Flucht und Vertreibung - Ereignisgeschichte
1. Definition
Der Doppelbegriff „Flucht und Vertreibung“ bezieht sich auf verschiedene Formen der Zwangsmigration von Deutschen aus den (ehemaligen) Ostprovinzen des Deutschen Reiches und dem östlichen Europa am Ende des Zweiten Weltkrieges und in den ersten Nachkriegsjahren (zu Flucht und Vertreibung als darüberhinausgehende historische Phänomene vgl. die Artikel „Flucht“, „Vertreibung“, „Zwangsmigration“ und „Migration“).
2. Genese
Begriff
Der Begriff „Vertreibung“ etablierte sich in den 1950er Jahren im staatlichen und öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik und verband sich in den 1960er Jahren mit dem Begriff „Flucht“ zum Doppelbegriff „Flucht und Vertreibung“. Dieser fokussiert eine komplexe Gemengelage auf zwei Teilprozesse, ist emotional besetzt und moralisch aufgeladen (vgl. dazu den Artikel „Flucht und Vertreibung –Interpretationen“).
Träger, Gebrauch
Anders als in der Bundesrepublik wurde in der DDR der Begriff „Umsiedlung” verwendet, der den angeblich ordnungsgemäßen Verlauf der Zwangsmigrationen suggeriert. Seit der deutschen Wiedervereinigung 1990 wird zumeist der Doppelbegriff „Flucht und Vertreibung“ sowohl im allgemeinen Sprachgebrauch als auch in der Wissenschaft verwendet (hier allerdings manchmal in Anführungszeichen und häufig ersetzt durch den neutraleren Begriff „Zwangsmigration“).
Fremdsprachige Entsprechungen, Übernahmen, Übersetzungen
Wörtliche Übersetzungen in osteuropäische Sprachen (z.B. ucieczka i wypędzenie im Polnischen oder útěk a vyhnání im Tschechischen) sind selten und ein Phänomen jüngeren Datums. In Polen und Tschechien bzw. der Slowakei wird die Zwangsmigration der Deutschen für gewöhnlich mithilfe der Begriffe wysiedlenie (Aussiedlung) im Polnischen bzw. odsun (Abschiebung) im Tschechischen und Slowakischen bezeichnet.
3. Historischer Abriss
Zwischen 1944 und 1949 fanden im östlichen Europa Zwangsmigrationen von über zehn Millionen Deutschen statt (zu der Problematik korrekter quantitativer Angaben s. u. Abschnitt 5). Betroffen waren sowohl Reichsdeutsche aus den Ostprovinzen des Deutschen Reiches, die 1945 Teile von Polen bzw. der Sowjetunion wurden (d.h. Ostbrandenburg, Ostpreußen, Pommern und Schlesien), als auch Angehörige der deutschen Minderheiten in Jugoslawien, Polen, Rumänien, der Tschechoslowakei und Ungarn, Staatsbürger der Freien Stadt Danzig sowie weitere während der deutschen Besatzung als „Volksdeutsche“ klassifizierte Menschen, deutschsprachige Juden und andere Personen, die für Deutsche gehalten wurden (z.B. Masuren oder Kaschuben) oder sich selbst als Deutsche definierten.[1]
Diese Zwangsmigrationen umfassten fünf sich überlappende Prozesse: Evakuierung, Flucht, (wilde) Vertreibung, Verschleppung und Aussiedlung (bzw. Abschiebung). Bis zu 90 Prozent der von den Zwangsmigrationen Betroffenen hatten zuvor auf dem Gebiet des heutigen Polens und Tschechiens gelebt und ungefähr die Hälfte verließ ihre Heimat bereits vor Kriegsende.[2] Da viele Männer während des unmittelbaren Vorgangs der Zwangsmigration noch als Soldaten eingezogen bzw. in Kriegsgefangenschaft waren, betraf dieser vor allem Frauen, Kinder und alte Menschen. Ein großer Teil erlebte mehr als eine Form von Zwangsmigration.
Evakuierung (1944/1945)
Die Evakuierung der Deutschen wurde von der Wehrmacht und der NS-Verwaltung organisiert und hing mit dem Verlauf der Kampfhandlungen zusammen. Parallel zum Rückzug der Wehrmacht erfolgten ab 1944 Räumungen aus Gebieten, die heute unter anderem zu Russland, Rumänien, Serbien, der Slowakei, der Ukraine und Ungarn gehören. Im Winter 1944/1945 fand die Evakuierung innerhalb des Reichsgebietes aus Ostpreußen und mit dem Vorrücken der Front Anfang 1945 aus Schlesien, Pommern und Ostbrandenburg statt. Entgegen den offiziellen Behauptungen wurden die Evakuierungen weder gut geplant noch rechtzeitig durchgeführt. Manche Betroffene weigerten sich, ihre Heimat zu verlassen; andere begaben sich selbstständig auf die Flucht. Die Todeszahlen waren in dieser Phase der Zwangsmigration besonders hoch.
Die staatlich bzw. von der NSDAP organisierte Evakuierung steht im Zusammenhang mit der seit Kriegsbeginn verfolgten NS-Politik der Umsiedlung von deutschen Bevölkerungsteilen aus dem östlichen Europa. Nach der Festlegung von deutschen und sowjetischen Interessenssphären im Hitler-Stalin-Pakt vom 24. August 1939 hatten die NS-Behörden in den Folgejahren die „Volksdeutschen“ aus den sowjetisch kontrollierten Teilen Osteuropas in die von Deutschland besetzten polnischen Gebiete um- und angesiedelt, aus denen wiederum die polnische und jüdische Bevölkerung ausgesiedelt worden war. Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 folgten noch 1943 und 1944 Umsiedlungen von Russlanddeutschen, die in Räumungsaktionen während des Rückzugs der Wehrmacht übergingen. Auch die bereits Umgesiedelten wurden nun sukzessive aus den besetzten Gebieten Richtung Westen evakuiert, bevor schließlich die Deutschen auf dem Reichsgebiet von den Evakuierungen erfasst wurden.
Flucht (1944/1945)
Parallel zu den von der Wehrmacht und der NS-Verwaltung organisierten Evakuierungen einerseits und zu den von den polnischen und tschechoslowakischen Behörden sowie jugoslawischen Partisanen durchgeführten (wilden) Vertreibungen andererseits (s. u.) ergriffen viele Deutsche selbständig die Flucht gen Westen bzw. Süden. Anfangs flohen sie vor der Roten Armee, später vor lokalen Militäreinheiten, Milizgruppen und Sicherheitskräften, aber auch vor einheimischen Zivilisten und Displaced Persons, die noch vor dem Beginn der organisierten Besiedlung der (bis dahin) deutschen Gebiete diese in Besitz nahmen. Viele Menschen starben auf der Flucht an Kälte oder Hunger, fielen (nicht selten sexualisierten) Gewaltakten zum Opfer oder begingen Selbstmord. Viele geflüchtete Deutsche kehrten in ihre Heimatorte zurück, bevor sie später von dort endgültig vertrieben oder ausgesiedelt wurden.
(Wilde) Vertreibung (Sommer 1945)
Im Sommer 1945 führten polnische und tschechoslowakische Behörden (sowie in geringerem Ausmaß und etwas früher jugoslawische Partisanen) Vertreibungen von Deutschen aus den grenznahen Gebieten durch. Zur Unterscheidung von der oft ebenfalls als Vertreibung bezeichneten späteren Phase der auf der Potsdamer Konferenz vereinbaren Aussiedlung wird die erzwungene Migration in dieser vorangehenden Phase häufig auch „wilde Vertreibung“ genannt. Sie ging auf die in der Politik und Gesellschaft weit verbreitete Überzeugung zurück, dass ein Zusammenleben mit den Deutschen zukünftig nicht mehr möglich sei. Mit bis zu 1,2 Millionen Menschen war ein vergleichsweise geringer Teil von dieser Phase der Zwangsmigration betroffen.[3]
Die konkreten Bedingungen, unter denen polnische Behörden die Vertreibung der Deutschen durchführten, unterschieden sich grundsätzlich von denen in der Tschechoslowakei. Während das tschechoslowakische Militär innerhalb der staatlichen Grenzen der Vorkriegszeit agierte, operierte das polnische Militär in ihm unbekannten Gebieten, die offiziell noch zu Deutschland gehörten, da die Eingliederung der deutschen Ostprovinzen in das polnische Staatsterritorium erst auf der Potsdamer Konferenz Anfang August 1945 beschlossen wurde (als Kompensation für die an die Sowjetunion verlorenen ostpolnischen Gebiete). Für die tschechoslowakische Regierung waren Vertreibungen somit ein Instrument, mit dem sie ein innenpolitisches Problem lösen wollte (s. Beneš-Dekrete); für die polnische Regierung hingegen waren sie auch ein Mittel, mit dem der Anspruch auf die Eingliederung deutscher Gebiete untermauert werden sollte.
Wie in anderen europäischen Ländern wurden Deutsche in Jugoslawien, Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn in Internierungslager eingewiesen (die häufig auf dem Gebiet ehemaliger NS-Konzentrationslager eingerichtet wurden), zur Zwangsarbeit eingesetzt und enteignet. Sie waren in ihren staatsbürgerlichen Rechten eingeschränkt und Plünderungen sowie gewaltsamen Übergriffen ausgesetzt. Viele starben an Hunger und Krankheiten, wurden getötet oder begingen Selbstmord. Drastische Beispiele mit hohen Todeszahlen sind das Speziallager in Rudolfsgnad/Knićanin/Rezsőháza in der Vojvodina, in dem zwischen 1945 und 1948 über 9.500 Menschen starben, der so genannte Brünner Todesmarsch Ende Mai 1945, durch den circa 1.700 Deutsche den Tod fanden, oder das Internierungslager im schlesischen Lamsdorf (poln. Łambinowice) mit über 1.000 Todesfällen.[4]
Verschleppung (1944–1949)
Im Dezember 1944, d. h. parallel zur Evakuierung und Flucht, begann die Verschleppung von Deutschen in die Sowjetunion. Im Unterschied zur Deportation von Angehörigen anderer Nationen wurde sie im Fall der Deutschen als Teil der Reparationsleistungen für die erlittenen Kriegsverluste deklariert. Betroffen waren arbeitsfähige Deutsche im Alter von 18 bis 30 (Frauen) bzw. 17 bis 45 Jahren (Männer) in den von der Roten Armee befreiten bzw. besetzten Gebieten. Die meisten von ihnen wurden (ähnlich wie deutsche Kriegsgefangene) als Zwangsarbeiter in Bergwerken und in der Schwerindustrie auf dem Gebiet der heutigen Ukraine, in Sibirien und im Kaukasus eingesetzt. Viele kamen bereits auf dem Weg dorthin ums Leben, viele weitere an den Zielorten.
Aussiedlung (1946–1949)
Während die (wilden) Vertreibungen, die 1945 von jugoslawischen Partisanen sowie von polnischen und tschechoslowakischen Behörden durchgeführt wurden, aufgrund von internationalem Druck bereits nach wenigen Wochen unterbunden wurden, ging die organisierte Aussiedlung der Deutschen aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn (sowie Österreich) auf die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz vom August 1945 zurück. Sie wurde in Kooperation mit den Militärgouverneuren der vier Besatzungszonen umgesetzt und war somit besser organisiert und weniger gewaltvoll als die (wilden) Vertreibungen. Die Aussiedlung der meisten Deutschen fand im Laufe des Jahres 1946 statt. Lediglich in Polen dauerte der Aussiedlungsprozess bis 1949 an. Insgesamt wurden in dieser Phase 4,8 Millionen Deutsche ausgesiedelt.[5]
Die Aussiedlung der Deutschen ging mit der Neubesiedlung der von ihnen bis dahin bewohnten Gebiete einher, sodass die verantwortlichen Institutionen mit großen logistischen Herausforderungen konfrontiert und manche neuen Bewohner zur vorläufigen Kohabitation mit ihren deutschen Vorgängern gezwungen waren. Die Entscheidung darüber, wer ausgesiedelt werden sollte, stellte die lokalen Behörden aus verschiedenen Gründen vor Schwierigkeiten. Zum einen musste die Loyalität von Personen, die von den NS-Behörden als „Volksdeutsche“ klassifiziert worden waren, überprüft werden. Zum anderen gab es (insbesondere in der Tschechoslowakei) unter den Deutschen Personen, die ihre Loyalität durch das Engagement im Widerstand gegen die deutsche Besatzung bewiesen hatten. Zugleich waren wichtige Industriezweige und Infrastrukturen in den vorwiegend von Deutschen bewohnten Gebieten zumindest zeitweise auf das Wissen und Können deutscher Fachkräfte angewiesen. Nicht zuletzt gab es Personen, die mit Deutschen verheiratet waren, und Kinder, die aus binationalen Beziehungen stammten. Ein kleinerer Teil der Deutschen blieb folglich von der Aussiedlung verschont.
4. Transregionaler Vergleich
Sowohl mit Blick auf den Verlauf als auch auf die Bilanz der Zwangsmigrationen lassen sich zwischen den einzelnen Ländern Ost- und Südosteuropas wesentliche Unterschiede verzeichnen. Der Anteil der von den verschiedenen Phasen von Flucht und Vertreibung betroffenen Deutschen war in Jugoslawien, Polen und der Tschechoslowakei (mit Ausnahme der Region Hultschiner Ländchen/Hlučínsko) am höchsten. In Ungarn verlor circa die Hälfte der Deutschen ihre Heimat.[6] Deutsche in Rumänien waren zum Teil von Evakuierung, Flucht und Verschleppung, aber nicht von Vertreibung und Aussiedlung betroffen, sodass die deutsche Minderheit als Gruppe hier relativ intakt blieb. Auch in der Sowjetunion fanden weder Vertreibungen noch Aussiedlungen, dafür aber Deportationen statt.
Um die Kollaboration der Russlanddeutschen mit dem NS-Regime zu verhindern, waren die allermeisten von ihnen schon unmittelbar nach dem deutschen Angriff im Juni 1941 innerhalb der Sowjetunion deportiert worden, mussten Einschränkungen ihrer staatsbürgerlichen Rechte hinnehmen und wurden zur Zwangsarbeit in die so genannte Trudarmee (russ. Trudovaja armija) interniert. Viele verloren dabei ihr Leben. In der direkten Nachkriegszeit (und im Gegensatz zu anderen Ländern) nahm die Zahl der Deutschen in der Sowjetunion zu – zum einen infolge von Verschleppungen arbeitsfähiger Deutscher aus den von der Roten Armee befreiten bzw. besetzten Gebieten und zum anderen infolge der Zwangsrepatriierung eines Teils der Russlanddeutschen, die von den NS-Behörden in die „Reichsgaue“ Wartheland bzw. Danzig-Westpreußen umgesiedelt bzw. von der Wehrmacht während ihres Rückzuges Richtung Westen evakuiert worden waren.
In allen Ländern Ost- und Südosteuropas wurden Deutsche am Ende des Krieges bzw. in der direkten Nachkriegszeit in Lagern interniert, aber die Situation in Jugoslawien unterschied sich in dieser Hinsicht deutlich von der in anderen Ländern. Jugoslawien war in den 1940er Jahren der Schauplatz eines Partisanen- bzw. Bürgerkrieges, sodass die Lage der Deutschen von verschiedenen Akteuren bestimmt wurde. Die Internierung der Jugoslawiendeutschen begann bereits Ende 1944 und betraf die allermeisten von ihnen.[7] 1946 fand zwar keine Aussiedlung statt, aber einem Teil der Internierten wurde die Flucht nach Ungarn und Rumänien ermöglicht. Nach der Auflösung der Lager 1948 wurden ihre Insassen nach Ungarn und Österreich abgeschoben. Die Todesrate der Deutschen in Jugoslawien war deutlich höher als in anderen Ländern.
5. Kontroversen
Flucht und Vertreibung der Deutschen sind seit Jahrzehnten Gegenstand intensiver Forschung. Seit den 1990er Jahren konnten infolge der Systemtransformation und im Zuge der Öffnung osteuropäischer Archive kritische Quelleneditionen veröffentlicht sowie vergleichende und international angelegte Forschungsprojekte durchgeführt werden.[8] Nichtsdestotrotz bleibt die Geschichte von Flucht und Vertreibung sowohl in der medialen und politischen Öffentlichkeit als auch in der Wissenschaft Gegenstand von Kontroversen (vgl. auch den Artikel „Flucht und Vertreibung – Interpretationen“).
Erstens gibt es unterschiedliche Sichtweisen auf die zeitliche und geografische Reichweite des Geschehens. Im allgemeinen Sprachgebrauch beschränkt sie sich zeitlich auf die beiden Prozesse, die in dem Doppelbegriff „Flucht und Vertreibung“ explizit benannt werden: Mit „Flucht“ werden Ereignisse vor und mit „Vertreibung“ Ereignisse nach dem Kriegsende assoziiert. Somit bleiben die Komplexität des Geschehens und der Zusammenhang zwischen der Zwangsmigration und dem Zweiten Weltkrieg oftmals unterbelichtet. In der Wissenschaft gilt „Flucht und Vertreibung“ dagegen mittlerweile als eine „Chiffre“,[9] die verschiedene Formen von Zwangsmigration umfasst: Evakuierung, Flucht, (wilde) Vertreibung, Verschleppung und Aussiedlung. In räumlicher Perspektive werden die Deportationen der Deutschen innerhalb der Sowjetunion während des Krieges und die Aussiedlungen der Deutschen aus Belgien, Österreich und den Niederlanden nach dem Krieg als jeweils separate Kapitel betrachtet. Sowohl die Unterschiede zwischen der Lage der Deutschen in den verschiedenen Ländern und Regionen Ost- und Südosteuropas als auch die transregionalen Verflechtungen zwischen Ost und West (z. B. die Geschichte der Deutschen, die in den letzten Kriegsmonaten ins besetzte Dänemark evakuiert wurden, der Flüchtlinge und Vertriebenen in der Republik Österreich oder der heimatlos gewordenen Deutschen, die nach Nord- und Südamerika gelangten) fanden bislang wenig Beachtung.
Zweitens gibt es sehr unterschiedliche Zahlenangaben zur Dimension von Flucht und Vertreibung, so dass auch von einem „Zahlenlabyrinth“ gesprochen wird.[10] Überhöhte Zahlen findet man nicht nur in den Schriften der Betroffenen, älteren statistischen Berechnungen und politischen Reden, sondern auch in manchen wissenschaftlichen Publikationen. Falsche, manipulierte, widersprüchliche und entkontextualisierte Angaben waren und sind geläufig, sowohl was die Gesamtzahl der Deutschen betrifft, die aus den Ostprovinzen des Deutschen Reichs und dem östlichen Europa evakuiert, geflohen, vertrieben, verschleppt und ausgesiedelt worden sind, als auch was die Zahl der deutschen Todesopfer angeht, zu denen es im Zuge dieser Zwangsmigrationen kam. Da präzise Berechnungen für die unterschiedlichen Regionen und Etappen wegen lückenhafter Überlieferungen nur bedingt möglich sind, wurde immer wieder auf Schätzungen zurückgegriffen. Inzwischen wurden die wissenschaftlich belastbaren Zahlen nach unten revidiert. Als realistisch gilt in der Forschung eine Gesamtzahl von elf bis zwölf Millionen Deutschen, die ihre Heimat in den Ostprovinzen des Deutschen Reichs und dem östlichen Europa am Ende des Zweiten Weltkriegs und in den ersten Nachkriegsjahren verloren haben,[11] sowie eine Zahl von 500.000 bis 600.000 deutschen Todesopfern, zu denen es im Zuge der Zwangsmigrationen kam.[12]
Drittens – und hier vermengt sich die Ereignis- mit der Interpretationsgeschichte am stärksten – gibt es unterschiedliche Sichtweisen auf die Ursachen für (die verschiedenen Phasen von) Flucht und Vertreibung. In öffentlichen, politischen und zum Teil auch wissenschaftlichen Debatten werden die Ursachen der Zwangsmigrationen nicht selten (1) emotionalisiert, (2) europäisiert, (3) moralisiert und (4) nationalisiert. Der erste Erklärungsansatz führt Flucht und Vertreibung auf die Rache ost- und südosteuropäischer Staaten und Gesellschaften für das durch Deutschland im Zweiten Weltkrieg zugefügte Leid und/oder auf eine im östlichen Europa lange (und angeblich kontinuierliche) Geschichte antideutscher Gefühle zurück. Der zweite Erklärungsansatz sieht Flucht und Vertreibung als eine friedenspolitische Maßnahme zur Konfliktprävention und somit als eine von vielen in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts durchgeführten Zwangsmigrationen. Teilweise komplementär zum ersten betrachtet der dritte Erklärungsansatz Flucht und Vertreibung als eine Strafe für den von Deutschland ausgelösten Zweiten Weltkrieg. Im vierten Erklärungsansatz erscheint Flucht und Vertreibung als ein biopolitisches Instrument zur ethnischen Homogenisierung der beteiligten Staaten. Trotz unterschiedlicher Plausibilität und Popularität haben diese vier Erklärungsansätze eine Gemeinsamkeit: Ihre Verfechter neigen oft dazu, die Beziehung zwischen Flucht und Vertreibung und dem Zweiten Weltkrieg als eine zeitliche Abfolge – und somit konsekutiv und nicht ursächlich – zu betrachten. Diese Tendenz kontrastiert mit dem Blick auf die Zwangsmigrationen der Deutschen, der im östlichen Europa vorherrscht. Sowohl in den Debatten über die Verantwortung für die Vertreibung der Deutschen, die Dissidenten in der Tschechoslowakei seit den 1970er Jahren führten, als auch in den Diskussionen polnischer und tschechischer Historiker, Intellektueller und Politiker der 1990er und frühen 2000er Jahre, gilt der Zweite Weltkrieg nicht bloß als die Vorgeschichte von Flucht und Vertreibung, sondern als ihre zentrale Ursache.
6. Bibliographische Hinweise
Fachliteratur
Adrian von Arburg, Tomáš Staněk (Hg.): Vysídlení Němců a proměny českého pohraničí 1945–1951. Dokumenty z českých archivů, [Die Aussiedlung der Deutschen und Veränderungen des tschechischen Grenzgebiets 1945–1951. Dokumente aus tschechischen Archiven]. 3 in 2 Bde. Středokluky 2010–2011.
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Tomáš Staněk, Adrian von Arburg: Organizované divoké odsuny? Úloha ústředních státních orgánů při provádění „evakuace“ německého obyvatelstva (květen až září 1945) [Organisierte wilde Abschiebungen? Die Rolle zentraler staatlicher Behörden bei der „Evakuierungʺ der deutschen Bevölkerung (Mai – September 1945)]. In: Soudobé dějiny 12 (2005), H. 3–4, S. 465–533; 13 (2006), H. 1–2, S. 13–49; 13 (2006), H. 3–4, S. 321–376.
Ágnes Tóth: Migrationen in Ungarn 1945–1948. Vertreibung der Ungarndeutschen, Binnenwanderungen und slowakisch-ungarischer Bevölkerungsaustausch. München 2001.
Hans-Ulrich Wehler: Nationalitätenpolitik in Jugoslawien: Die deutsche Minderheit, 1918–1978. Göttingen 1980.
Martin Zückert, Michal Schvarc, Martina Fiamová: Die Evakuierung der Deutschen aus der Slowakei 1944/45. Verlauf, Kontexte, Folgen. Göttingen 2019.
Weblinks
- Collegium Bohemicum (Ústí nad Labem, Tschechien): www.collegiumbohemicum.cz/de/.
- Dokumentations- und Ausstellungszentrum der Deutschen in Polen (Opole, Polen): cdwbp.opole.pl.
- Dokumentationszentrum für Deportationen der Oberschlesier in die UdSSR im Jahr 1945 (Radzionków, Polen): deportacje45.pl.
- Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung (Berlin): https://www.flucht-vertreibung-versoehnung.de
Anmerkungen
[1] Der Sprachökonomie halber ist im Folgenden zusammenfassend von „Deutschen“ die Rede. Zahlangaben zu den einzelnen Etappen von Flucht und Vertreibung in den verschiedenen Ländern bzw. Regionen finden sich in den jeweiligen Artikeln.
[2] Hahn/Hahn, Die Vertreibung im deutschen Erinnern, S. 695f.
[3] Ruchniewicz, Krzysztof: Wilde Vertreibung der Deutschen aus Polen. In: Brandes/Sundhaussen/Troebst, Lexikon der Vertreibungen, S. 725–728, hier S. 727; Brandes, Detlef: Wilde Vertreibung aus der Tschechoslowakei. In: Ebd., S. 728–730, hier S. 730.
[4] Donauschwäbische Kulturstiftung (Hg.): Leidensweg der Deutschen im kommunistischen Jugoslawien. Bd. 3. München 1995, S. 235; Staněk, Verfolgung, S. 120; Nowak, Edmund: Lamsdorf. In: Brandes/Sundhaussen/Troebst, Lexikon der Vertreibungen, S. 376f., hier S. 377.
[5] Hahn/Hahn, Die Vertreibung im deutschen Erinnern, S. 674, 691f.
[6] Beer, Zwangsmigrationen in Südosteuropa, S. 156.
[7] Beer, Zwangsmigrationen in Südosteuropa, S. 156f.
[8] Die beiden umfangreichsten Editionen von Quellen aus osteuropäischen Archiven sind: Borodziej/ Lemberg, „Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden ...” sowie Arburg/Staněk, Vysídlení Němců a proměny českého pohraničí 1945–1951.
[9] Beer, Flucht und Vertreibung der Deutschen, S. 13.
[10] Hahn/Hahn, Die Vertreibung im deutschen Erinnern, S. 706.
[11] Overmans, Personelle Verluste, S. 55. Vgl. Beer, Flucht und Vertreibung der Deutschen, S. 129; Hahn/Hahn, Die Vertreibung im deutschen Erinnern, S. 659, 674, 695.
[12] Overmans, Personelle Verluste, S. 61. Vgl.Beer, Flucht und Vertreibung der Deutschen, S. 129–134; Hahn/Hahn, Die Vertreibung im deutschen Erinnern, S. 676–678.
Zitation
Kornelia Kończal: Flucht und Vertreibung – Ereignisgeschichte. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2024. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p41562 (Stand 17.12.2024).
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