Neumark/Ostbrandenburg/Ziemia Lubuska
1. Toponymie
Deutsche Bezeichnungen
Neumark; Ostbrandenburg; Lebuser Land
Anderssprachige Bezeichnungen
poln. Nowa Marchia; Wschodnia Brandenburgia; Ziemia Lubuska
Etymologie
Die Toponyme „Neumark“, „Ostbrandenburg“ und „Lebuser Land“ sind nicht als Synonyme zu verstehen, da sie sich zum einen auf unterschiedliche historische Kontexte und zum anderen auf die hier behandelte Region in verschiedenen räumlichen Zuschnitten beziehen.
Der heute gebräuchliche Name der Region lautet Ziemia Lubuska (Lebuser Land) und bezeichnet den Raum in den administrativen Grenzen der Woiwodschaft Lebuser Land (poln. Województwo lubuskie). Er bezieht sich auf das Bistum Lebus/Lubusz, das von 1124/1125 bis 1555 bestand.
Die Neumark als historische Landschaft östlich der mittleren Oder hat ihre Anfänge im 13. Jahrhundert. Sie wurde in der Zeit der brandenburgischen Expansion ursprünglich als terra trans Oderam bzw. terra transoderana (lat. Land jenseits der Oder) bezeichnet. Der Name Nova marca (lat. Neue Mark) erschien im 14. Jahrhundert. Denn nach Altmark und Mittelmark wurde nun die Neumark zur Grenzprovinz der Mark Brandenburg.
Ostbrandenburg ist keine historische Landschaft. Der Begriff bezeichnet die östlich von Oder und Lausitzer Neiße (Nysa Lużycka) liegenden, 1945 polnisch gewordenen Teile der preußischen Provinz Brandenburg.
2. Geographie
Lage
Das Gebiet der Neumark ist im Westen von der Oder begrenzt. Die südliche Grenzlinie der Neumark im engeren Sinn (ohne die Gebietserweiterungen und -abtretungen ab 1248) definieren die untere Warthe (Warta) und die Netze (Noteć), die östliche die Drage (Drawa). Die nördliche Grenze zu Pommern verlief südlich einer Linie Reetz/Recz−Stargard/Stargard Szczeciński−Stettin/Szczecin. Heute ist die Neumark zwischen den Woiwodschaften Westpommern (Województwo zachodniopomorskie) und Lebuser Land aufgeteilt.
Zu dem als Ostbrandenburg bezeichneten Gebiet gehören die bis 1945 brandenburgischen Teile der Neumark im weiteren Sinn sowie der sich südlich anschließende Raum östlich der Lausitzer Neiße und nördlich und südlich der Oder. Das ostbrandenburgische Gebiet entspricht somit weitgehend der heutigen Woiwodschaft Lebuser Land ohne den niederschlesischen Raum um Grünberg/Zielona Góra.
Das Bistum Lebus erstreckte sich über beide Seiten der mittleren Oder und heutigen Staatsgrenze. Der westlich der Oder gelegene Teil mit den Amtssitzen Lebus, Fürstenwalde und Beeskow wird seit dem 14. Jahrhundert als Teil der brandenburgischen Mittelmark angesehen. Die Gebiete auf dem östlichen Ufer waren dem Amtssitz Lebus zugeordnet und werden seit 1313 auch als „Sternberger Land“ (Ziemia Torzymska), und vermutlich seit der Zeit Johanns von Küstrin (1513–1571) als inkorporierte Teile der Neumark bezeichnet.
Die Woiwodschaft Lebuser Land im mittleren polnischen Westen setzt sich aus 12 Landkreisen und den zwei kreisfreien Großstädten Landsberg an der Warthe/Gorzów Wielkopolski und Grünberg zusammen. Die zwei Landkreise Zielenzig/Sulęcin und Frankfurter Dammvorstadt/Słubice formen zusammen mit den Gemeinden Lagow/Łagów, Vietz (Ostbahn)/Witnica und Küstrin/Kostrzyn weitgehend das Sternberger Land bzw. den heute polnischen Teil des historischen Bistums Lebus nach. Sie erstrecken sich vom Warthebruch nach Süden. Die sich nördlich anschließenden Landkreise Landsberg an der Warthe und Friedeberg (Neumark)-Driesen/Strzelce Krajeńskie-Drezdenko entsprechen dem südwestlichsten Teil der historischen Neumark im engeren Sinn. Weiterhin gehören der Woiwodschaft die Landkreise Crossen/Krosno Odrzańskie und Schwiebus/Świebodzin, im Osten die historisch großpolnischen Kreise Meseritz/Międzyrzecz und Fraustadt/Wschowa und im Süden die drei historisch niederschlesischen Kreise Grünberg, Neusalz/Nowa Sól und Sagan/Żagań sowie der niederlausitzische Kreis Sorau/Żary an.
Topographie
Als Teil der Nordeuropäischen Tiefebene (weniger treffend auch als Norddeutsches Tiefland bezeichnet) hat das Aufschieben und Abschmelzen der eiszeitlichen Gletscher in der behandelten Region eine geomorphologisch sehr formenreiche Naturlandschaft geschaffen. Dabei sind Gewässer die strukturierenden Elemente. Zwei Urstromtäler verlaufen von Ost nach West inmitten der Region. Das südlichere Warschau-Berliner Urstromtal wird von der Oder durchflossen. Im nördlicheren liegen die weiten Ebenen von Warthe- und Netzebruch. Auf 8.074 Hektar davon wurde 2001 der streng geschützte polnische Nationalpark Ujście Warty eingerichtet, vor allem zum Nutzen der europäischen Vogelwelt.
Zwischen den beiden Urstromtälern liegt in den Mesoregionen Lebuser Seenplatte (Pojezierze Lubuskie) und Sternberger Flachland (Równina Torzymska) zentral das Sternberger Land. Es stellt, durch die Flüsse Oder, Warthe und Obra von allen Seiten umrahmt, eine topographische Einheit dar. Die Landschaft nördlich von Warthe- und Netzebruch, also in der Neumark im engeren Sinn gehört, u. a., mit den Mesoregionen, Równina Gorzowska und Pojezierze Myśliborskie, bereits zu den Ausläufern der pommerschen Seenplatten. Südlich der Oder teilen Neiße und Bober (Bóbr) die Hochflächen. Die Landschaft ist agrarisch und touristisch geprägt. 49 Prozent der Fläche der Woiwodschaft Lubuskie sind bewaldet und knapp zehn Prozent mit Seen bedeckt. Hauptsächlich kommen Rinnenseen vor, in kleinerer Zahl Toteis- und anthropomorphe Seen. Die Anzahl der Seen beläuft sich auf über 500. Verschiedenenorts gibt es sehr steile Fluss- und Seeuferhänge. Die Moränen und Sander erreichen bis zu 226 Meter über Normalhöhennull.
Historische Geographie
Mit der Christianisierung Polens unter Herzog Mieszko I. (reg. 960−992) aus der Piastendynastie im Jahre 966 wurde das Territorium zum ersten Mal Teil eines größeren Herrschaftsgebietes. Mieszkos I. Bemühungen um eine weitere Ausdehnung der Macht nach Norden und Westen, auch in das von verschiedenen slawischen Stämmen besiedelte Land westlich der Oder, wurden von seinen Nachfolgern fortgesetzt. 1124/1125 kam der Herzog von Polen, Boleslaus Schiefmund (1085−1138), den Gebietsexpansionsplänen Kaiser Heinrichs V. (gest. 1125) zuvor, indem er das der polnischen Erzdiözese Gnesen/Gniezno unterstellte Bistum Lebus errichtete, um das Gebiet dem Einflussbereich des Kaisers und des Erzbistums Magdeburg zu entziehen. Nach Boleslaus Schiefmunds Tod regierten die schlesischen Piasten das Lebuser Land, das nun 111 Jahre lang Schlesien angehörte. 1248/1249 wurde es von Herzog Boleslaus II. (um 1217−1278) zur Finanzierung eines schlesischen Bruderkrieges dem Erzbischof von Magdeburg überschrieben. Die in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts erstarkende Mark Brandenburg gewann im Folgenden zunehmenden Einfluss in der Region, bis die herrschenden Askanier das Gebiet des Bistums Lebus endgültig 1287 als alleinige weltliche Herren übernahmen; das Bistum unterstand bis 1424 weiterhin der Erzdiözese Gnesen. Infolge der Reformation wurde es 1555 säkularisiert und aufgelöst.
Nach dem Aussterben des askanischen Herrschergeschlechtes geriet die Mark Brandenburg unter der von 1320 bis 1415 währenden Herrschaft der Wittelsbacher und Luxemburger in politisch und wirtschaftlich instabile Verhältnisse. 1402 wurde die Neumark, ohne das Sternberger Land, von König Sigismund von Luxemburg (1368−1437) an den Deutschen Ritterorden verpfändet, 1429 ging sie in dessen Besitz über. Als 1412/13 die Hohenzollern die Macht in Brandenburg übernahmen, gelang es ihnen, das Land schrittweise zu befrieden und die Zentralmacht wiederherzustellen. 1455 löste Brandenburg die Bindungen der Neumark an den Deutschordensstaat. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts kam es zu einem weiteren Gebietszuwachs östlich der Oder mit den Herzogtümern Crossen und Züllichau/Sulechów.
1535 bis 1571 war die Neumark nach der Erbteilung Brandenburgs ein eigenständiges Herrschaftsgebiet. Die Neumark hatte folgend noch über zwei Jahrhunderte eine verwaltungsmäßige Sonderstellung innerhalb Brandenburgs inne, da sie über eine eigenständige Kriegs- und Domänenkammer sowie Kirchenverwaltung verfügte. Diese endete mit der neuen administrativen Gliederung Preußens nach dem Wiener Kongress von 1815. Die Kreise Dramburg/Drawsko Pomorskie und Schivelbein/Świdwin sowie die nördlichen Teile des Kreises Arnswalde/Choszczno wurden der Provinz Pommern zugewiesen. Der größere Teil der Neumark wurde mit der Niederlausitz zum neu geschaffenen, die östliche Hälfte Brandenburgs umfassenden Regierungsbezirk Frankfurt verbunden. Nach Auflösung der 1922 aus den deutsch gebliebenen Randteilen der Provinzen Posen und Westpreußen gebildeten Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen 1938 kamen noch die Kreise Schwerin (Warthe)/Skwierzyna und Meseritz/Międzyrzecz sowie der Nordteil des Kreises Bomst/Babimost hinzu, dafür gingen die historisch neumärkischen Kreise Arnswalde und Friedeberg an die Provinz Pommern.
Infolge des Zweiten Weltkriegs kamen alle zu diesem Zeitpunkt brandenburgischen Gebiete östlich von Oder und Neiße, die seitdem auch als „Ostbrandenburg“ bezeichnet werden, zu Polen. Auf diesem Gebiet wurde eine „Ziemia Lubuska“ genannte Verwaltungseinheit mit der Hauptstadt Landsberg gegründet, die zwar der Woiwodschaft Posen (Województwo poznańskie) unterstand, aber eine administrative Sonderstellung einnahm. Im Jahre 1950 wurde daraus, unter Einbezug von sieben niederschlesischen Kreisen, die Woiwodschaft Grünberg (Województwo zielonogórskie) gebildet. Im Norden wurden zwei weitere neumärkische Kreise, Königsberg (Nm.)/Chojna und Soldin/Myślibórz, an Pommern angeschlossen. Es lässt sich somit eine Fortsetzung der bereits mehrere Jahrhunderte anhaltenden Südverschiebung der hier behandelten Region feststellen.
Im Zuge einer weiteren administrativen Reform wurde 1975 die Region auf zwei kleinere Woiwodschaften aufgeteilt – Grünberg und Landsberg an der Warthe (Województwo gorzowskie). Schließlich wurde 1998/1999 die Woiwodschaft Lebuser Land in ihrer heutigen Form geschaffen, die weitgehend den Grenzen von 1950 und in großen Teilen den Grenzen Ostbrandenburgs entspricht.
3. Geschichte und Kultur
Frühgeschichte
Zahlreiche archäologische Funde belegen eine durchgehende Besiedlung seit der mittleren Steinzeit sowie das Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen in dieser Region. Aus der Bronzezeit gibt es reiche Funde der Lausitzer Kultur, u.a. einen bronzenen Kultwagen bei Drossen/Ośno Lubuskie. Slawische Stämme wanderten während des 7. Jahrhunderts ein. Den bemerkenswertesten Fundort aus dieser Zeit stellt das sogenannte „Polnische Troja“ in Zantoch/Santok dar. Die Burganlage am einzig möglichen Übergang über die Sumpfgebiete am Zusammenfluss von Warthe und Netze wurde vielfach zerstört und wieder neu aufgebaut.
Mittelalter
Mit der Eroberung durch den piastischen Herzog Mieszko I. wurde das Gebiet an der mittleren Oder ab dem 10. Jahrhundert christianisiert. Im Jahr 1000 wurde Gnesen, der Hauptsitz der Piasten, Erzbistum; weitere Bistümer in Krakau/Kraków, Breslau/Wrocław, Kolberg/Kołobrzeg und zuletzt Lebus (1124/25) wurden gegründet.
Auf dem Gebiet des Bistums Lebus kam es aufgrund seiner Lage wiederholt zu Grenzkonflikten, ab Mitte des 13. Jahrhunderts auch zwischen der weltlichen Macht der Brandenburger und der geistlichen Macht der Bischöfe. Schon bevor das Bistum in brandenburgische Hände übergegangen war, hatten deutschsprachige Kolonisten auf dem gesamten Gebiet des späteren Ostbrandenburg Fuß gefasst. Sie wurden unter anderen vom Templerorden mit Sitz in Quartschen/Chwarszczany ins Land geholt und trugen zur landwirtschaftlichen Entwicklung der Region bei. Um den bischöflichen Vormachtansprüchen entgegenzuwirken, förderten die Markgrafen von Brandenburg den Ausbau des zehn Kilometer südlich von Lebus gelegenen Ortes Frankfurt (Oder), der 1253 die Stadtrechte erhielt. Es folgten weitere Stadtgründungen nach Magdeburger Recht. Zu den bedeutendsten gehörten die für den Handel günstig gelegene Stadt Landsberg an der Warthe und die alte Kastellanei Zantoch. Landbesitz erhielten neben Orden wie den Templern, Johannitern oder Zisterziensern auch bedeutende Adelsgeschlechter.
Neuzeit
Eine Blütezeit erfuhr die Neumark als eigenständiges Herrschaftsgebiet unter dem brandenburgischen Fürsten Johann (Hans) von Küstrin (1513–1571). Er verlegte die Hauptstadt der Neumark nach Küstrin und begann mit dem Ausbau dieser Stadt an der Oder zur Festung. Seit der Reformation, der sich Johann von Küstrin bei seinem Regierungsantritt angeschlossen hatte, ist die Region überwiegend vom Protestantismus geprägt. Im 17. Jahrhundert wurde die Neumark zu einem der Schauplätze des Dreißigjährigen Krieges. Im Winter 1626/1627 litt die Bevölkerung unter der verheerenden Invasion der polnischen Kosaken, im Jahre 1631 wurde die Region von den Schweden erobert und bis zum Abschluss des Westfälischen Friedens 1648 okkupiert.
Im Siebenjährigen Krieg (1756–1763) fanden in der Region drei große Schlachten statt: Zorndorf/Sarbinowo am 25. August 1758, Kay/Kije bzw. Züllichau am 23. Juli 1759 und Kunersdorf/Kunowice am 12. August 1759. Der Wiederaufbau nach den Kriegsverwüstungen fiel mit der Regulierung der Flüsse Oder und Warthe, dem Deichbau und der Trockenlegung der Flussauen zusammen. Diese Maßnahmen veränderten die Kulturlandschaft wesentlich und vergrößerten die landwirtschaftlich genutzte Fläche erheblich. In den neu angelegten Dörfern wurden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, neben alteingesessener Bevölkerung, Kolonisten aus ca. 36 Ländern angesiedelt. Zu fast 70 Prozent handelte es sich um Protestanten deutscher Herkunft aus Polen, die zweitgrößten Anteile stellten Sachsen und Mecklenburger.
19. Jahrhundert
Im Zuge der Stein-Hardenberg’schen Reformen erfolgten mit der Bauernbefreiung 1807 und der Emanzipation der Juden 1812 Weichenstellungen für die weitere Entwicklung der Region.
Nachdem die traditionelle Tuchmacherei in der ersten Hälfte des Jahrhunderts zum Erliegen gekommen war, führten der Ausbau der Wasserwege, der Chausseen und der Eisenbahnbau zu einer wirtschaftlichen Belebung. Bedeutend waren vor allem die parallel nördlich von Warthe und Netze verlaufenden Verbindungen Berlin–Königsberg, die preußische Ostbahn und die Reichsstraße 1, wie sie 1934 benannt wurde, sowie die Landstraße von Berlin über Frankfurt nach Breslau. Die Industrialisierung erreichte allerdings nur vergleichsweise bescheidene Ausmaße, insbesondere durch das Fehlen von Schwerindustrie. Dennoch wuchsen und entwickelten sich vor allem Landsberg an der Warthe, Küstrin und Frankfurt (hier auch der östlich der Oder gelegene Stadtteil Dammvorstadt) zu Industriestandorten, erfuhren jedoch eine noch entscheidendere Prägung als Garnisons- und Verwaltungsstädte.
Zeitgeschichte
Nach den territorialen Verlusten Deutschlands infolge des Ersten Weltkriegs wurde der Osten Brandenburgs erneut zum Grenzland. Der Regierungsbezirk Frankfurt erhielt daraufhin eine wichtige Rolle in der revisionistischen deutschen Propaganda sowie gezielte Wirtschaftsförderung, auch um die Abwanderung der deutschen Bevölkerung zu bremsen. Dies kulminierte im Nationalsozialismus vor 1939 in Plänen für den Bau einer Autobahn über die Oder und für die Ernennung Frankfurts zur Hauptstadt Brandenburgs. Während des Zweiten Weltkriegs arbeiteten in den Städten, den Fabriken und auf dem Lande Zehntausende von Zwangsarbeitern und Häftlingen, davon viele in Rüstungsbetrieben, die, größtenteils unterirdisch versteckt, in die ostbrandenburgischen Wälder verlegt wurden und deren Ruinen vielerorts noch vorzufinden sind. Von Kampfhandlungen blieb die Region bis Ende Januar 1945 verschont.
Als sich Ende Januar 1945 die sowjetische Armee der mittleren Oder näherte, kam es zur überstürzten Flucht der deutschen Bevölkerung, wobei der größte Teil aufgrund der sehr schnell vorrückenden Front unter sehr großen Opfern bis zur Oderoffensive im April im Frontgebiet verblieb. In diesen dreieinhalb Monaten litten sie unter Requirierungen, Verschleppungen, Gewaltakten und Morden durch die sowjetischen und, zu einem kleineren Teil, polnischen Kampftruppen. Von diesen Soldaten wiederum fielen in dieser Zeit ca. 100.000 den in der Region stattfindenden Kämpfen zum Opfer. Brandschatzungen vernichteten zum Teil komplette Innenstädte.
Kurz nach Kriegsende kam es dann zu den sogenannten wilden Vertreibungen unter der neuen polnischen Verwaltung sowie der polnischen Armee. Auf der Potsdamer Konferenz vom Juli/August 1945 wurde das Gebiet Polen zugeteilt. Die verbliebene deutsche Bevölkerung wurde bis 1947 fast vollständig ausgesiedelt. An ihre Stelle traten zu etwa zwei Dritteln Umsiedler aus Zentralpolen sowie zu ca. einem Drittel ebenfalls aus ihrer Heimat vertriebene Ostpolenund im geringeren Ausmaß vertriebene Ukrainer und andere Siedler.
Das bereits zu deutscher Zeit dünn besiedelte und nun in weiten Teilen zerstörte Gebiet blieb auch in den folgenden 20 Jahren, und im ländlichen Raum bis heute, nur sehr dünn besiedelt. In einer zweiten Besiedlungswelle in den 1960er Jahren wurden neue Industriekombinate gegründet, zu einem großen Teil Textilfabriken, die aber die Transformation nach 1989 vielfach nicht überstanden.
Bevölkerung der Ziemia Lubuska
Jahr[4] | Gesamt | Stadtbevölkerung | Landbevölkerung |
1939 | 918.300 | ||
1946 | 410.388 | 144.449 (35%) | 265.939 (65%) |
1950 | 630.762 | 251.931 (40%) | 378.831 (60%) |
1975 | 1.014.136 | 560.458 (55%) | 453.678 (45%) |
1992 | 1.173.272 | 730.142 (62%) | 443.130 (38%) |
Wirtschaft
Neben der dominierenden Landwirtschaft und der verhältnismäßig schwach ausgeprägten Industrie spielt und spielte vor allem der Handel für die an bedeutenden internationalen Handelswegen und im Grenzgebiet gelegene Region eine entscheidende wirtschaftliche Rolle. Dies gilt insbesondere für die Hanse- bzw. Messestadt Frankfurt (Oder) vor den Teilungen der Polnisch-Litauischen Adelsrepublik Ende des 18. Jahrhunderts und wieder seit 1989.
Religion, Kultur und Bildung
Ab Mitte des 16. Jahrhunderts bis 1945 war die Region mehrheitlich evangelisch. Juden stellten die kulturell bedeutendste religiöse Minderheit dar. In jeder Stadt und jedem Ackerbürgerstädtchen gab es eine jüdische Gemeinde. Bedingt durch das Emanzipationsedikt 1812 setzte im 19. Jahrhundert eine Abwanderungsbewegung nach Westen sowie eine Assimilierung der verbliebenen Juden ein, sodass bei der Auflösung der jüdischen Gemeinden 1939 durch die Nationalsozialisten einige bereits nicht mehr bestanden.
Die katholische Minderheit konzentrierte sich vor allem auf die östlichen Teile der Region, an der Grenze zu Großpolen. Seit der Neubesiedlung der Region mit polnischer Bevölkerung ab 1945 bilden die Katholiken die absolute Mehrheit, die meisten evangelischen Kirchen wurden in römisch-katholische umgewandelt. Heute gibt es nur wenige kleine evangelische Gemeinden und eine einzige neu gegründete jüdische, in Sorau. Die größte religiöse und kulturelle Minderheit in der Woiwodschaft Lebuser Land stellen orthodoxe Christen ruthenischer Herkunft dar, die 1947 aus Südostpolen zwangsumgesiedelt wurden.
Die 1506 gegründete Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) war Ausdruck und Katalysator des sich seit der Renaissance im Adel und aufstrebenden Bürgertum entwickelnden Bedürfnisses nach Wissen und Bildung und gab der Region eine geistige und kulturelle Orientierung, die sich auch im dort befindlichen Buchdruck manifestierte. 1811 wurde die Universität nach Breslau verlegt. Frankfurt blieb wirtschaftliches und administratives Zentrum, wobei sich das Bildungsbürgertum geistig zunehmend nach Berlin orientierte. 1991 erfolgte die Neugründung der Universität Viadrina, die heute auch viele Studierende der Woiwodschaft Lebuser Land anzieht. Weitere bedeutende Universitäten oder akademische Zentren bestehen in Gorzów Wielkopolski, Zielona Góra und Słubice.
Erinnerungskultur
Die Umbenennung der Region in „Lebuser Land“ ist als Ausdruck der von der polnischen kommunistischen Regierung forcierten Polonisierung zu deuten. Diese brachte für mehrere Jahrzehnte eine politisch angeordnete Abgrenzung von der deutschen Geschichte der Region mit sich, was es den neuen polnischen Bewohnern erschwerte, in ihrer neuen Heimat Wurzeln zu schlagen. Seit der politischen Wende von 1989/1990 lässt sich eine deutliche Zunahme des Regionalbewusstseins und des Interesses an der Geschichte der Region beobachten. Der Einsatz der Bewohner für eine eigene Woiwodschaft, die seit der Verwaltungsreform von 1998 erneut den Namen „Lebuser Land“ führt, ist ein Zeichen dafür, dass immer mehr Menschen die Region als ihr Zuhause betrachten und sich mit ihr identifizieren.
4. Bibliographische Hinweise
Literatur
- Magdalena Abraham-Diefenbach, Juliane Tomann, Bernd Vogenbeck (Hg.): Terra Transoderana. Zwischen Neumark und Ziemia Lubuska. Berlin 2008 (Almanach – europäische Grenzregionen neu entdecken 1).
- Marta J. Bąkiewicz (Hg.): An der Mittleren Oder. Eine Kulturlandschaft im deutsch-polnischen Grenzraum. Paderborn 2016.
- Zbigniew Czarnuch: Ujarzmienie Rzeki. Człowiek i woda w rejonie ujścia Warty [Die Zähmung der Flüsse. Mensch und Wasser in der Region Warthebruch]. Górzyca, Gorzów Wlkp. 2008.
- Christian Gahlbeck (Bearb.): Archivführer zur Geschichte Ostbrandenburgs bis 1945. München 2007 (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 31).
- Beata Halicka: Polens Wilder Westen. Erzwungene Migration und die kulturelle Aneignung der Oderraumes 1945–1948. Paderborn 2013. Poln. Ausgabe: Polski Dziki Zachód. Przymusowe migracje i kulturowe oswajanie Nadodrza 1945–1948. Kraków 2015.
- Gerd Heinrich (Hg.): Kulturatlas Brandenburg. Historische Landkarten. Geschichte der Mark im Überblick. 2., erw. und verb. Aufl. Berlin 2006.
- Gerd-Ulrich Herrmann, Uwe Klar: Der Schlüssel für Berlin. Hintergründe, Vorbereitung und Verlauf der Schlacht um die Seelower Höhen. Aachen 2010.
- Kerstin Hinrichsen: Die Erfindung der Ziemia Lubuska. Konstruktion und Aneignung einer polnischen Region 1945–1975. Göttingen 2017.
- Heinz W. Linke, Heinz Paschke: Das Sternberger Land im Wandel der Zeiten. Iserlohn 1988.
- Stanisław Lisiecki: Die offene Grenze. Forschungsbericht polnisch-deutsche Grenzregion (1991–1993). Potsdam 1996.
- Jörg Lüderitz: Die Neumark. Durch die alte Kulturlandschaft östlich der Oder. 4. aktual. u. erw. Aufl. Berlin 2008.
- Maria Rutowska, Maria Tomczak: Ziemia Lubuska jako region kulturowy [Das Lebuser Land als Kulturlandschaft]. Poznań 2003.
- Edward Rymar: Klucz do ziem polskich czyli Dzieje Ziemi Lubuskiej aż po jej utratę przez Piastów i ugruntowanie władzy margrabiów brandenburskich [Schlüssel zu den polnischen Ländern oder Die Geschichte des Lebuser Landes bis zu dessen Verlust durch die Piasten und der Festigung der Herrschaft der Brandenburger Markgrafen]. Gorzów Wielkopolski 2007.
- Karl Schlögel, Beata Halicka (Hg.): Oder-Odra. Blicke auf einen europäischen Strom. Frankfurt/M. 2007.
- Andrzej Toczewski: Ziemia Lubuska. Studia nad tożsamością regionu [Lebuser Land. Studien zur Identität der Region]. Zielona Góra 2014.
- Marceli Tureczek: Ziemia Lubuska. Społeczny wymiar dialogu o przeszłości i tożsamości [Lebuser Land. Die soziale Dimension des Dialogs über Vergangenheit und Identität]. Międzyrzecz u. a. 2014.
- Eduard Ludwig Wedekind: Geschichte der Neumark Brandenburg und der derselben inkorporierten Kreise Lebus, Sternberg, Züllichau-Schwiebus, Krossen und Kottbus. Berlin, Küstrin 1848.
Weblinks
- Nowa Marchia – Prowincja zapomniana – Wspólne korzenie. Die Neumark – Eine vergessene Provinz – Die gemeinsamen Wurzeln. Hg. v. der Woiwodschafts- und Stadtbibliothek in Gorzów Wielkopolski und der Stiftung Brandenburg in Fürstenwalde (2004ff.): www.wimbp.gorzow.pl/?d=4268
- Studia Zielonogórskie [Grünberger Studien]. Hg. vom Museum des Lebuser Landes in Zielona Góra (1995ff.): mzl.zgora.pl/kiosk/publikacje/wydawnictwa-ciagle/studia-zielonogorskie/
Anmerkungen
[1] Durch die Begradigung der Oder im 18. Jahrhundert befindet sich ein kleiner Teil der Neumark heute westlich des Flusslaufs, das zur Bundesrepublik Deutschland gehörende Oderbruch. Die historische Grenze ist hier die Alte Oder.
[2] Teilweise werden auch die 1938 Pommern zugeschlagenen Landkreise Friedeberg (Neumark) (Strzelce Krajeńskie) und Netzekreis dazugezählt.
[3] Herrmann, Klar: Der Schlüssel für Berlin. Herrmann, der ehemalige Leiter der Gedenkstätte Seelower Höhen, weist auf eine weiterhin vorhandene, vermutlich sehr hohe Dunkelziffer hin, auch die polnischen Opfer seien noch nicht mitgezählt.
[4] Die Bevölkerungszahl für 1939 bezieht sich auf das Gebiet der Woiwodschaft Zielonogórskie in den Grenzen von 1950–1975. Sie ist extrapoliert aus den statistischen Angaben des Deutschen Reichs. Nach: Hans Joachim von Koerber: Die Bevölkerung der deutschen Ostgebiete unter polnischer Verwaltung. Berlin 1958, S. 233.
Die Bevölkerungszahlen für die Jahre 1946–1992 beziehen sich auf die etwas größeren Gebiete der Woiwodschaften Zielonogórskie und Gorzowskie in den Grenzen von 1975–1998 und sind dazu ebenfalls zum Teil extrapoliert. Nach: Lisiecki: Die offene Grenze, S. 144.
Zitation
Beata Halicka, Matthias Diefenbach: Neumark/Ostbrandenburg/Ziemia Lubuska. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2018. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p38427 (Stand 20.05.2021).
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