Integration

1. Definition

Der Begriff „Integration“ (von lat. integratio) bedeutet „Erneuerung oder Wiederherstellung eines Ganzen“.[1] Dabei kann unterschieden werden zwischen Systemintegration und Sozialintegration. In der Sozialintegration, um die es im Folgenden geht, erkennt der Soziologe und Wissenschaftstheoretiker Hartmut Esser vier Dimensionen: die kulturelle Dimension des Erwerbs von Wissen und Fertigkeiten, die strukturelle Dimension der Platzierung auf Positionen, etwa im Bildungssystem oder auf dem Arbeitsmarkt, die soziale Dimension der Aufnahme von Kontakten und sozialen Beziehungen und die emotionale Dimension der Identifikation.

2. Genese

In den Gesellschaftswissenschaften wurde der Begriff „Integration“ zuerst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Soziologen der Chicagoer Schule in migrationsgeschichtlichen Gemeindestudien verwandt. Dort wurde er als Oberbegriff für die beiden konkurrierenden Zielvorstellungen des Einlebens von Zuwanderern benutzt, nämlich des „Schmelztiegels“ („melting pot“: Vermischung der Kulturen von Einwanderergruppen mit der gesamtgesellschaftlichen Kultur) und der „Salatschüssel“ („salad bowl“: Weiterbestehen abgegrenzter Kulturen von Einwanderergruppen in der Gesamtgesellschaft) bzw. der Assimilation und des ethnischen Pluralismus.

Der in den USA dominierende Assimilationsbegriff wurde in den Bürgerrechtsbewegungen der 1960er Jahre kritisiert und vom Pluralismuskonzept zurückgedrängt; oft wurde nun anstatt des – eigentlich immer noch gemeinten – Assimilationsbegriffs der Begriff „Integration“ benutzt.

3. Verbreitung

In Deutschland wurde der Begriff „Integration“ der Chicago School in den 1950er Jahren zunächst in Gemeindestudien, dann aber auch für Studien über Displaced Persons und nichtdeutsche Flüchtlinge übernommen.[2]

Nach der Aufnahme ausländischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in die Bundesrepublik erhielt der Begriff in den 1970er Jahren größere Verbreitung. Entsprechend zur Entwicklung in den USA profitierte er auch hier von der zunehmend kritischen Bewertung des Assimilationsbegriffs, der eine bis heute wirkende pejorative Konnotation als eine durch forcierte Integrationspolitik bewirkte „Zwangsgermanisierung“ erhielt.[3]

Gegen Ende der 1980er Jahre setzte sich der Integrationsbegriff auch bei der Erforschung der infolge des Zweiten Weltkriegs geflohenen oder vertriebenen Deutschen durch und löste den Begriff „Eingliederung“ ab.

Hier sind vor allem die 1986 bzw. 1987 erschienenen Studien der Soziologen Paul Lüttinger und Marion Frantzioch zu nennen. Lüttinger wies nach, dass die wirtschaftliche Eingliederung auch nach 40 Jahren noch nicht erfolgreich abgeschlossen war und dass die positiven Bewertungen und der Begriff der Eingliederung somit verkürzend waren.[4] Weitere Forschungen belegten, dass die Bewertungen der Forschungen der 1950er Jahre zu sehr auf Konsumgüter basierten, die mit Statussymbolkraft belegt waren, wie Auto, Motorrad, Fernseher, eigenes Haus und Eigentum insgesamt.[5]

Marion Frantzioch verwandte den Integrationsbegriff als Grundlage ihrer Forschung.[6] Sie nahm neben der wirtschaftlichen, der sozialen und der kulturellen nun auch die emotionale Teilhabe in den Blick und berücksichtigte dabei den wechselseitigen Charakter des Integrationsprozesses, der sowohl Veränderungen im Verhalten der Vertriebenen und Flüchtlinge als auch der Einheimischen bewirkte und somit auch zu einer neuen gesellschaftlichen Kultur insgesamt führen konnte. Dabei hob sie hervor, dass die partielle Wiederherstellung der Heimatkultur die Integration erleichtert habe.[7] Dieses Ergebnis kam den Intentionen der Landsmannschaften der Vertriebenen entgegen, die die Wahrung ihrer „Volksgruppenidentität“ nun auch als wichtigen Beitrag zur Integration verstehen konnten.

4. Kontroversen

Im Nachhinein gesehen deutete sich hier ein grundlegender Konflikt an, wie er nun zwischen den politischen Lagern der Multikulturalisten und den Anhängern der Assimilationstheorie ausgefochten wird.

„In der Szene der Migrationsforscher rumort es“, so fasste der Berliner Soziologe Steffen Mau im Jahr 2016 die Situation zusammen.[8] Schon seit Längerem stünden sich jene gegenüber, die auf Assimilation setzten, und jene, die im Multikulturalismus oder der postmigrantischen Gesellschaft die Zukunft sähen.

Den Anstoß zu der Kontroverse hatte Hartmut Esser im Jahr 2004 mit seinem Aufsatz Welche Alternative zur Assimilation gibt es eigentlich? gegeben.[9] Seine Antwort lautete: Es gebe zur strukturellen Assimilation der Migranten im Bildungssystem und auf dem primären Arbeitsmarkt keine Alternative. Die Gegenseite – so referierte Steffen Mau – gehe davon aus, dass das Modell der abgeschlossenen und homogenen Nationalgesellschaft obsolet sei, eine deutsche Leit- und Nationalkultur weder erkenn- noch wünschbar sei. Es müsse nun primär um die Anerkennung von Differenz und Gruppenrechten sowie um die Pluralität von Identitäten gehen.

Von beiden Seiten wird beklagt, dass allgemein akzeptierte Definitionen für die Begriffe „Integration“ und „Assimilation“ fehlten und zudem häufig von Integration gesprochen werde, obwohl Assimilation gemeint sei. Aus diesem Dilemma können die Forschungsergebnisse über das Einleben der deutschen Vertriebenen und Flüchtlinge in die neue Heimat und das gleichzeitige geistig-seelische Weiterleben in der alten Heimat heraushelfen. Sie zeigen, dass Integration keine Einbahnstraße ist, sondern dass die vor Jahrzehnten entwickelten wissenschaftlichen Konzepte der Doppelbindung an die alte und an die neue Heimat, die jeder für sich immer wieder neu austarieren konnte, oder – darüber hinaus greifend – der Mehrfach- bzw. Hybridintegrationen Perspektiven bieten, die bisher zu selten genutzt wurden.[10]

5. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Volker Ackermann: Integration: Begriff, Leitbilder, Probleme. In: Klaus J. Bade (Hg.): Neue Heimat im Westen. Vertriebene, Flüchtlinge, Aussiedler. Münster 1990, S. 14–36.
  • Ders.: Der „echte“ Flüchtling. Deutsche Vertriebene und Flüchtlinge aus der DDR 1945–1961. Osnabrück 1995.
  • Klaus J. Bade: Improvisierte Integration oder Einwanderungsland Bundesrepublik. Probleme und Perspektiven. In: Ders.: Sozialhistorische Migrationsforschung. Hg. v. Michael Bommes u. Jochen Oltmer. Göttingen 2004, S. 389–415.
  • Hartmut Esser: Welche Alternative zur ‚Assimilation‘ gibt es eigentlich? In: Klaus J. Bade (Hg.): Migration – Integration – Bildung. Grundfragen und Problembereiche. Osnabrück 2004 (IMIS-Beiträge 23), S. 41–59.
  • Ders.: Migration, Sprache und Integration. Berlin 2006.
  • Marion Frantzioch: Die Vertriebenen. Hemmnisse Antriebskräfte und Wege ihrer Integration in der Bundesrepublik Deutschland. Mit einer kommentierten Bibliographie. Berlin 1987.
  • Silke Hans: Theorien der Integration von Migranten – Stand und Entwicklung. In: Heinz Ulrich Brinkmann, Martina Sauer (Hg.): Einwanderungsgesellschaft Deutschland. Entwicklung und Stand der Integration. Wiesbaden 2016, S. 23–50.
  • Marita Krauss (Hg.): Integrationen. Vertriebene in den deutschen Ländern nach 1945. Berlin 2006.
  • Paul Lüttinger: Der Mythos von der schnellen Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland bis 1971. In: Zeitschrift für Soziologie 15/1 (1986), S. 20–36.
  • Ders. (unter Mitwirkung von Rita Rossmann): Integration der Vertriebenen. Eine empirische Analyse. Frankfurt/M., New York 1989.
  • Gert Pickel, Oliver Decker, Steffen Kailitz, Antje Röder, Julia Schulze Wessel (Hg.): Handbuch Integration. Wiesbaden 2020.
  • Hans-Uwe Otto, Mark S. Schrödter (Hg.): Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft. Multikulturalismus – Neo-Assimilation –Transnationalität. Lahnstein 2006 (= Neue Praxis. Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialpolitik. Sonderheft 8).
  • Ludger Pries: Teilhabe in der Migrationsgesellschaft: Zwischen Assimilation und Abschaffung des Integrationsbegriffs. In: IMIS-Beiträge 17 (2015), S. 7–35.
  • Ulrich Tolksdorf: Phasen der kulturellen Integration bei Flüchtlingen und Aussiedlern. In: Klaus J. Bade (Hg.): Neue Heimat im Westen. Vertriebene, Flüchtlinge, Aussiedler. Münster 1990, S. 106–127.

Weblinks

Anmerkungen

[1] Karl-Heinz Hillmann: Wörterbuch der Soziologie, 5. Aufl., Stuttgart 2007, S. 383.

[2] Vgl. z. B. Hans Harmsen: Integration heimatloser Ausländer und nichtdeutscher Flüchtlinge im westdeutschen Bundesgebiet. Als Ms. vervielf. Hamburg 1956, als gedruckte Ausgabe Augsburg 1958.

[3] Zum historischen Hintergrund vgl. Klaus J. Bade, der bereits 1983 eine „negative Integration“ nicht ausschloss (Improvisierte Integration oder Einwanderungsland Bundesrepublik. Probleme und Perspektiven. In: Ders.: Sozialhistorische Migrationsforschung. Hg. v. Michael Bommes u. Jochen Oltmer. Göttingen 2004, S. 389–415, hier S. 408).

[4] Paul Lüttinger: Der Mythos von der schnellen Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland bis 1971. In: Zeitschrift für Soziologie 15 (1986), S. 20–36.

[5] Vgl. z. B. Helga Grebing: Zum Begriff Integration. In: Rainer Schulze, Doris von der Brelie-Lewien, Helga Grebing (Hg.): Flüchtlinge und Vertriebene in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte. Bilanzierung der Forschung und Perspektiven für die künftige Forschungsarbeit. Hildesheim 1987, S. 302–304, hier S. 303.

[6] Marion Frantzioch: Die Vertriebenen. Hemmnisse, Antriebskräfte und Wege ihrer Integration in der Bundesrepublik Deutschland. Mit einer kommentierten Bibliographie. Berlin 1987.

[7] Ebd. S. 194 u. 228.

[8] Steffen Mau: Assimilation oder Multikulti? Migrationsforscher streiten über Integration. In: Tagesspiegel. 25.07.2016, URL: www.tagesspiegel.de/wissen/migrationsforscher-streiten-ueber-integration-assimilation-oder-multikulti/13919640.html (07.10.2021).

[9] Hartmut Esser: Welche Alternative zur ‚Assimilation‘ gibt es eigentlich? In: Klaus J. Bade (Hg.): Migration – Integration – Bildung. Grundfragen und Problembereiche. Osnabrück 2004 (IMIS-Beiträge 23), S. 41–59.

[10] Vgl. Angelia Hohenstein: Aufnahme und Eingliederung von Flüchtlingen im Landkreis Dannenberg 1945–1948. In: Dieter Brosius, Angelika Hohenstein: Zur Lage der Flüchtlinge nordöstlichen Niedersachen 1945–1948. Hildesheim 1985, S. 87–181, hier S. 159f. und Marita Krauss: Integrationen. Fragen, Thesen, Perspektiven zu einer vergleichenden Vertriebenenforschung, in: Dies. (Hg.): Integrationen. Vertriebene in den deutschen Ländern nach 1945. Göttingen 2008, S. 9–21, hier S. 13.

Zitation

Bernhard Parisius: Integration. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2021. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32725 (Stand 14.10.2021).

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