Zwangsmigration

1. Genese

Begriff

Der Begriff „Zwangsmigration“ (forced migration) kam in den 1980er Jahren im Kontext damals durchgeführter Forschungen sowie internationaler Fachdiskussionen in Gebrauch – verstärkt nach dem Fall des Kommunismus, der zur Beendigung der Zensur und zur Zugänglichkeit von Archiven und ihrer Bestände für die wissenschaftliche Forschung führte. Zugleich nahm das gesellschaftliche Interesse am Thema zu, unter anderem als Folge der Aufarbeitung sogenannter „weißer Flecken“ in der Historiographie im postkommunistischen Europa und der „ethnischen Säuberungen“ in den Ländern des zerfallenden Jugoslawiens in der ersten Hälfte der 1990er Jahre.

Der übergreifende Begriff „Zwangsmigration“ setzte sich durch, da er auf unterschiedliche Typen von Bevölkerungsverschiebungen im 20. Jahrhundert anwendbar war und die massive Gewalt als deren Hauptursache einbezog, ohne Unterschiede zwischen den verschiedenen Kategorien erzwungener Bevölkerungsbewegungen zu verwischen. Als Terminus erschien „Zwangsmigration“ neutral, objektiv und insbesondere frei von politischen Konnotationen, die zum Teil mit anderen Begriffen verbunden waren, und war insofern gerade auch zur Verwendung im transnationalen Wissenschaftsdiskurs geeignet, zumal er präziser zu definieren war als technokratische oder generalisierende Begriffe wie „Bevölkerungstransfer“ oder „Bevölkerungsaustausch“.

Anwendung

Der Terminus „Zwangsmigration“ wird im Wissenschaftsdiskurs ebenso verwendet wie im populärwissenschaftlichen Bereich. Er findet Gebrauch in historisch ausgerichteten Internetportalen und bei international agierenden Organisationen, die sich mit der aktuellen Problematik von Zwangsmigrationen auseinandersetzen;[1] in der allgemeinen Publizistik kommt der Fachbegriff seltener vor.

Fremdsprachige Entsprechungen

Engl.: forced migration, forced displacement, forced population movements, ethnic cleansing; poln.: przymusowe wysiedlenie (Zwangsaussiedlung), przymusowe przesiedlenie (Zwangsumsiedlung); tsch.: násilná migrace, nucené vystěhování, násilné migrační procesy (Zwangsmigrationsprozesse); slwk.: násilná migrácia, vynútená migrácia; ung.: kényszermigráció; rum.: migraţie forţată; russ.: вынужденная миграция (translit. vynuždennaja migracija), принудительная миграция (translit. prinuditel’naja migracija).

2. Definition

Zwangsmigrationen sind meist massenhafte Ortsbewegungen von Menschen, die durch unmittelbaren (Anordnung zum Verlassen eines Ortes wird mit Gewaltanwendung durchgesetzt) oder situativen Zwang (massive Bedrohung durch Gewalt), ausgeübt durch staatliche Machtorgane (selbständig oder mit internationaler Billigung) oder lokale Akteure (Separatisten, paramilitärische Gruppierungen etc.), hervorgerufen werden. Das Vorgehen von (im weiten Sinne verstandenen) Machthabern bildet dabei den Impuls, der die Bevölkerungsbewegung auslöst, was nicht bedeutet, dass diese Migrationen organisiert, kontrolliert oder in weniger gewaltsamer Form verlaufen würden. Opfer sind meist ethnisch, sozial oder konfessionell/religiös definierte Gruppen, die von der übrigen Bevölkerung der jeweiligen Gebiete abgetrennt werden sollen. Betroffen sind häufig Minderheiten oder andere Gruppen, die einen besonderen Status – oft infolge der Veränderung von Staatsgrenzen – erhalten haben: Sie können Staatsbürger des bisherigen oder eines als feindlich angesehenen Staates oder auch – etwa infolge des Zerfalls eines Vielvölkerstaates, der die Notwendigkeit einer staatlichen Neukonstituierung mit sich bringt – staatenlos sein.

Zwangsmigrationen stehen meist im Kontext eines Krieges mit einem äußeren Aggressor, eines Bürgerkrieges und seiner inneren Auswirkungen und/oder auch der Umsetzung eines ideologisch motivierten, gesellschaftspolitischen Projekts wie der Herstellung eines national einheitlichen Staates oder des totalitären Umbaus einer Gesellschaft. Bei der Charakterisierung von Zwangsmigrationen ist auf den Zusammenhang mit Modernisierungen (Instrumente staatlicher Politik, technische Fähigkeit zum Transport vieler Menschen über größere Entfernungen, Möglichkeit der Kontrolle von Bevölkerungsbewegungen, Fähigkeit zu ihrer Kategorisierung bzw. Aufteilung durch Behörden z. B. in Form von Einwohnermeldelisten) zu achten. Zwangsmigrationen sind auch dadurch charakterisiert, dass die Betroffenen keinen Einfluss auf das Geschehen haben und meist die „von oben“ verfügte Zuordnung oder Kategorisierung (nationale Identität, Rasse, Klasse) nicht ändern können. Erzwungene Massenmigrationen sind nicht nur ein Phänomen der Zeitgeschichte – man denke etwa an den Exodus der Juden aus dem spätmittelalterlichen Spanien oder dem Heiligen Römischen Reich –, sie werden aber im öffentlichen Diskurs vor allem mit dem 20. Jahrhundert assoziiert.

3. Debatten und Kontroversen

Der Begriff „Zwangsmigration“ ist weithin anerkannt und selbst kaum Gegenstand von Kontroversen. Er wird insbesondere in vergleichenden Darstellungen verwendet.[2] Da er sich auf Migrationen mit sehr unterschiedlichen Ursachen, Ausprägungen, Folgen und Auswirkungen beziehen kann, wurde verschiedentlich eine Gefahr der Geschichtsrelativierung gesehen, da jede Zwangsmigration individuell und für sich analysiert werden müsse.[3] Von nichtwissenschaftlicher Seite wurde in der Öffentlichkeit kritisiert, dass durch die Verwendung des pauschalisierenden Begriffs „Zwangsmigration“ aus Tätern bisweilen Opfer würden, frühere Opfer hingegen aufgrund von Gewaltanwendung und Mitwirkung an Zwangsmigrationen als Täter betrachtet würden. Auch wurde der Vorwurf erhoben, dass der Begriff zur künstlichen Bildung einer Schicksalsgemeinschaft der Opfer solcher Migrationen beitrage, was zur Gleichsetzung des erfahrenen Leids führe.[4]

Vertiefte Diskussionen entstanden über bestimmte Bevölkerungsbewegungen, die unter dem Oberbegriff „Zwangsmigration“ subsumiert wurden. Kontrovers diskutiert wurden die Unterschiedlichkeit von Ursachen, Verlauf und Folgen der Ereignisse. Dazu gehörten auch die Bestimmung von Größenordnungen der Opferzahlen (Zahlen der von der Ausweisung aus ihren Wohnorten Betroffenen, Anzahl von Todesopfern) sowie Fragen nach der Bedeutung des indirekten, situativen Zwangs: Worin besteht dieser und inwieweit hat er Einfluss auf die selbstständigen, freiwillig getroffenen Entscheidungen von Migranten? Wie wirkt er sich aus: als reale Bedrohung von Leib und Leben, von individueller Freiheit und/oder als bereits bestehende oder drohende ökonomische, soziale oder nationale Diskriminierung, die mit dem Verbleib am Wohnort verbunden ist? Eine entsprechende Bewertung von Migrationen kann zum Beispiel dadurch erschwert werden, dass in einigen Fällen den Betroffenen formal die Möglichkeit einer freiwilligen Entscheidung zum Verbleib oder zum Verlassen des Wohnorts eingeräumt wurde.

Außerdem wurden Stichhaltigkeit und Relevanz anzuwendender Bezeichnungen zum Thema von Debatten: Ein anschauliches Beispiel hierfür ist der für die Zwangsmigrationen am Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg verwendete Begriff „Vertreibung“, der vielfach in den Diskursen über die deutsch-polnischen oder bis in die zweite Hälfte der 1990er Jahre deutsch-tschechischen Beziehungen gegenwärtig war beziehungsweise ist. In Polen war in den 1990er Jahren vor allem außerhalb von Historikerkreisen eine gewisse Tendenz zur Verwendung des Begriffs „Vertreibung“ (wypędzenie) zu beobachten, und zwar insbesondere für die Beschreibung der Schicksale jener Menschen aus den ehemaligen östlichen Gebieten des Deutschen Reichs, die an Polen oder an die UdSSR übergingen. Letztlich konnte sich dieser Begriff aber nicht durchsetzen. Die geäußerte Kritik am Begriff „Vertreibungen“ bezieht sich insbesondere auf dessen wenig präzisen Charakter, der eine Vermischung politischer, rechtlicher, moralischer und emotionaler Dimensionen fördere, und seine undifferenzierte Anwendung insbesondere auch für Migrationen aus späteren Jahrzehnten.[5] Einzelne Begriffe für verschiedene Formen von Zwangsmigrationen trugen im politischen Raum zum Teil zu heftigen Kontroversen bei. Die kommunistischen Regierungen versuchten etwa Zwangsmigrationen ganz zu verschweigen, deren Charakter zu verschleiern oder (wenn sie selbst oder die UdSSR als Täter belastet waren) durch tendenziöse Begriffswahl zu verfälschen. Ein Beispiel hierfür ist die Bezeichnung der Zwangsmigrationen von Deutschen und Polen am Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg als „Repatriierung“.

Unterschiedliche Begriffe werden für die besonders drastischen und dramatischen Zwangsmigrationen verwendet, die mit einer hohen Anzahl von Todesopfern einhergehen; sie werden auch als „ethnische Säuberungen“ bezeichnet. Einige Wissenschaftler, häufiger aber nichtakademische Diskutanten, vermeiden in diesem Zusammenhang die Begriffe „ethnische Säuberung“ oder „Zwangsmigration“ und verwenden den Terminus „Völkermord“, allerdings meist ohne dessen völkerrechtliche Definition oder die mit dieser Bezeichnung verbundene internationale Rechtsprechungspraxis zu berücksichtigen.

Der Begriff „Holocaust“ als Bezeichnung für die Gesamtheit der Verbrechen gegen die Juden, ausgehend von der fortschreitenden und sich radikalisierenden Entrechtung der deutschen Juden in den Jahren 1933–1939 mit der „Kristallnacht“ vom November 1938 als Wendepunkt hin zur eliminatorischen nationalsozialistischen Politik von der Verbringung in Ghettos, der Deportation in Konzentrationslager bis zum Transport in Vernichtungslager und zur Vernichtung selbst, ist von der Diskussion über Zwangsmigrationen ausgenommen. Ähnlich verhält es sich beim Völkermord an den Armeniern in der Türkei im Jahre 1915, an dessen Beginn Zwangsmigrationen (Deportationen) standen.

Trotz Einschränkungen und Vorhandensein verwandter Begriffe werden Angemessenheit und Nutzen des Begriffs „Zwangsmigration“ im wissenschaftlichen wie im öffentlichen Diskurs insgesamt als hoch bewertet – dennoch dürfen die vorstehend angedeuteten differenzierenden Aspekte nicht aus den Augen verloren werden. Der Begriff „Zwangsmigration“ trägt zur Überwindung einer verengten nationalen, bilateralen, regionalen oder europäischen Sichtweise bei und erlaubt die Bestimmung eines überzeitlichen globalen, vom fernen Osten (China) über das Reich der Azteken und Mayas in den Orient reichenden, historischen Phänomens, von dem die europäische Geschichte und die politische Theorie und Praxis des 20. Jahrhunderts in Europa in besonderer Weise betroffen war.

4. Historischer Abriss

Zwangsmigrationen in Form von Flucht vor Verfolgung, Vertreibungen von als unerwünscht geltenden Gruppen, seltener von Einzelnen, fanden in allen historischen Epochen statt. Exemplarisch zu erwähnen sind neuzeitliche Bevölkerungsverschiebungen als Folge religiöser Intoleranz: die Vertreibung der Mauren aus Spanien im 16. Jahrhundert, die der Arianer aus Polen und der Protestanten aus Frankreich im 17. oder aus dem Fürsterzbistum Salzburg („Salzburger Emigranten“) im 18. Jahrhundert. Auch die transkontinentalen Migrationen in die Kolonialgebiete oder aus den Kolonialgebieten hatten teilweise Zwangscharakter (Deportation von Verurteilten, Transport von Sklaven). Gerade im 20. Jahrhundert jedoch wurden die Zwangsmigrationen nicht nur ein Massenphänomen mit besonderen Charakteristika, dessen Ausmaß bislang Gewesenes übertraf, sondern auch ein in bestimmten Phasen akzeptiertes Instrument der bilateralen und internationalen Politik. Nach dem zwischen dem Wiener Kongress und dem Beginn des Ersten Weltkriegs liegenden Jahrhundert mit einer nie da gewesenen Entwicklung von Wissenschaft und Technik, der Emanzipation verschiedener gesellschaftlicher Gruppen, der Blüte des politischen und sozialen Lebens und der Entstehung eines die individuellen Rechte garantierenden Systems in großen Teilen Europas kam es zu einer Zäsur. Das Ausmaß der in Europa während und im Anschluss an den Ersten Weltkrieg gegenüber unerwünschten, meist aus wehrlosen Zivilisten bestehenden Gruppen ausgeübten Gewalt war bislang unbekannt. Auch wenn die Akteure oftmals keine direkten Berührungspunkte zur Kolonialpolitik hatten, erinnert ihr Vorgehen an den Umgang mit den „Einheimischen“, „Unzivilisierten“ in den Kolonien, wobei in ihrem Denken rassistische Züge hervortraten. Unter den von Verfolgung und Unterdrückung betroffenen Menschen stieg der Anteil der zur Migration gezwungenen an.

Zwangsmigrationen als akzeptiertes Instrument internationaler Politik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Dies wirft die Frage nach den Ursachen dieser „modernen Barbarisierung“ Europas auf. Das vermehrte Auftreten von Zwangsmigrationen im insgesamt schwächer entwickelten östlichen Europa scheint mit dem vermeintlich niedrigeren Niveau der politischen Kultur und Stabilität in diesem Raum zu korrelieren. Dieses Erklärungsmuster ist allerdings fragwürdig: Erinnert sei daran, dass Frankreich nach 1918 die rücksichtslose Aussiedlung („épuration“) der Deutschen aus dem wiedergewonnenen Elsass betrieb. Ein Teil der Zwangsmigrationen im östlichen Europa wurde nicht nur unter Aufsicht, sondern auf Beschluss der führenden westlichen Staaten durchgeführt: Großbritanniens, Frankreichs und der USA.

Als Gründe sind politische, ideologische oder soziale Faktoren zu nennen. Ein Teil der Zwangsmigrationen im östlichen Europa im 20. Jahrhundert basierte auf Entscheidungen in der Verantwortung internationaler Organe. Organisierte Aussiedlungen ethnischer Gruppen galten über viele Jahrzehnte als Weg zur Lösung zwischenstaatlicher Konflikte oder zur Herstellung neuer politischer Ordnungen, gerade auch auf dem europäischen Kontinent, der lange als Zentrum von Zivilisation und Recht angesehen wurde. So geschehen nach dem Ersten wie auch nach dem Zweiten Weltkrieg: Der Vertrag von Lausanne (1923), das Münchner Abkommen (1938) oder die Konferenzen der „Großen Drei“ mit dem Abschluss in Potsdam (1943–1945) sind die am häufigsten genannten Beispiele für Großmachtpolitik in Europa und weltweit. Besonders die in der Folge des Potsdamer Abkommens stattfindenden Zwangsmigrationen erscheinen als charakteristisch für das Phänomen insgesamt – diese erfolgten während und nach dem Völkermord, den Verfolgungen und Deportationen des „Dritten Reichs“, die den zwangsweise durchgeführten Bevölkerungstransfer als politisches Mittel eigentlich endgültig kompromittiert hatten. In der internationalen Politik ist eine etwa drei Jahrzehnte anhaltende Entwicklung erkennbar: Diese ging vom Schutz der Minderheitenrechte aus, führte über die „Lösung“ der durch die Existenz von Minderheiten entstandenen „Probleme“, die als eine Bedrohung für den Frieden angesehen wurden, hin zur Verringerung der Minderheitsbevölkerung in Konfliktregionen durch ein- oder beiderseitige Aussiedlungen oder zu einem Wechsel der staatlichen Zugehörigkeit eines solchen Gebietes (Erzwingung einer Grenzänderung).

Zwangsmigrationen im Kontext der Herausbildung von (ethnisch begründeten) Nationalstaaten

Als entscheidende, Zwangsmigrationen verursachende Faktoren lassen sich der Nationalismus und die Tendenz zur Schaffung von Nationalstaaten gerade in Gebieten mit Jahrhunderte zurückreichendem multiethnischem Charakter benennen. In solchen Gebieten, wo sich die Festlegung „klarer“ Grenzen nicht mit den ethnischen Gegebenheiten zur Deckung bringen ließ, waren Zwangsmigrationen in Form von „ethnischen Säuberungen“ verbreitet. Hintergrund bildete die Einforderung des Rechts der Völker auf Selbstbestimmung – verbunden mit der für den Liberalismus grundlegenden Kategorie der Freiheit. Dies ging einher mit dem ebenfalls eingeforderten Recht der Völker auf Schaffung eigener Nationalstaaten. So entstanden Staaten infolge von Konflikten und Rivalitäten, als Ergebnisse von Kriegen und des Zerfalls von Vielvölkerreichen jeweils unter dem Einfluss wachsender nationaler Mobilisierung. Das führte zu strikten Abgrenzungen von Gruppen unterschiedlicher Identität gemäß der Dichotomie „eigen“ oder „fremd“. Der „Fremde“, der nicht der Titularnation, sondern einer Minderheit angehörte, wurde nicht nur als anders gesehen, sondern galt (potenziell oder tatsächlich) als bedrohlich und unerwünscht, als störender Faktor für eine als „natürlich“ und „notwendig“ erachtete ethnische Homogenität des (entstehenden bzw. zu schaffenden) Nationalstaats. Diese Problematik nahm gerade in dem Teil Europas an Schärfe zu, in dem die auf gemeinsame Abstammung und „Blutsverwandtschaft“ zurückgehende „Nation“ als konstituierend für die Identität einer Gruppe überwog. Im Unterschied zur konfessionellen Zuordnung, die durch eine Konversion grundsätzlich überwindbar war, konnten sich die betroffenen Personen ihrer ethnischen Herkunft als Teil ihrer Identität jedoch nicht selbst entledigen, etwa indem sie neue Loyalität schworen oder sich freiwillig assimilierten. Dies konnte nur mit Zustimmung der Machthaber geschehen, wie im Falle der Germanisierung eines Teils der polnischen Bevölkerung in den von den Nationalsozialisten besetzten Gebieten oder im Fall der nationalen Verifizierung der autochthonen Bevölkerung in den neuen Gebieten Polens 1946 – die Alternative waren Zwangsmigrationen.

Zur Entfernung von Minderheiten kam es zuerst in den Vielvölkerstaaten, die ihre territoriale Geschlossenheit herbeiführen wollten (Ausweisung von Juden und Deutschen aus dem zaristischen Russland nach 1914), aber auch in neu entstandenen Nationalstaaten, in denen der hohe Anteil von Minderheiten von der die Titularnation bildenden Mehrheit als negativ und bedrohlich für den eigenen Status angesehen wurde. Eine entsprechende gegen Minderheiten gerichtete Innenpolitik wurde bisweilen durch die Haltung der Minderheiten, insbesondere ihrer Eliten, selbst noch verstärkt, etwa wenn diese eine neue internationale Ordnung nicht akzeptierten, weil sie auf Kosten der eigenen Bedeutung ging (weil eine Gruppe z. B. von einer Mehrheit des Staatsvolkes zur Minderheit wurde) oder die Hoffnung auf einen eigenen Nationalstaat zunichtemachte (geteilte Völker in Osteuropa).

Zwangsmigrationen traten vor allem unter den Bedingungen totalitärer Diktaturen auf, die gleichfalls ein europäisches Phänomen sind. Die Pläne zur völligen Umgestaltung des deutschen „Lebensraums“ brachten verschiedene Arten von Zwangsmigrationen hervor, die infolge des Verlaufs des Zweiten Weltkriegs nicht vollständig umgesetzt wurden. Schon vor 1939 waren die Zwangsmaßnahmen gegen Juden, die deren Emigration aus Deutschland bewirkten, ein Mittel, um dem Ideal der „Blutsgemeinschaft“ näher zu kommen. Die millionenfachen Deportationen von Menschen nach 1939 im okkupierten Ostmittel- und Osteuropa waren mit deren partieller (z. B. Polen, Ukrainer, Weißrussen) beziehungsweise fast vollständiger (Juden, Roma und Sinti) Vernichtung verbunden. Manche Deportationen hatten eher den Charakter von Unterdrückung oder von Ausbeutung (Deportation zur Zwangsarbeit), meist waren sie Teil einer Politik der ethnischen Umgestaltung in den eroberten Gebieten. Das endgültige Ziel der Politik Adolf Hitlers (1889–1945), wie es im „Generalplan Ost“ von 1942 festgehalten wurde, war die beinahe komplette Aussiedlung der einheimischen „Untermenschen“ in den besetzten Gebieten nach Osten, verbunden mit einer nachfolgenden umfassenden Neuansiedlung von Deutschen. Unter den Bedingungen des „totalen“ Kriegs war es nicht möglich, alle Polen aus den besetzten Gebieten zu entfernen. Das NS-Regime hielt diese Frage jedoch weiterhin für dringlich, was die Aus- beziehungsweise Ansiedlungsaktion im Gebiet von Zamość beweist, die zu einer Zeit unternommen wurde, als die Wehrmacht die Schlacht bei Stalingrad 1942/1943 bereits verloren hatte.

Eine große gesellschaftliche Umgestaltung – unter anderen Vorzeichen – setzten die Bolschewiken in der Sowjetunion ins Werk. Der Schauplatz dafür war bis 1939 der eigene Staat, die Opfer waren Sowjetbürger. Die Klassenzugehörigkeit wurde zum Grund beziehungsweise zum Vorwand für Zwangsmigrationen (Deportationen ehemaliger Eliten, von Verwandten von Verurteilten, Verbannung von sogenannten Kulaken). Bereits vor Kriegsausbruch kam es auch zu Deportationen aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit (Polen, Deutsche, Kurden, Iraner). In den Jahren 1939–1941 wurden Deportationen aus den annektierten polnischen Gebieten durchgeführt, in denen sich die Klassenfrage mit der der nationalen Frage verband, da die meisten Opfer Polen waren. Die massenhaften sowjetischen Deportationen nach 1941 hatten ebenfalls ethnischen Charakter; sie betrafen unter anderem Deutsche aus dem Wolgagebiet, Krimtataren, Tschetschenen und Inguschen und dauerten nach dem Krieg an, wobei sie (durch Deportationen von Litauern und Ukrainern) auch zu einem Instrument der Sicherung der westlichen Grenzgebiete wurden. Die Politik gegenüber den ethnischen Minderheiten war nicht nur ein neuralgischer Punkt der sowjetischen Innenpolitik, sondern der kommunistischen Regime nach dem Zweiten Weltkrieg insgesamt. Entgegen seinen internationalistischen Parolen schloss der Kommunismus in der Praxis nationalistisches Verhalten nicht aus. Mehr noch: Nationalistische Propaganda wurde eingesetzt, um die Mehrheitsbevölkerung für sich zu gewinnen und diese gegen die Minderheiten einzunehmen. Es handelte sich dabei um einen selektiven Nationalismus, der im Fall Polens antideutsch und zeitweise antisemitisch und im Verborgenen weit verbreitet auch antirussisch geprägt war.

Zu Zwangsmigrationen mit ethnischem Charakter kam es auch in anderen Teilen der Welt, auch dort, wo sich Nationalstaaten unter dem politischen, aber auch kulturellen Einfluss Europas entwickelten (Politik Israels gegenüber der arabischen Bevölkerung, Zwangsmigrationen während Entkolonialisierung).

Als Symbole dieser Zeit können daher einerseits die in Verfassungen kodifizierten Menschenrechte und andererseits der diametral entgegenstehende Befehl zur Deportation gelten. Ein weiteres Charakteristikum der politisch gesteuerten Zwangsmigrationen verdient Beachtung: Auf die Entfernung einer unerwünschten Bevölkerungsgruppe folgte in der Regel die massive Neubesiedlung des „gesäuberten“ Gebiets, wobei die Hinterlassenschaften der vorherigen Bewohner genutzt wurden. Insofern lag es im Interesse derjenigen, die die Migration verursachten, dass das Eigentum zurückgelassen wurde. Dies wiederum beeinflusste in fataler Weise die Lage der Zwangsausgesiedelten und ihr Auskommen am neuen Aufenthaltsort.

Zwangsmigrationen als Folge kriegerischer Auseinandersetzungen und daraus resultierender Grenzverschiebungen

Die Okkupationspolitik ist nur einer der mit dem Krieg verbundenen Hintergründe für Zwangsmigrationen. Schon bei Kriegsbeginn setzt häufig eine Evakuierung der Bevölkerung ein, die sich schnell in eine ebenso spontane wie chaotische Flucht vor dem nahenden Feind verwandeln kann. Der Impuls dafür kann Angst sein, angestachelt sowohl von der Propaganda gegen den Angreifer als auch durch dessen tatsächliches brutales Vorgehen gegen die Bevölkerung des angegriffenen Landes, welches Panik auslösen soll, um sich dadurch eines Teils der Bevölkerung des jeweiligen Gebiets zu entledigen. Migrationsbewegungen mit dieser Ursache traten praktisch während jedes Krieges auf, im 20. Jahrhundert seit den Balkankriegen, die üblicherweise als Beginn der Vertreibungsgeschichte des 20. Jahrhunderts genannt werden. Während des Ersten Weltkriegs gab es diese an allen Fronten, im Westen (z. B. Fluchtbewegungen der Belgier) wie im Osten (Evakuierung und Flucht aus Ostpreußen 1914 oder Evakuierung und Flucht aus den westlichen Gouvernements des zaristischen Russlands nach 1915). Während des Zweiten Weltkriegs gab es zahlreiche Fluchtwellen, angefangen von den Fluchtbewegungen aus dem westlichen Polen vor der Wehrmacht bis hin zu Evakuierung und Flucht der Deutschen aus den östlichen Provinzen des Deutschen Reichs in den Jahren 1944–1945. Fliehende Zivilisten wurden dabei rücksichtslos angegriffen, gezielt unter Beschuss genommen und bombardiert – man betrachtete sie vor allem als Mobilisierungsreservoir des Feindes, das zu vernichten war. So war das Vorgehen auch in den 1990er Jahren auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens. Auch Bürgerkriege und Revolutionen riefen Massenfluchten der Zivilbevölkerung hervor (aus dem bolschewistischen Russland, aus dem franquistischen Spanien). Ohne sich in außereuropäische Beispiele zu vertiefen, können die seit 1948 von Israel geführten Kriege genannt werden, deren Folge eine massive Emigration von Palästinensern war. Ereignisse aus Regionen, die im letzten Jahrzehnt von Konflikten erschüttert wurden (Irak, Sudan, Syrien, Ukraine), zeigen, dass die Flucht aus dem Kampfbereich gegenwärtig die Hauptform von Zwangsmigrationen darstellt.

Eine Form der mit kriegerischen Konflikten einhergehenden Zwangsmigrationen sind Bevölkerungsverschiebungen infolge der politischen Beendigung von Kriegen. Am Ende von Kriegen stehen oft zu neuen Minderheitenproblemen führende Grenzveränderungen, etwa wenn bisherige Angehörige der Mehrheit nun der Minderheit angehören. Man löste dies auf verschiedene Weise (sieht man von Versuchen ab, manchen Staaten die Anwendung des Minderheitenschutzes aufzuzwingen, z. B. in Zusammenhang mit den Pariser Vorortverträgen): durch zwangsweise oder auf Basis einer Option durchgeführten wechselseitigen Bevölkerungsaustausch, einseitige (Zwangs-)Aussiedlung der „fremden“ Bevölkerung auf organisierte Weise in Gebiete jenseits der neuen Grenzen oder auch Vertreibung und Ansiedlung der unerwünschten Gruppe innerhalb des Landes. Mitunter wurden Vertreibungen/Deportationen einer Minderheitengruppe durchgeführt (militärische Aussiedlung der Deutschen 1945 aus Polen und der Tschechoslowakei), bevor ein neuer Grenzverlauf internationale Anerkennung erhielt. Nach dem Ersten Weltkrieg zog die Entstehung neuer Staaten derartige Bevölkerungsbewegungen nach sich. Ein Teil der Bevölkerung siedelte aus eigenem Antrieb – wenn auch unter dem Druck situativen Zwangs – in das neue Gebiet des Staates über, mit dem aufgrund nationaler Identität Verbundenheit bestand. Andere waren durch von ‚oben‘ diktierte Bevölkerungstransfers betroffen. Migrationen mit der größten Tragweite wurden im Ergebnis der Beschlüsse der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs umgesetzt (Zwangsaussiedlung der Deutschen aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn infolge des Potsdamer Abkommens) oder auf Grund von Beschlüssen, die die Siegermächte akzeptierten (griechisch-türkischer Bevölkerungsaustausch nach einer Reihe von Kriegen in der Region, sowjetisch-polnische Vereinbarung über die Aussiedlung von Polen aus den an die UdSSR verlorenen Gebieten von 1944).

Im Falle der Bevölkerungsverschiebungen nach dem Zweiten Weltkrieg spielten – neben dem Streben nach nationaler Homogenität – weitere Faktoren wie die angestrebte Schwächung und Bestrafung der Deutschen (die als gerechtfertigt angesehen wurde) oder der Wunsch nach Absicherung der neuen territorialen Ordnung eine gewisse Rolle. Zweifellos kann man – mit aller Vorsicht – eine Art ‚Infizierung‘ durch die vorangegangene nationalsozialistische Politik konstatieren. Indem die Nationalsozialisten die Aktion „Heim ins Reich“ begannen, hatten sie selbst große (erzwungene) Umsiedlungen der fern der deutschen Grenzen wohnenden Deutschen angestoßen und die Existenz historisch entstandener Gemeinschaften in multinationalen Regionen zerstört. Im Endeffekt wurden die Deutschen selbst in ihrem eigenen, von den Siegermächten besetzten und geteilten Land „homogenisiert“.

Infrastrukturelle Voraussetzungen: Zwangsmigrationen als modernes Phänomen

Für die Analyse von Zwangsmigrationen als modernes Phänomen mit all seiner Unterschiedlichkeit ist auch deren technische und organisatorische Durchführung von Bedeutung. Ohne das Vorliegen bestimmter Voraussetzungen wäre die Durchführung von massenhaften und relativ schnell vollzogenen Zwangsmigrationen, wie sie für das 20. Jahrhundert charakteristisch sind, nicht möglich gewesen, auch wenn das Emblem auch dieser Migrationen der Flüchtlingszug der Menschen bleibt, die sich zu Fuß und mit ihrer bescheidenen Habe auf dem Rücken oder in einem Treck von Pferdewagen fortbewegen. Ungeachtet dieses Bildes haben die meisten Zwangsmigranten ihren Wohnort mit Zügen, in Güterwagen, verlassen, die nicht für den Transport von Menschen geeignet waren. Erforderlich waren dafür ausgebaute Verkehrswege sowie ein entsprechender Fahrzeugbestand, um eine große Menschenzahl aus den zu „säubernden“ Gebieten hinauszubringen und diese in die Ankunftsregionen mitunter über tausende Kilometer zu transportieren.

Notwendig war auch ein (zumeist staatlicher) funktionierender Apparat, der über Gewaltmittel, über die Fähigkeit zur Kontrolle, aber auch zum Schutz der Menschen verfügte und auf eine Beamtenschaft, die den Transport durchführte, organisierte und verwaltungsmäßig abwickelte (z. B. Führung von Listen), zurückgreifen konnte. Die Bedeutung der Eisenbahn bei Deportationen und dem von den Nationalsozialisten durchgeführten Völkermord sowie bei den Verbannungen und Aussiedlungen der Kommunisten war grundlegend. Das vorhandene Verkehrsnetz war die Voraussetzung für die Massenflucht vor der Front; als Beispiel kann die Evakuierung und Flucht der Deutschen aus Ostpreußen und Pommern über die See dienen. Die Verkehrswege ermöglichen auch gegenwärtig illegalen Einwanderern, die durch Krieg und Armut zum Verlassen ihrer Länder gezwungen werden, allen Barrieren zum Trotz auf andere Kontinente zu gelangen.

Zwangsmigrationen im Europa des 20. Jahrhunderts in Zahlen

Für einen Teil der Zwangsmigrationen sind im Hinblick auf das Chaos, in dem sie stattgefunden haben, nur sehr allgemeine Schätzungen der Größenordnung möglich. Es wird angenommen, dass im 20. Jahrhundert allein in Europa mindestens 30 Millionen Menschen verschiedener Nationalitäten und Bekenntnisse Opfer von Zwangsmigrationen wurden, darunter überwiegend Ost- und Mitteleuropäer.[6] In der Zeit zwischen dem Ersten Balkankrieg (1912) und der Mitte der 1920er Jahre betrug die Zahl der Zwangsmigranten 2,6 Millionen.[7] Über zehn Millionen Menschen siedelten die Deutschen während des Nationalsozialismus zwangsweise aus und/oder deportierten sie (einschließlich Deportationen zur Zwangsarbeit). Diese Zahlen schließen nicht die sechs Millionen ermordeten europäischen Juden ein, für die die Deportation eine Etappe auf dem Weg in den Tod war. Aus den Gebieten des okkupierten Polens wurde etwa eine Million Polen im Rahmen des Germanisierungsprogramms gegenüber dem annektierten Territorium ausgesiedelt, eine weitere halbe Million wurde im Herbst 1944 aus Warschau/Warszawa vertrieben.[8] Wenigstens eine halbe Million deutscher Siedler wurde hingegen (zum Teil unfreiwillig) in den okkupierten polnischen Gebieten angesiedelt. Hinzu kommt, dass es im Schatten der nationalsozialistischen Politik zu „Kriegen im Krieg“ kam (unter anderem zu dem ukrainisch-polnischen Konflikt, der zum Tod von einigen zehntausend und zur Flucht von mindestens 300.000 Polen führte).[9] Die UdSSR siedelte bis 1952 zwangsweise mindestens sechs Millionen Menschen um. In diese Zahl sind die Deportationen in Gefangenenlager sowie die Internierung und Zwangsarbeit nichtsowjetischer Bürger in den Jahren 1944–1945 nicht eingerechnet.[10]

In der zweiten Hälfte der 1940er Jahre wurden bei Beendigung des Krieges, nach der Festlegung der neuen politischen Ordnung in Europa sowie den partiellen Grenzänderungen (wovon die Änderung der Grenzen Polens die wichtigste war) über 16 Millionen Menschen zwangsweise ausgewiesen oder durch die Umstände zur Ausreise gezwungen, darunter etwa zwölf Millionen Deutsche (eingerechnet Flüchtlinge und Evakuierte)[11] und 1,5 Millionen Polen.[12] Diese Bevölkerungsverschiebungen geschahen parallel zu dem viele Millionen Menschen umfassenden Strom der „Displaced Persons“ und Repatriierten (Rückkehrer aus Gefangenschaft, Zwangsarbeit, Lagern, Emigration), der Um- und Ansiedlungen (Wanderungen auf der Suche nach einem neuen Zuhause in nicht zerstörten Gebieten) und Emigrationen (Ausreise überlebender Juden, Ausreisen von Osteuropäern, die nicht in kommunistisch gewordene Länder zurückkehren wollten). Zehn Millionen Europäer lebten in dieser Zeit „auf gepackten Koffern“, und ganze Regionen und Staaten hatten eine schwankende Bevölkerungszahl.

Ein Teil dieser entwurzelten Bevölkerung hat im Laufe weniger Jahre mehrfach Zwangsmigrationen erfahren und dabei jedes Mal (fast) alles verloren. Die Erfahrungen dieser Menschen sollten eine enorme Bedeutung für die spätere Entwicklung von Gemeinschaften haben, die von den Zwangsmigranten mitgestaltet wurden.

Zur politischen (Neu-)Bewertung von Zwangsmigrationen am Ende des 20. Jahrhunderts

Nach fast einem halben Jahrhundert kehrte mit dem Jugoslawienkonflikt in den 1990er Jahren die Praxis der Zwangsmigrationen zurück. Fünf Millionen Menschen waren auf der Flucht, ein großer Teil ließ sich im Westen Europas nieder. Im Unterschied zu früheren Migrationen kehrte aber ca. ein Drittel der Ausgesiedelten in die Heimat zurück. Diese Rückkehr geschah maßgeblich unter dem Druck jener westlichen Staaten, die anders als früher erzwungene Migrationen nun nicht mehr als zulässige Methode ansahen, um sich Minderheiten zu entledigen, um Konflikte zu lösen oder um politische Stabilität herbeizuführen (zumindest in Europa). Der Abschied vom „Geist von Lausanne“ mit seiner legitimatorischen Bedeutung für Zwangsmigrationen dauerte sehr lange an, obwohl die Folgen der Zwangsmigrationen unverkennbar negativ in Erscheinung traten: anhaltende zwischenstaatliche Konflikte, wirtschaftliche und soziale Kosten und schließlich weitere „Säuberungen“ der Bevölkerung in dem utopischen Streben nach Homogenität sowie weitere, wenn auch weniger zahlreiche Ausreisewellen. Unvermeidlich wurde die Frage nach der Verantwortung – nicht nur der Staaten beziehungsweise Nationen als der direkten Verursacher, sondern auch nach der Verantwortung der Großmächte, die einen erheblichen Teil der Zwangsmigrationen im Namen der internationalen Ordnung akzeptiert hatten.

Lange Zeit wurde die These vertreten, dass die Zwangsmigrationen nach dem Zweiten Weltkrieg – vor allem von Deutschen und Polen – zwar schmerzhaft gewesen seien, aber zu Jahrzehnten des Friedens in Europa beigetragen hätten. Die Kritiker dieser Ansicht verweisen auf die über Jahrzehnte offen gebliebenen Wunden in Form von Gefühlen erlittenen Unrechts und Feindseligkeiten, die zum Teil bis heute zu spüren seien, auf die Atmosphäre eines latenten oder offenen Revisionismus auf der einen und des Gefühls des Provisoriums, der Ungewissheit, auf der anderen Seite, die sich politisch habe instrumentalisieren lassen. Nach dieser Meinung war der Friede in Mitteleuropa keine Folge des „Geistes von Potsdam“, sondern lediglich eine Auswirkung des „Kalten Krieges“ und des „Eisernen Vorhangs“, der die Antagonisten voneinander trennte und keine Möglichkeit einer weiteren direkten Konfrontation bot. Die bipolare Struktur der weltweiten Kräfteverhältnisse und die lange anhaltende politische Marginalisierung Europas bewirkten, dass die Grenzregelung – auch wenn sie von Millionen abgelehnt wurde – jahrzehntelang hielt und somit den vom Verlust der Heimat Betroffenen wie auch den nachfolgenden Generationen Zeit gab, sie zu akzeptieren.

5. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Pertti Ahonen: People on the Move. Forced Population Movements in Europe in the Second World War and its Aftermath. New York 2008 (Occupation in Europe series 3).
  • Klaus Bachmann, Jerzy Kranz (Hg.): Verlorene Heimat. Die Vertreibungsdebatte in Polen. Bonn 1998.
  • Klaus J. Bade, Pieter C. Emmer, Leo Lucassen, Jochen Oltmer (Hg.): Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Paderborn 2008.
  • Wolfgang Benz: Ausgrenzung, Vertreibung, Völkermord. Genozid im 20. Jahrhundert. München 2006.
  • Richard Bessel, Claudia B. Haake (Hg.): Removing Peoples. Forced Removal in the Modern World. Oxford 2009 (Studies of the German Historical Institute London).
  • Dieter Bingen, Włodzimierz Borodziej, Stefan Troebst (Hg.): Vertreibungen europäisch erinnern? Historische Erfahrungen – Vergangenheitspolitik – Zukunftskonzeptionen. Wiesbaden 2003 (Veröffentlichungen des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt 18).
  • Detlef Brandes, Holm Sundhaussen, Stefan Troebst (Hg.): Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberungen im Europa des 20. Jahrhunderts. Wien, Köln, Weimar 2010.
  • Stanisław Ciesielski, Grzegorz Hryciuk, Aleksander Srebrakowski: Masowe deportacje ludności w Związku Radzieckim [Die Massendeportationen der Bevölkerung der UdSSR]. Toruń 2003.
  • Peter Haslinger, K. Erik Franzen, Martin Schulze Wessel (Hg.): Diskurse über Zwangsmigrationen in Zentraleuropa. Geschichtspolitik, Fachdebatten, literarisches und lokales Erinnern seit 1989. München 2008 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 108).
  • Grzegorz Hryciuk, Małgorzata Ruchniewicz, Bożena Szaynok, Andrzej Żbikowski: Umsiedlungen, Vertreibungen und Fluchtbewegungen 1939–1959. Atlas zur Geschichte Ostmitteleuropas. Bonn 2012 (Bundeszentrale für Politische Bildung, Schriftenreihe 1324).
  • Anja Kruke (Hg.): Zwangsmigration und Vertreibung – Europa im 20. Jahrhundert. Bonn 2006.
  • Benjamin Lieberman: Terrible Fate. Ethnic Cleansing in the Making of Modern Europe. Chicago 2006.
  • Pawel Lisicki, Jerzy Haszczynski: Erinnerung: Europäisch oder national? Der Streit über das Zentrum gegen Vertreibungen. Warszawa [2003].
  • Piotr Madajczyk: Czystki etniczne i klasowe w Europie XX wieku. Szkice do problemu [Klassische und ethnische Säuberungen im Europa des 20. Jahrhunderts. Problemskizze]. Warszawa 2010.
  • Michael Mann: The Dark Side of Democracy. Explaining Ethnic Cleansing. Cambridge 2005.
  • Ralph Melville, Jiři Pešek, Claus Scharf (Hg.): Zwangsmigrationen im mittleren und östlichen Europa. Völkerrecht – Konzeptionen – Praxis (1938–1950). Mainz 2008 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft 69).
  • Norman M. Naimark: Flammender Hass. Ethnische Säuberungen im 20. Jahrhundert. München 2004.
  • Jochen Oltmer: Globale Migration. Geschichte und Gegenwart. Bonn 2012 (Bundeszentrale für Politische Bildung, Schriftenreihe 1309).
  • Pavel Polian: Against Their Will. The History and Geography of Forced Migrations in the USSR. Budapest 2004.
  • Michael Schwartz: Ethnische „Säuberungen“ in der Moderne. Globale Wechselwirkungen nationalistischer und rassistischer Gewaltpolitik im 19. und 20. Jahrhundert. München 2013 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 95).
  • Philipp Ther: Die dunkle Seite der Nationalstaaten. Ethnische Säuberungen im modernen Europa. Göttingen 2011 (Synthesen. Probleme europäischer Geschichte 5).

Weblinks

Anmerkungen

[1] Zum Beispiel: International Federation of Red Cross and Red crescent Societies: World Disasters Report 2012 „Focus on forced migration and displacement“: reliefweb.int/report/world/world-disasters-report-2012-focus-forced-migration-and-displacement (Abruf 14.09.2021).

[2] Exemplarisch: Melville, Pešek, Scharf (Hg.): Zwangsmigrationen im mittleren und östlichen Europa.

[3] Einen guten Überblick über die wichtigsten Positionen in der Debatte bieten: Bachmann, Kranz (Hg.): Verlorene Heimat; Bingen, Borodziej, Troebst (Hg.): Vertreibungen europäisch erinnern?; Haslinger, Franzen, Schulze Wessel (Hg.): Diskurse über Zwangsmigrationen.

[4] Vgl. dazu mehrere Beiträge in: Kruke (Hg.): Zwangsmigration und Vertreibung; Lisicki, Haszczynski: Erinnerung: Europäisch oder national?

[5] Vgl. dazu mehrere Beiträge in: Bachmann, Kranz (Hg.): Verlorene Heimat.

[6] Ther: Die dunkle Seite der Nationalstaaten, S. 261.

[7] Ther: Die dunkle Seite der Nationalstaaten, S. 261.

[8] Madajczyk: Czystki etniczne i klasowe, S. 152; Hryciuk, Ruchniewicz, Szaynok, Żbikowski: Umsiedlungen, Vertreibungen und Fluchtbewegungen, S. 72–73.

[9] Hryciuk, Ruchniewicz, Szaynok, Żbikowski: Umsiedlungen, Vertreibungen und Fluchtbewegungen, S. 71–72.

[10] Ciesielski, Hryciuk, Srebrakowski: Masowe deportacje, S. 15.

[11] Ther: Die dunkle Seite der Nationalstaaten, S. 261.

[12] Hryciuk, Ruchniewicz, Szaynok, Żbikowski: Umsiedlungen, Vertreibungen und Fluchtbewegungen, S. 84–88, 145.

Aus dem Polnischen von Maria Luft und Burkhard Olschowsky

Zitation

Krzysztof Ruchniewicz: Zwangsmigration. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2015. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32750 (Stand 14.09.2021).

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