf die deutschen Opfer zu ermöglichen. Dabei thematisierten sie teilweise auch die deutschen Erinnerungskonflikte selbst.

Deutschland nach 1990

Als es 1990 zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Teilstaaten kam, gab es somit einen vielgestaltigen Erinnerungsdiskurs. Durch die endgültige Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze fiel nun jedoch mit der Grenzfrage ein bis dahin für alle Erinnerungsmilieus konstituierender Faktor weg.

Für die Vertriebenenorganisationen entfiel damit der Kern ihres bisherigen Selbstbildes als Speerspitze einer gesamtdeutschen Bewegung, die die ehemaligen Ostgebiete als integralen Teil Deutschlands betrachtet hatte. Nach einer Phase der Neuorientierung bestimmten sie Ende der 1990er Jahre unter der BdV-Präsidentschaft von Erika Steinbach die Erinnerungskultur als ihr neues zentrales Wirkungsfeld. Sie konzentrierten sich nunmehr darauf, ihre Interpretation der deutschen Zwangsmigration im kollektiven Gedächtnis der Nation zu verankern. Einrichtungen, wie ein nationales „Zentrum gegen Vertreibungen“ oder ein staatlicher Vertriebenengedenktag, sollten ein dauerhaftes Fortwirken ihrer spezifischen Erinnerungsform und -inhalte in staatlicher Regie garantieren und sie unabhängig vom weiteren Bestehen der Verbände und der Erlebnisgeneration zu einem Teil der nationalen Identität machen.

Nicht nur die frühere DDR-Bevölkerung konnte sich mit der Zwangsmigration der Deutschen nun unreglementiert beschäftigen. Der Wegfall der Grenzfrage ermöglichte auch einem politisch eher links stehenden westdeutschen Milieu eine neue Annäherung an das Thema, das nun politisch unbedenklich geworden zu sein schien. Als Katalysator wirkten unter anderem die Kriege in Jugoslawien und insbesondere der Kosovo-Krieg Ende der 1990er Jahre. Es etablierte sich daran anknüpfend das menschenrechtlich fundierte Narrativ eines ‚Jahrhunderts ethnischer Säuberungen’, das die deutschen Vertriebenen als Opfer einschloss, dabei allerdings die Differenz von Vertreibungs- und Völkermordopfern tendenziell verwischte.

Seit der Jahrtausendwende führte das neue Interesse an der Zwangsmigration der Deutschen zu einer Vielzahl von medialen Repräsentationen. Es kam zu einem Boom von Erinnerungsliteratur, TV-Dokumentationen und Spielfilmen, Romanen, Ausstellungen und Veranstaltungen. Kontrovers wurde darüber diskutiert, ob und wie eine Erinnerung jenseits einer Renaissance der westdeutschen Opferstilisierung der 1950er Jahre möglich und ob das Thema zu lange verdrängt oder sogar tabuisiert worden sei.

Das seit 1999 vom BdV verfolgte und viel diskutierte Projekt eines „Zentrums gegen Vertreibungen“ führte 2005 zum Beschluss der großen Koalition aus CDU/CSU und SPD zur Errichtung eines „Sichtbaren Zeichens“ in der Hauptstadt, das an das „Unrecht von Vertreibungen“ erinnern sollte.[2] 2008 wurde dazu die „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ gegründet, die eine staatliche Dokumentations- und Gedenkstätte in Berlin konzipieren und betreiben soll. Sie wird voraussichtlich 2021 eröffnet werden. Seit 2015 wird darüber hinaus jährlich ein staatlicher „Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung“ begangen. Auf die Einrichtung eines solchen Gedenktages hatte der BdV seit 2001 gedrungen. Indem die Bundesregierung ihn auf den Weltflüchtlingstag der UNO am 20. Juni legte, verband sie die Erinnerung an die Zwangsmigration der Deutschen im Kontext des Zweiten Weltkrieges mit den weltweiten Migrationsprozessen der Gegenwart. Diskussionen über die Verortung und Bewertung der Zwangsmigration der Deutschen in einem größeren migrationsgeschichtlichen Kontext haben im Zusammenhang und Nachgang der sogenannten Flüchtlingskrise von 2015 neuen Auftrieb erhalten.

5. Bibliographische Hinweise

Monographien und Sammelbände

  • Madlen Benthin: Die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa. Deutsche und tschechische Erinnerungskulturen im Vergleich. Braunschweig 2007.
  • Karina Berger: Heimat, Loss and Identity. Flight and Expulsion in German Literature from the 1950s to the Present. Oxford u. a. 2015.
  • Christoph Cornelißen, Roman Holec, Jiří Pešek (Hg.): Diktatur – Krieg – Vertreibung. Erinnerungskulturen in Tschechien, der Slowakei und Deutschland seit 1945. Essen 2005.
  • Andrew Th. Demshuk: The Lost German East. Forced Migration and the Politics of Memory, 1945–1970. New York 2012.
  • Elisabeth Fendl (Hg.): Zur Ikonographie des Heimwehs. Erinnerungskultur von Heimatvertriebenen. Freiburg 2002.
  • Elisabeth Fendl (Hg.): Zur Ästhetik des Verlusts. Bilder von Heimat, Flucht und Vertreibung. Münster 2010.
  • Eva Hahn, Hans Henning Hahn: Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte. Paderborn u. a. 2010.
  • Peter Haslinger, K. Erik Franzen, Martin Schulze Wessel (Hg.): Diskurse über Zwangsmigrationen in Zentraleuropa. Geschichtspolitik, Fachdebatten, literarisches und lokales Erinnern seit 1989. München 2008.
  • Manfred Kittel: Vertreibung der Vertriebenen? Der historische deutsche Osten in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik (1961–1982). München 2007.
  • Christian Lotz: Die Deutung des Verlustes. Erinnerungspolitische Kontroversen im geteilten Deutschland um Flucht, Vertreibung und die Ostgebiete (1948–1972). Köln, Weimar, Wien 2007.
  • Elke Mehnert (Hg.): Landschaften der Erinnerung. Flucht und Vertreibung aus deutscher, polnischer und tschechischer Sicht. Frankfurt/M. u. a. 2001.
  • Bill Niven: Representations of Flight and Expulsion in GDR Prose. New York 2014.
  • Maren Röger: Flucht, Vertreibung und Umsiedlung. Mediale Erinnerungskulturen und Debatten in Deutschland und Polen seit 1989, Marburg 2011.
  • Stephan Scholz, Maren Röger, Bill Niven (Hg.): Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung. Ein Handbuch der Medien und Praktiken. Paderborn 2015.
  • Thomas Strobel, Robert Maier (Hg.): Das Thema Vertreibung und die deutsch-polnischen Beziehungen in Forschung, Unterricht und Politik, Hannover 2008.

Anmerkungen

[1] Neueste Zeit. Lehrbuch für den Geschichtsunterricht der Oberschule. Teil 2. Berlin (Ost) 1957, S. 132, hier zit. nach Benthien, Vertreibung, S. 37.

[2] Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 11.11.2005, S. 114.

Zitation

Stephan Scholz: Flucht und Vertreibung – Interpretationen. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2020. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p49725 (Stand 07.12.2020).

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