Juden

1. Genese

Die jüdische Ansiedlung im östlichen Europa geht auf Bemühungen der Landesherrschaften im Hochmittelalter zurück, in ihren Provinzen spezifisch qualifizierte Personengruppen (Händler, Handwerker, Landwirte) ansässig zu machen. Mit der Ansiedlung von Juden, die sich vornehmlich aus deutschen Ländern kommend in kleinen Personenverbänden in zunehmend östlich gelegenen Städten niederließen, verband sich die Hoffnung auf eine Belebung des Handels und die Einführung monetären Wirtschaftens.

Die jüdische Bevölkerung nahm sowohl in absoluten Zahlen als auch im Verhältnis zur nichtjüdischen Bevölkerung bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts stetig zu. Nach den Teilungen Polens befand sich die größte Zahl ehemals polnischer Juden im russischen Teilungsgebiet, gefolgt vom österreichischen und preußischen Teilungsgebiet. Bis in das 19. Jahrhundert war das Jiddische die vorherrschende Alltagssprache. In mittleren und höheren Einkommensschichten wurde zudem der männliche Nachwuchs nachhaltig im Hebräischen unterrichtet, das über das religiöse Leben hinaus große Bedeutung für die Rechtspflege, die gemeindliche Verwaltung und das Geschäftsleben hatte.

Die relative rechtliche Stabilität und die Absicherung spezifischer ökonomischer Nischen in Handel, Pachtwesen und Handwerk führten in der frühen Neuzeit zur Gründung einer großen Zahl jüdischer Gemeinden in polnischen und litauischen Provinzen, die sich durch rechtliche und institutionelle Kontinuität, kulturelle Kohäsion und religiöse Observanz auszeichneten. Sie standen unter dem Schutz sowohl der Krone als auch der Aristokratie und vermochten trotz einschneidender Rückschläge (etwa des Chmielnicki-Aufstands von 1648) die Autonomie der einzelnen Gemeinden durch regionale und überregionale Beratungsgremien (Räte) zu ergänzen. Mit der Abschaffung der bekanntesten Körperschaft dieses Typs, des sog. Vierländerrates, im Jahr 1764 begann der Abbau der jüdischen Autonomie von staatlicher Seite, der nach den Teilungen Polens von den Teilungsmächten Russland, Österreich und Preußen mit Nachdruck betrieben wurde.

Juden bildeten im östlichen Europa eine große Bandbreite religiöser und kulturell-politischer Haltungen aus. Mit der messianischen Bewegung, gegründet von Sabbatai Zevi (1626–1676, s. u.) und noch stärker mit der Ausprägung des Chassidismus in der Mitte des 18. Jahrhunderts diversifizierten sich religiöse Haltungen in den jüdischen Gemeinden, was zu Auseinandersetzungen um das Wesen der Gemeinde sowie um liturgische Praktiken führte. Dieser zunehmenden Komplexität standen eine geringe Bereitschaft zur Exogamie und eine weiterhin tiefe Prägung durch religiöse und gemeindliche Traditionen gegenüber.

Ökonomische Notlagen, Überbesetzung bestimmter Tätigkeitsbereiche aufgrund rechtlichen und informellen Ausschlusses sowie die Verheißungen eines Neuanfangs an anderem Ort führten in den zwei Generationen zwischen den 1880er Jahren und dem Zweiten Weltkrieg zu einer Phase massiver Auswanderung, in deren Verlauf etwa drei Millionen Juden das östliche Europa verließen.

In der Zeit der deutschen Besatzung und des Völkermords an den europäischen Juden während des Zweiten Weltkriegs wurde die überkommene osteuropäisch-jüdische Lebenswelt unwiederbringlich zerstört. Nur eine Minderheit der wenigen Überlebenden vermochte unter der sich nach 1944/45 rasch konsolidierenden sowjetischen Hegemonie eine Lebens- und Bleibeperspektive zu entwickeln.

Zusätzlich reduzierte die seit den 1970er Jahren ermöglichte Emigration aus der Sowjetunion nach Israel die Zahl der sich als Juden identifizierenden Bürger im sowjetischen Einzugsbereich. Nach dem Ende der Einparteienherrschaften unter sowjetischer Kontrolle existierten im östlichen Europa große jüdische Gemeinschaften nur noch in Ungarn, der Russischen Föderation und in der Ukraine.

Begriff

Im Folgenden werden Personen und Personengruppen als Juden bzw. jüdisch bezeichnet, die sich selbst als im weitesten Sinne dem Judentum als Religions- und Abstammungsgemeinschaft zugehörig begriffen und deren Zugehörigkeit darüber hinaus durch Faktoren wie Gemeinde- und Kongregationsmitgliedschaft, familiäre Zusammenhänge und Sprache evident war.

Polyvalenzen ergeben sich für jene Personengruppen, die nur einem Teil dieser Kriterien zufolge ‚jüdisch‘ waren, wie etwa die unter anderem in Litauen ansässigen Karäer (auch: Karaiten), die sich auf das vortalmudische Judentum zurückführten und im religiösen Verkehr das Hebräische pflegten. Die sog. Frankisten, also zum Katholizismus konvertierte Anhänger des sich als Messias begreifenden Neo-Sabbatianers (s. u.: Sabbatai Zevi) Jakob Frank (ca. 1726–1791), erhielten durch familiale Netzwerke vor allem in Warschau/Warszawa und Prag/Praha über mehrere Generationen eine neo-sabbatianische und krypto-jüdische Identität aufrecht.

Allgemein wurden Konvertiten zum Christentum sowohl von ihrer Herkunftsgemeinschaft als auch in ihrem neuen Glaubenskontext häufig noch als Juden betrachtet, wie etwa der Autor Stanisław Hoge (1791–1860) oder der Unternehmer Leopold Kronenberg (1812–1878). Sozialdemokaten oder Kommunisten jüdischer Herkunft, die sich in der Regel von jeglicher religiösen Selbstbeschreibung lossagten, wurden von nichtjüdischer, häufig antisemitischer Seite weiterhin als ‚jüdisch‘ betrachtet und als Inbegriff eines Judentums denunziert, dem eine feindliche Haltung gegenüber einer vermeintlich christlich-europäischen Zivilisation unterstellt wurde.

Träger, Gebrauch

Die Juden im östlichen Europa benutzten zur Selbstbeschreibung hebräische, jiddische und landessprachliche Bezeichnungen, die sich in ihrer Bedeutung und je nach Kontext teilweise erheblich voneinander unterschieden. Im Hebräischen gehörten hierzu biblische und rabbinische Begriffe, die je nach Bedarf durch Toponyme ergänzt wurden: bnei jiisroel oder qlal jisroel bezeichnete etwa die Gesamtheit des Volkes Israels bzw. der Söhne Israels, jehudei polin oder jehudei lite hingegen die Juden in Polen oder Litauen. Prominent waren in rechtswirksamen Dokumenten (Gemeindeprotokolle, Übersetzungen nichtjüdischer Schriftsätze) auch lokale Selbstbezeichnungen wie bnei/toschavei edat (die Söhne/Bürger der [jüdischen] Gemeinde), gefolgt von einem Toponym, z. B. Posna (Posen/Pozna). In religiösem Kontext folgten polnisch-jüdische Gemeinden dem aschkenasischen Ritus mit Varianten, die als nusech poyln (polnischer Brauch) bezeichnet wurden. Im Jiddischen war der Begriff jidn üblich. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts gewannen regionale Differenzierungen wie galicjaner und litvak an Prominenz, wobei das von letzterem abgeleitete Adjektiv litvisch auch die litauisch-jüdische Variante rabbinischer Observanz definierte (litvische schul: eine Synagoge, die traditioneller rabbinischer Observanz und nicht etwa chassidischem Ritus folgte). Die Selbstbezeichnung in den Landessprachen, die erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts an Bedeutung gewann, spiegelte üblicherweise Varianten des religiös-kulturellen Selbstverständnisses wider. Polnisch-jüdische Autoren verwandten hierbei meist die Begriffe Żyd, Żydzi, żydowski etc., russisch-jüdische hingegen Evrej, evrejskij etc. In mehreren ostmitteleuropäischen Sprachen gab es den Begriff der Zugehörigkeit zum ‚mosaischen Bekenntnis‘ (poln. wyznanie mojżeszowe, tschech. mojžišské vyznání, ung. izraelita vallású). Der aus dem polnischen Gebrauch übernommene Begriff starozakonny (Altbündler) wurde im 19. Jahrhundert für einige Generationen im gehobenen und amtlichen Sprachgebrauch üblich, verlor aber im 20. Jahrhundert an Bedeutung. Als Eigenbezeichnung erlangte der Begriff Izraelita (poln.) bzw. Israelité (tschech.), der eine auf Reform und Integration ausgerichtete Lebensweise oder Kongregation bezeichnete, nur eingeschränkte Bedeutung und war lediglich im Ungarischen (izraelita) verbreiteter.

Fremdsprachige Entsprechungen, Übersetzungen, Übernahmen

Bezeichnungen für die jüdische Minderheit und ihre Angehörigen in den nichtjüdischen Umgebungssprachen spiegelten deren Wahrnehmungshorizonte wider. In Mittelalter und früher Neuzeit herrschte eine religiös geprägte, negativ konnotierte Begrifflichkeit vor, welche Juden als ‚Ungläubige‘ markierte (lat.: infideles, poln. niewierni). Neutralere Bezeichnungen waren judaeus (lat.) Żyd, żydowski (poln.), Evrej (russ.), Žid (tschech.) oder Židia (slowak.). In allen ost- und ostmitteleuropäischen Niederlassungsgebieten jüdischer Gemeinden fanden landessprachliche Schimpfnamen weite Verbreitung, wie Żydy (poln., ähnlich im Russischen), Židák (tschech.) oder Zsid (ung.).

Gleichfalls weite Verbreitung fand im 20. Jahrhundert der deutsche Begriff ‚Ostjuden‘. Geprägt im Kontext der politischen Mobilisierung vor dem Ersten Weltkrieg identifizierte er die im östlichen Europa lebenden Juden mit Lebensformen und -umständen, die für diese Region als typisch galten. Armut, Observanz, kulturelle Abgeschiedenheit und gemeindliche Kohärenz der östlichen Judenheit gerieten zum (positiv oder negativ bewerteten) Gegenentwurf zum mittel- und westeuropäischen ‚Normalfall‘ jüdischer Akkulturation und Integration.

2. Historischer Abriss

Niederlassung und demographische Entwicklung
Mittelalter und frühe Neuzeit

Auch wenn sich spätestens seit dem 10. Jahrhundert jüdische Handelsleute zumindest zeitweilig in befestigten Handelsplätzen wie Prag, Krakau/Kraków und Gran/Esztergom/Ostrihom aufhielten, gibt es für die Zeit vor dem 13. Jahrhundert keine Hinweise auf eine dauerhafte Existenz jüdischer Gemeinden in Ostmitteleuropa. Diese ließen sich erst im Zuge der spätmittelalterlichen Privilegierung durch die Landesherrschaften im Rahmen des Magdeburger Rechts nieder, in deren Folge dauerhafte jüdische Gemeinden in böhmischen, mährischen und schlesischen Städten entstanden (s. u., Gemeindliche Verfassung).

Zum Ausgang des Mittelalters lebten über eintausend Juden in der befestigten Prager Judenstadt und jeweils wenige hundert in Breslau/Wrocław, Posen, Krakau und Lemberg/L’viv/Lwów. Aber auch in kleineren Städten wie Plock/Płock, Gnesen/Gniezno und Kalisch/Kalisz entstanden jüdische Gemeinden. Ihre Gesamtzahl in Polen betrug zwischen einigen tausend und wenigen zehntausend Personen, die in etwa einhundert Orten lebten. Ein Schutzbrief des Großfürsten Vytautas (ca. 1354–1430) aus dem Jahr 1388 regelte die Niederlassung einer ersten jüdischen Gemeinde in Litauen. Nach der Union von Lublin (1569) dehnte sich ihr Niederlassungsraum auch auf die südlichen Provinzen des Großherzogtums aus, wo Juden für die in diesen Raum expandierende polnische Aristokratie Landgüter verwalteten und eine wesentliche Rolle im Pachtwesen spielten.

Der so entstehende ostmitteleuropäisch-jüdische Ansiedlungsraum blieb bis zu den Teilungen Polens bestehen. Trotz der Verfolgungen der jüdischen Bevölkerung im Zuge des Chmielnicki-Aufstands (1648/49) sowie weiterer Austreibungen und kriegerischer Auseinandersetzungen, die zu Verlusten an Menschenleben und Fluchtbewegungen führten, blieb die Zahl jüdischer Ansiedlungen stabil. Die jüdische Bevölkerung stieg bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert in Polen-Litauen auf etwa eine dreiviertel Million Personen,[1] in Ungarn auf etwa 126.000 (1805)[2] und in Böhmen und Mähren auf etwa 50.000 (29.000 resp. 20.000, 1754)[3] an.

1772–1939: Neuzeit bis zum Zweiten Weltkrieg

Im 19. Jahrhundert wuchs die jüdische Bevölkerung in Ostmittel- und Osteuropa dynamischer als die nichtjüdische. Sie nahm – im Wesentlichen durch natürlichen Zuwachs und ungeachtet der im Verlauf des Jahrhunderts einsetzenden Auswanderung – von etwas unter einer Million Personen im gesamten Siedlungsraum auf etwa fünf Millionen Personen in Ostmitteleuropa (Polen: 3,25 Mio., Rumänien: 750.000, Ungarn: 450.000, Tschechoslowakei: 350.000, Litauen, Lettland und Estland: 250.000) und annähernd drei Millionen Personen in der Sowjetunion im Jahr 1939 zu.[4] Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verlangsamte sich das demographische Wachstum und fiel hinter jenes der nicht-jüdischen Bevölkerung zurück (zu der Entwicklung in den verschiedenen Regionen wie Schlesien, Böhmen, Mähren, Siebenbürgen oder in der Bukowina vgl. die entsprechenden Lemmata in diesem Lexikon).

Politische Entwicklungen, ökonomischer Wandel, staatliche Interventionen sowie individuelle Migrationsbewegungen trugen zu wesentlichen Verschiebungen des jüdischen Siedlungsraums in Ostmittel- und Osteuropa bei. Nach den Teilungen Polens wurden die Teilungsgebiete in die politisch-administrativen Kontexte der Teilungsmächte integriert. Deren Hauptstädte und Zentren wirtschaftlicher Dynamik wurden zu Zielen der Einwanderung aus benachbarten Regionen, während die Teilungsgebiete selbst – mit Ausnahme des Königreichs Polen mit den Industriezentren Lodz/Łódź und Warschau – zur ökonomisch-administrativen Peripherie absanken.

Infolge ökonomischer Stagnation und daraus resultierender, teilweise dramatischer Überbesetzung in traditionellen Erwerbsfeldern wie Handwerk und Kleinhandel kam es zu erheblichen Auswanderungsprozessen der jüdischen Bevölkerung zunächst aus der Provinz Posen und aus Galizien, später auch aus den litauischen Provinzen in den westlichen Gouvernements des Russischen Reiches. Zielregionen waren seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Westeuropa und Nordamerika, Ungarn, Moldau und die Walachei, das Königreich Polen und – gestützt durch Ansiedlungsmaßnahmen der zaristischen Administration – die südlichen Provinzen des Russischen Reiches.

Vor allem die transatlantische Emigration aus dem östlichen Europa veränderte die globale Verteilung der jüdischen Bevölkerung nachhaltig. Zwischen den 1870er Jahren und dem Ersten Weltkrieg verließen etwa zweieinhalb Millionen Juden das östliche Europa, um sich jenseits des Atlantiks in den Vereinigten Staaten von Amerika und in Kanada niederzulassen. Etwa 130.000 Personen wanderten nach Argentinien und Brasilien aus, unterstützt durch systematische Kolonisierungsmaßnahmen der Jewish Colonisation Association. In das westliche Europa wanderte im gleichen Zeitraum etwa eine halbe Million Juden aus. Palästina, das bis zum Ersten Weltkrieg Teil des Osmanischen Reiches war, blieb bis zur Entstehung einer jüdischen Nationalbewegung das Ziel einer nur sehr kleinen Zahl religiös motivierter jüdischer Pilger. Vom Beginn nationaljüdischer Siedlungsprojekte in den frühen 1880er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg ließen sich etwa 65.000 vor allem osteuropäische Juden dort nieder.

Überaus dynamisch verliefen Urbanisierungs- und Metropolisierungsprozesse. In einigen ostmittel- und osteuropäischen Städten entstanden die ersten, das Stadtbild prägenden jüdischen Massengesellschaften. Um 1900 lebten ca. 220.000 Juden in Warschau (ca. 32 Prozent der Gesamtbevölkerung), 170.000 in Budapest (ca. 24 Prozent), 140.000 in Odessa/Odesa, wo die jüdische Ansiedlung auf die Niederlassung galizischer Juden zurückging (ca. 34 Prozent),100.000 in Lodz (31 Prozent) und 23.000 in Czernowitz/Černivci/Cernăuţi (33 Prozent). Die Zahl der vornehmlich aus dem östlichen Europa eingewanderten jüdischen Einwohner in anderen europäischen Hauptstädten war in absoluten Zahlen ähnlich hoch, jedoch lag ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung wesentlich niedriger (Wien: 150.000/ca. 9 Prozent; Berlin: 90.000/ca. 5 Prozent; London 100.000/ca. 1,5 Prozent).[5]

1939–1945: Weltkrieg und Völkermord

Der Völkermord an den europäischen Juden zerstörte jüdisches Leben im gesamten Herrschaftsbereich des nationalsozialistischen Deutschlands und darüber hinaus. Die Auslöschung jüdischen Lebens und jüdischer Kultur war nicht nur eine Folge der auf umfassende Unterwerfung und Vernichtung ausgerichteten Feldzüge im östlichen Europa, sondern ein erklärtes Ziel der deutschen Kriegsführung.

Während die Mehrheit der Juden im Deutschen Reich sich in den Jahren nach der nationalsozialistischen Machtergreifung den Verfolgungen durch Emigration und Flucht entziehen konnte, fiel die große Mehrheit der ost- und ostmitteleuropäischen Juden dem Völkermord zum Opfer. Von den etwa 350.000 Menschen, die sich nach dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 durch Flucht in die Sowjetunion dem unmittelbaren Zugriff Nazi-Deutschlands entziehen konnten, überlebten etwa 230.000. Der Anteil der Getöteten war mit ca. 85–90 Prozent der jüdischen Vorkriegsbevölkerung am höchsten in Polen (ca. 3 von 3,25 Mio.), Litauen (135.000 von 155.000), Lettland (85.000 von 95.000) und der Tschechoslowakei (270.000 von 315.000). In Ungarn fielen drei Viertel der jüdischen Bevölkerung den Verfolgungen zum Opfer (300.000 von 400.000), in den besetzten Gebieten der Sowjetunion und in Rumänien starb fast die Hälfte (1,2 von 2,8 Mio. bzw. 400.000 von 850.000).[6]

Verfolgung und Massenmord verliefen in verschiedenen Regionen und Zeiträumen nach unterschiedlichen Mustern. Gräueltaten und Massaker fanden bereits nach dem Überfall Nazi-Deutschlands auf Polen 1939 statt. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 erfolgte eine systematische Ermordung der jüdischen Bevölkerung in den eroberten Gebieten durch die sog. Einsatzgruppen. Im Zuge der ‚Aktion Reinhard‘ wurden von März bis Dezember 1942 fast zwei Millionen Juden in den zu diesem Zweck errichteten Vernichtungsstätten Belzec (Bełżec), Sobibor (Sobibór) und Treblinka sowie in den Konzentrations- und Vernichtungslagern Auschwitz/Auschwitz-Birkenau, Kulmhof (Chełmno) und Majdanek ermordet. Die jüdische Bevölkerung in den mit Nazi-Deutschland alliierten Satellitenstaaten Slowakei, Rumänien und Ungarn fiel später ebenfalls der systematischen Verfolgung zum Opfer – im Fall Ungarns nach der Besetzung durch die Wehrmacht (18. März 1944) im Verlauf nur weniger Wochen.

Einer Minderheit der jüdischen Bevölkerung im östlichen Europa gelang das Überleben von Kriegsgeschehen und Völkermord durch Flucht, Verstecken oder das Annehmen einer nicht-jüdischen Identität. In fast allen Fällen war dies nur durch aktive und wissentliche Hilfe nicht-jüdischer Mitmenschen möglich, die nach aufwendigen Prüfverfahren der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem als sog. ‚Gerechte unter den Völkern‘ anerkannt und gewürdigt werden.

Die Beteiligung von Angehörigen der ansässigen nicht-jüdischen Bevölkerung an der Verfolgung und Ermordung der Juden im östlichen Europa durch Nazi-Deutschland unterschied sich erheblich nach Ort, Kontext und Umfang. Ihre Aufarbeitung erfolgte in teils langwierigen und leidenschaftlich geführten öffentlichen Kontroversen, dauert bis heute an und steht in einigen Fällen noch aus (s. historische Kontroversen).

Vom Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart

Nach dem Ende der Kampfhandlungen lebte im östlichen Europa nur noch ein Bruchteil der jüdischen Vorkriegsbevölkerung (Polen: ca. 45.000; Litauen: ca. 10.000; Tschechoslowakei: ca. 17.000; Ungarn: ca. 155.000; Rumänien: ca. 280.000; Sowjetunion: ca. 2 Mio.). Auf dem Gebiet der Sowjetunion überlebten mehrere hunderttausend Juden, die sich dem Zugriff Nazi-Deutschlands und seiner Verbündeten hatten entziehen können und nun in ihre Heimatstädte, nach Westeuropa, Palästina oder in die Vereinigten Staaten zu gelangen versuchten. Eine geringe Zahl von osteuropäischen Juden hatte auch auf dem Gebiet des Deutschen Reiches oder anderer europäischer Länder mit falschen Identitäten, in Zwangsarbeit oder Gefangenschaft überlebt. Mehrere hunderttausend jüdische Überlebende verbrachten die unmittelbare Nachkriegszeit als ‚displaced persons‘ in von den Alliierten auf deutschem und österreichischem Gebiet eingerichteten Lagern und wurden insbesondere durch das nordamerikanische Joint Distribution Committee (JDC, kurz Joint) betreut.

Die durch Völkermord und Abwanderung nach Kriegsende dramatisch reduzierte Zahl jüdischer Menschen im östlichen Europa sank im Verlauf der Nachkriegsjahrzehnte durch Abwanderung und Exogamie weiter. In Polen, Litauen, der Tschechoslowakei und in Rumänien identifizierten sich jeweils nur noch einige tausend Personen als Juden. Lediglich in Ungarn (vor allem in Budapest) lebten auch noch am Ende der kommunistischen Herrschaft etwa 100.000 Personen, die sich häufig qua Herkunft als jüdisch begriffen, sich aber weitgehend mit ungarischer Kultur und Sprache identifizierten. Nach 1989/90 nahm die Sichtbarkeit jüdischer Einrichtungen erheblich zu. Sie wurde (auch in der internationalen Wahrnehmung) als Gradmesser des demokratischen Wandels gewertet. Dies ging jedoch nicht mit einer Umkehrung des negativen demographischen Verlaufs einher. Die systematische Einwanderungspolitik Israels und die Attraktivität einer Auswanderung nach Westeuropa oder Nordamerika führten insbesondere in den Territorien der ehemaligen Sowjetunion zu einer viele hunderttausend Personen umfassenden Abwanderung.

Gemeindliche Verfassung, rechtlicher Status, politische Formationen

Seit Mitte des 13. Jahrhunderts luden verschiedene landesherrliche und königliche Schutzbriefe (Privilegien) Mitglieder jüdischer Gemeinden, die in deutschen Ländern bestanden, in ostmitteleuropäische Gebiete ein (1244: Privileg Friedrichs II. für österreichische Gebiete; 1254/56: Privileg Přemysl Ottokars II. für böhmische und mährische; 1264: Privileg Bolesławs VI. für polnische; 1388: Privileg des Vytautas für litauische Gebiete). Die Privilegien zeichneten sich durch umfassende Schutzversprechen (vor Gewalt wie auch vor Verleumdungen wie dem Ritualmordvorwurf), Freizügigkeit im Bereich der Erwerbstätigkeit und die Gewährung einer weitreichenden internen Selbstbestimmung auf Grundlage jüdischer, religiös gebundener Rechtstraditionen (hebr. halacha) sowie der Unabhängigkeit von lokaler, nichtjüdischer Rechtsprechung aus. Über die Lokationsprivilegien hinaus gewährte die Krone Generalprivilegien. Letztere legten das Recht jüdischer Gemeinden fest, eine eigene Führung zu bestimmen, Rabbiner zu berufen und Bildungseinrichtungen zu gründen (etwa jeschiwot, d. h. Talmudschulen).

Die Ausgestaltung der Gemeindesatzungen (hebr. takanot) ging auf deutsch-jüdische Vorbilder aus der Periode nach den Verheerungen der Kreuzzüge zurück, als auf einer Folge von Synoden die sog. takanot schum formuliert wurden (die Abkürzung ging auf die Anfangsbuchstaben der angesehensten jüdischen Gemeinden im Rheinland zurück – Speyer, Worms und Mainz). Sie sahen die Zusammenarbeit der religiösen und politischen Führung vor und schufen eine stabile Funktionselite. Hierbei standen religiöse und politische Führung sowohl in einem Abhängigkeits- wie auch in einem Konkurrenzverhältnis. Die politische Führung wurde in zeitgenössischen jüdischen Dokumenten als raschei medina, also als ‚Führer des Landes‘ bezeichnet, die führenden religiösen Autoritäten als raschei jeschiwot, also als Leiter der Talmudschulen.

Aus jüdischer Perspektive stellte die einzelne jüdische Gemeinde eine gesonderte religiöse, politische und rechtliche Einheit dar, eine geheiligte Gemeinschaft (hebr. kehila k’doscha), die auf einen religiös verfassten Gründungsakt zurückging. Aufgrund dieses Status war sie sowohl rechts- und vertragsfähig als auch autonom, wobei die Durchsetzungsmöglichkeit dieser rechtlichen Autonomie von den politischen und materiellen Möglichkeiten der jeweiligen Gemeinde abhängig war.

Die einzelnen Gemeinden wurden durch einen ehrenamtlich und treuhänderisch agierenden Vorstand (hebr. kahal) geführt, der in einem jährlich (meist zum Pessach-Fest) stattfindenden Verfahren neu bestimmt wurde. Hierbei handelte es sich meist um einen Aushandlungsprozess unter den führenden Familien der jeweiligen Gemeinde, die die zu vergebenden Ehrenämter unter sich verteilten. Das Amt des Gemeindevorstehers (hebr. parnas) wurde üblicherweise auf vier Personen verteilt, die diese Aufgabe für jeweils drei Monate wahrnahmen, um mögliche Einkommenseinbußen zu mindern. Andere prominente Funktionen wurden gleichfalls ehrenamtlich wahrgenommen: Buchführer und -bewahrer (hebr. ne’eman), Schatzmeister (hebr. gabbai), Richter (hebr. dajan) und Steuerschätzer (hebr. schamai) sowie Aufseher einzelner Einrichtungen wie Schulen, wohltätiger Einrichtungen oder Gotteshäuser (hebr. gabbai oder memuniah) wie auch die Vorsteher von Handwerksvereinigungen. Diese und andere Vereinigungen (hebr. chewra, chewrot) stellten ein wichtiges Element der gemeindlichen Struktur dar, deren Ausgestaltung sich von Gemeinde zu Gemeinde unterschied. Die Chewrot waren im Kern religiös motiviert, erfüllten jedoch unterhalb der Ebene der Gemeindeführung wichtige wohltätige, geselligkeits-, berufs- oder bildungsbezogene Funktionen.

Jede Gemeinde hatte darüber hinaus eine Reihe bezahlter Beamter, die an die Weisungen des Vorstands gebunden waren. Dies waren an prominenter Stelle die Rabbiner, deren Hauptaufgabe die Befolgung und Implementierung jüdischen Rechts war und die den Vorsitz in den örtlichen jüdischen Gerichten (hebr. bet din) hatten. Große Gemeinden wiesen mehrere Spruchkammern auf. Der Vorsitzende der höchsten Appellationsinstanz einer größeren Gemeinde (hebr. aw bet din) galt als Oberrabbiner. Rabbiner wurden durch den Gemeindevorstand meist für einen Zeitraum von drei Jahren berufen und von diesem bezahlt. Das bescheidene Grundgehalt wurde durch steuerliche Vergünstigungen, Gerichtsgebühren und Entgelte für rituelle Verrichtungen (Verlobungs- und Eheverträge, Vermählungen) ergänzt. Die unmittelbare materielle Abhängigkeit des Rabbiners von den lokalen Eliten legte gerade bei Streitfällen unter Juden eine Anrufung der nichtjüdischen Gerichtsbarkeit nahe. Weitere bezahlte Funktionsträger waren Schreiber, Vorbeter und Kantoren, Ärzte, Hebammen, Synagogendiener und Wachen. Größere Gemeinden bezahlten auch einen Fürsprecher (hebr. schtadlan, lat. syndikus, poln. syndyk) für seine Dienste, die darin bestanden, die Interessen der Gemeinde bei der Landesherrschaft oder anderen Obrigkeitsinstanzen zu vertreten.

In jenen Regionen Ostmitteleuropas, in denen die Vielzahl jüdischer Gemeinden die Erlegung und Eintreibung von Fiskalsteuern erschwerte, entstanden landesweite Vertretungen oder Räte (hebr. wa’ad, wa’adim). Dies war der Fall in Mähren (hebr. wa’ad medinat mehrin), in den polnischen Kronländern (der sog. Vierländerrat oder wa’ad arba arazot) und in Litauen (wa’ad medinat lite). Darüber hinaus stellten diese Räte wichtige Kommunikationsarenen dar und stärkten die überregionale Kohäsion. Auch vertraten sie ad hoc jüdische Interessen gegenüber der Obrigkeit und erfüllten somit Aufgaben, die über die von staatlicher Seite definierte Verantwortung der Steuererlegung hinausgingen. Die Delegierten des Vierländerrats trafen sich in der Regel zweimal jährlich am Rande der großen Jahrmärkte von Lublin und Jarosław. In Mähren kodifizierte der Wa’ad Mehrin unter Führung des Landesrabbiners Menachem Mendel Krochmal (1600–1661) seine Erlasse in Form eines Statuts, das 1754 als General-Policey-Process- Und Commercial-Ordnung, Für die Judenschaft In dem Marggrafthum Mähren übersetzt und ein wesentlicher Bestandteil der mährischen Judengesetzgebung unter den Habsburgern wurde.

Seit Mitte des 18. Jahrhunderts fielen die jüdischen Vertretungsorgane auf Provinz- und Staatsebene und nach den Teilungen Polens auch die Autonomie der einzelnen Gemeinde den Bemühungen zur Modernisierung der Staatsverwaltung zum Opfer. Die Einführung einer Besteuerung der individuellen jüdischen Haushalte im Jahr 1764 machte Beratungen des Vierländerrats überflüssig, das Gremium wurde abgeschafft. Mit einer Judenordnung unternahm Kaiserin Maria Theresia (1717–1780) 1776 nach der ersten Teilung Polens den ersten Versuch, die autonome Gemeindeführung unmittelbar staatlicher Kontrolle zu unterstellen. Weitere Versuche machten 1789 Kaiser Joseph II. (1741–1790) mit der Ausweitung des österreichischen Toleranzedikts von 1782 auf Galizien und 1797 die preußische Regierung mit dem General-Juden-Reglement für Süd- und Neuostpreußen für die polnischen Provinzen unter ihrer Kontrolle. Nach der endgültigen Niederlage Napoleons 1815 wurde zunächst 1817 in der Freien Stadt Krakau, dann 1822 im unter russischer Kontrolle stehenden Königreich Polen und 1844 im Russischen Reich der kahal als autonome Gemeindeführung abgeschafft.

Der Ein- und Unterordnung der vormals autonomen jüdischen Gemeinden entsprach eine Integration jüdischer Untertanen in das jeweilige Rechtsgefüge der Teilungsmächte. In der preußischen Provinz Posen erfolgte dies 1833 zunächst durch die Ausweitung der Gesetzgebung von 1812 auf die vormals polnischen Provinzen (Vorläufige Verordnung wegen des Judenwesens), die bei Erfüllung einer Reihe von Bedingungen – Besitz, Familienname, Schulbildung der Kinder, Gebrauch des Deutschen – eine Naturalisierung in Aussicht stellte. Nach Gründung des Deutschen Reiches 1871 erfolgte die umfassende Gleichstellung aller Reichsbürger jüdischer Gemeindezugehörigkeit. Auch das Habsburger Reich bemühte sich, jüdische Untertanen durch Steuern und andere staatliche Maßnahmen (staatliche Schulen für jüdische Kinder, Prüfung kultureller Konformität vor der Eheschließung) auch kulturell zu integrieren. Eine rechtliche Gleichstellung erfolgte mit der Verfassung von 1867. Im Russischen Reich wurde das Ziel einer kulturellen und administrativen Integration der jüdischen Bevölkerung durch eine Zuordnung zum Stand der Stadtbürger (russ. meščane), durch Schulgründungen und die Einbeziehung der jüdischen Bevölkerung in den Militärdienst (seit 1827, die sog. rekručina) verfolgt. Diese Maßnahmen wurden durch Ansiedlungs- und Freizügigkeitsbeschränkungen (ein die früheren polnischen Provinzen umfassender sog. Ansiedlungsrayon wurde 1804 eingerichtet) und teilweise unmenschliche Zwangsmaßnahmen ergänzt, wie z. B. Umsiedlungen aus dem ländlichen Raum. Eine umfassende Emanzipation erfolgte in Russland erst nach der Februarrevolution von 1917 und dem Ende der zaristischen Herrschaft. Im 1815 gegründeten Königreich Polen, das über eine Personalunion mit dem Russischen Reich regiert wurde, erfolgte im Jahr 1862 eine erhebliche Verbesserung des Rechtsstatus. Hinter dieser weitgehenden rechtlichen Gleichstellung stand die Absicht, die jüdische Bevölkerung von der im Jahr 1861 gefeierten sog. ‚Verbrüderung‘ mit ihren irredenten katholischen Nachbarn abzubringen.

Wesentlicher Faktor in den Auseinandersetzungen um den rechtlichen und politischen Status der jüdischen Gemeinschaften im östlichen Europa war die Entstehung kritischer (nichtjüdischer wie jüdischer) Öffentlichkeiten. Entsprechende Diskussionen wurden seit Mitte des 19. Jahrhunderts insbesondere in der entstehenden jüdischen Presse geführt, die in den Landessprachen, aber auch in hebräischer und jiddischer Sprache publiziert wurde. Diese Presseorgane trugen auch wesentlich zur Entstehung einer spezifisch jüdischen, international vernetzten und politisch ausdifferenzierten Öffentlichkeit bei.

Nach der Pogromwelle in Russland (1881/82) nahm die jüdische Nationalbewegung ihren ersten – noch relativ kurzlebigen – Aufschwung als sog. Zionsliebhaber (hebr. Chowewe Zion). Ihre Anhänger schlossen sich später der von Theodor Herzl (1860–1904) inspirierten zionistischen Bewegung an (1. Zionistischer Weltkongress 1897 in Basel). Zielsetzungen und Mobilisierungsgrad in den west- und osteuropäischen zionistischen Strömungen unterschieden sich phasenweise erheblich. Parallel entstand eine spezifisch jüdische Sozialdemokratie, die erfolgreich unter proletarisierten jüdischen Handwerkern und Tagelöhnern agitierte (1897 Gründung des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbunds, kurz Bund, in Wilna/Vilnius/Wilno). Im gesamten ost- und ostmitteleuropäischen Raum entstand seit den 1880er Jahren eine Vielzahl jüdischer politischer Parteien. Sie spiegelten eine politisch, sprachlich und lebensweltlich distinkte jüdische Öffentlichkeit und einen – im Vergleich zur Situation in westeuropäischen oder in deutschen Ländern – wesentlich geringeren Integrationsgrad der jüdischen Minderheit wider. Eine Ausnahme bildeten hier sozialdemokratische und -revolutionäre Parteien, in denen Juden und Jüdinnen – nicht zuletzt aufgrund einer spezifischen Erfahrung von Marginalisierung und Ausschluss – im gesamten östlichen Europa prominent vertreten waren.

Die Neuordnung Ostmitteleuropas nach dem Ersten Weltkrieg erfolgte unter Prämissen, die erhebliche Spannungen mit sich brachten. Dem Prinzip des Selbstbestimmungsrechts jener Völker, die sich gegen die imperiale Fremdherrschaft zur Wehr gesetzt hatten, stand das Ziel entgegen, die Interessen der zahlreichen nationalen Minderheiten, die nun auf dem Gebiet neugegründeter Nationalstaaten lebten, zu schützen (Minderheitenschutzverträge). Die Situation der jüdischen Minderheit verschlechterte sich zusätzlich durch militärische Konfrontationen (1918–1921 polnisch-sowjetischer Krieg, 1918/19 ukrainisch-polnischer Konflikt), Revolution und Bürgerkrieg (1917 im ehemaligen Russischen Reich, 1919 in Ungarn). Die Tschechoslowakische Republik (ČSR) führte die noch zu Habsburger Zeiten eingeführte umfassende Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung fort und räumte jüdischen Bürgern und Bürgerinnen das häufig in Anspruch genommene Recht ein, sich zur jüdischen Nationalität zu bekennen.

Die in den Pariser Vorortverträgen definierten Schutzklauseln für nationale Minderheiten waren Voraussetzung für die Anerkennung der nach 1918 gegründeten Nationalstaaten und für die jüdischen Minderheiten insbesondere in Litauen, Polen, Ungarn und Rumänien von erheblicher Bedeutung. Die Klauseln wurden weithin, insbesondere jedoch von nationalistisch-konservativen Strömungen, als nicht hinnehmbares Diktat begriffen. Sie sicherten einerseits eine politische und kulturelle Entfaltung nationaler Minderheiten, stellten in den betroffenen Staaten aber auch eine erhebliche innenpolitische Hypothek dar. In Ungarn wurde 1920 mit dem sog. Numerus-Clausus-Gesetz Juden der Zugang zu Hochschulen erschwert. In Litauen wurden die Schutzklauseln 1926 wieder ausgesetzt. In Polen bemühten sich nach dem Tod Marschall Józef Piłsudskis (1867–1935) konservative und reaktionäre Parteien, die jüdische Minderheit unter Druck zu setzen, so etwa durch eine Einschränkung der Schächtung und den Zwang zur Einhaltung der Sonntagsruhe.

Unmittelbar nach Ende der Kampfhandlungen 1944/45 und der Katastrophe des Völkermords stellte sich überlebenden Juden zunächst die Frage, ob ein Verbleib in der früheren Heimat denkbar oder erstrebenswert war. Die Errichtung von Einparteienherrschaften unter sowjetischer Kontrolle ging mit massiven Beschränkungen gemeindlicher und politischer Selbstorganisation in allen Bereichen gesellschaftlichen Lebens einher, so auch für jüdische Gemeinden, Parteien und andere Einrichtungen. Schauprozesse auch gegen jüdische Führungsfiguren in den von der Sowjetunion abhängigen kommunistischen und Arbeiterparteien (so 1949–1954 in Ungarn, 1952 der Slánský-Prozess in der ČSR, 1954 in Rumänien) demonstrierten den institutionalisierten Antisemitismus der letzten Jahre der Herrschaft Josef Stalins. Typischerweise wurden jüdische gemeindliche und religiöse Einrichtungen entweder abgeschafft oder unter die Aufsicht säkularer, durch die staatlichen Instanzen genau kontrollierter Vertretungsorgane (jüdische Kulturvereine) gestellt. Diese Vereine dienten auch als Verhandlungspartner internationaler Hilfsorganisationen (etwa des Joint Distribution Committee), die sich um eine minimale Versorgung einer durch Emigration, Desinteresse und Überalterung schrumpfenden jüdischen Gemeinschaft bemühten. In Polen kam es 1968 zu der letzten umfassenden, antijüdisch motivierten politischen Mobilisierung. Unter dem Vorwand, politische Agitation unter Studierenden unter Kontrolle bringen zu wollen, unter denen Kinder führender jüdischer Parteifunktionäre eine prominente Rolle spielten, verloren tausende jüdischer Polen öffentliche Ämter, Arbeitsstellen und – im Zuge ihrer erzwungenen Ausreise – ihre Staatsangehörigkeit. Etwa 15.000 Juden verließen 1968 Polen und ließen sich in Westeuropa, den USA oder Israel nieder.

Observanz, Varianz, Devianz: Religiöse Kultur und Mobilisierung

Mittelalter und frühe Neuzeit

Die jüdische Bevölkerung im östlichen Europa blieb bis zum 19. Jahrhundert in ihrer großen Mehrheit den religiösen Traditionen des aschkenasischen Judentums verbunden. Dies bedeutete vor allem eine Abgrenzung von der sephardisch-jüdischen Kultur, die sich bis zur Austreibung von 1492–1496 auf der iberischen Halbinsel entfaltet hatte und im Anschluss im gesamten mediterranen Raum Verbreitung fand. Ostmitteleuropäische jüdische Kommentatoren erkannten die Autorität sowohl mittelalterlicher französischer (insbesondere Raschi, 1040–1105) als auch deutscher Kommentatoren an. Die Ausprägung gesonderter Gottesdienstordnungen und Gebetsfolgen im östlichen Europa wurde als nuseh poyln (polnische Art) bezeichnet. Ein augenfälliger Unterschied war der Standort der bima, des Thora-Lesepults, die sich in Synagogen in deutschen Ländern an der Ostwand, im östlichen Europa hingegen häufig in der Raummitte befand. Diese Unterschiede waren jedoch religionsrechtlich nur von sekundärer Bedeutung.

Aufgrund der nachhaltigen Schwächung der jüdischen Gemeinden in den deutschen Ländern verschob sich das Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit im 16. und 17. Jahrhundert nach Ostmitteleuropa. Die Grundlagen dieser Gelehrsamkeit wurden in den als jeschiwot bekannten Schulen vermittelt, in denen auf elementare Kenntnisse des Hebräischen, liturgischer Texte und des Talmud, die Eltern, Privatlehrer und Grundschulen (hebr. cheder) vermittelten, aufgebaut wurde. Junge Mädchen wurden nur in Ausnahmefällen im cheder unterrichtet und jeschiwot waren ausschließlich männlichen Lernenden vorbehalten. Sie konnten sowohl von Gemeinderabbinern als auch von unabhängigen Gelehrten geleitet werden, zu deren internationalem Ansehen diese Rolle beitrug. Neben ihnen spielten gemeindlich oder privat getragene Studienhäuser (hebr. bet midrasch) eine herausragende Rolle in der Vertiefung und Reflektion religiösen Wissens. In der Klage Jawen Mezulah (Abgrund der Verzweiflung) des Natan Hanover (gest. 1683) über die Verheerungen des Chmielnicki-Aufstandes findet sich eine idealtypische Schilderung jüdischer Gelehrsamkeit, die den Stolz auf den sich im östlichen Europa entfaltenden Bildungsethos zum Ausdruck bringt.

Zu den weithin ausstrahlenden Zentren jüdischer Gelehrsamkeit zählten seit dem 16. Jahrhundert insbesondere Prag und Krakau. In Krakau entwickelte der Rabbiner Jakub Pollak (1460–1541) eine mit These, Antithese und Synthese operierende Methode der Interpretation von Talmud und Mischna (den späteren rabbinischen Interpretationen des Talmuds). Ihr Anspruch einer umfassenden Berücksichtigung des halachischen Schrifttums führte später in aufklärungsaffinen Kreisen zu einer negativen Bewertung und Diffamierung als pilpul (hebr.: Pfeffer). Gleichfalls in Krakau erarbeitete der Rabbiner und Gelehrte Moses Isserles (ca. 1520–1572) Ergänzungen zu der von dem sephardischen Gelehrten Joseph Karo im sog. Schulchan aruch (hebr., wörtlich: der gedeckte Tisch) vorgelegten Zusammenfassung talmudischen Rechts, welche die für das aschkenasische Judentum verbindlichen, abweichenden Bestimmungen erläuterten. Der Schulchan aruch wurde binnen kurzer Frist zum – auch heute noch autoritativen – Rechtskodex des observanten Judentums.

Der in Prag, Nikolsburg/Mikulov und Posen als Rabbiner wirkende Jehuda Leib ben Bezalel (gest. 1609, auch bekannt unter dem Akronym Maharal oder als Rabbi Löw) prägte mit seiner auf systematischem Schriftstudium beruhenden, den pilpul wie auch esoterische Interpretationen der jüdischen Tradition einbeziehenden Auslegung für viele Generationen die rabbinisch-talmudische Gelehrsamkeit. Sie lehnte die Integration nicht-jüdischen Wissens explizit ab. Die verbreitete Legende von der Erschaffung eines Golems, einer aus Lehm geformten und zum Leben erweckten anthropomorphen Figur, durch den Maharal entbehrt dagegen jeglicher historischer Grundlage.

Wie im übrigen Europa spielte auch im östlichen Europa eine esoterische Auslegung der talmudisch-rabbinischen Texttradition (hebr. kabalah) in der Herausbildung einer jüdischen Bildungselite wie auch in der Dynamik religionskultureller Diversifizierung eine zentrale Rolle. Sie beruht auf der Annahme und Interpretation einer über die literale Wort- und Textbedeutung hinausreichenden Bedeutungsebene. Da jedem Buchstaben der hebräischen Sprache ein Zahlenwert entspricht, konnten über den Zahlenwert von Begriffen oder Wortfolgen – und umgekehrt über den eventuellen wörtlichen Sinngehalt von quantitativen Angaben – Rückschlüsse auf zusätzliche Sinnebenen gezogen werden, eine Interpretationstechnik, die als gematria bezeichnet wird. Der nahezu unbegrenzte Bestand an Textmaterial (von der hebräischen Bibel über den Talmud bis zu liturgischen Texten wie Gebeten) erlaubte dementsprechend eine esoterische Deutung, welche die unmittelbar rechts- und traditionsbezogene Auslegung hinter sich ließ.

Esoterische Bezüge spielten bei der Entstehung der messianischen Bewegungen des Sabbatai Zevi und seines selbsterklärten Nachfolgers Jakob Frank eine entscheidende Rolle. Beim Sabbatianismus handelte es sich um eine messianische Bewegung, die 1665 in Jerusalem ihren Ausgang nahm und die gesamte europäisch-jüdische Diaspora in Euphorie versetzte. Wesentliche Merkmale waren gegen das Religionsgesetz verstoßende Rituale und die Integration von Frauen in die Religionspraxis. Nach der erzwungenen Konversion Sabbatai Zevis zum Islam im Jahr 1667 fiel die messianische Mobilisierung weitgehend in sich zusammen. Jüdische Gemeinden verfolgten seine Anhänger, die in ihm weiterhin den Messias erkannten und ihm in konspirativen Netzwerken huldigten. Solche Netzwerke existierten in ganz Europa. Mitte des 18. Jahrhunderts forderten die sog. Kontra-Talmudisten – sie wurden später nach ihrem spirituellen Führer Frankisten genannt – nach dem Vorbild der Sabbatäer das jüdische Religionsgesetz heraus. Sie bildeten in Ostmitteleuropa eine Gemeinschaft von formal zum Christentum konvertierten Krypto-Juden mit Zentren in Prag und Warschau.

Von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum 20. Jahrhundert

Auch der seit der Wende zum 19. Jahrhundert zu großem Einfluss gelangende Chassidismus (hebr. chasid – fromm, rechtgläubig) ist in der extremen Fixierung der verschiedenen chassidischen Gemeinschaften auf ihren jeweiligen Führer – den zadik (hebr. der Gerechte) oder rebbe – kaum ohne die Erlösungshoffnung des Sabbatianismus denkbar. Begründet durch den als Heiler (hebr. ba’al schem) und Gelehrten bekannten Israel ben Eliezer (ca. 1699–1760) gestalteten chassidische Gemeinschaften den religiösen Alltag neu und setzten sich von der traditionellen, rabbinisch-talmudischen Lokalgemeinde ab. Sie stellten das gemeinschaftliche Gebet in den Vordergrund, während das Schriftstudium in den Hintergrund trat. Der physischen Nähe zur Residenz eines Führers einzelner chassidischer Gemeinschaften kam große spirituelle Bedeutung zu, ihre Mitglieder pilgerten insbesondere zu den hohen Feiertagen von ihrem Wohnort zum Hof des zadik. Dieser wurde in vielen Fällen als Wundertäter verehrt. Die Anhänger der rabbinisch-talmudischen Tradition und jene des Chassidismus befanden sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in unmittelbarer Konkurrenz zueinander. Im Jahr 1772 wurde die neue Bewegung durch Elijah ben Solomon Salman (1720–1797), den Gaon (Weisen) von Wilna, mit einem Bann belegt und das Vordringen chassidischer Gemeinschaften in litauischen Provinzen nachhaltig verlangsamt. Aber schon Chaim ben Isaak von Woloschin (1749–1821), sein Schüler und Nachfolger als führende religiöse Autorität der Region, hob diesen Bann 1802 auf und bemühte sich, das rabbinisch-talmudische Judentum – dessen Anhänger nun in ihrer Gegnerschaft zum Chassidismus als ‚Widersteher‘ (hebr. misnagdim) definiert wurden – durch eine Revision von Unterrichtsmethoden in den jeschiwot zu stärken.

Die preußisch-jüdische Aufklärung (oder Haskalah) wurde von osteuropäisch-jüdischen Gelehrten aufmerksam verfolgt, jedoch überwiegend als deviante Häresie und ‚Epikuräertum‘ verworfen, ungeachtet des Umstands, dass unter ihren Anhängern eine Reihe von Juden aus dem östlichen Europa waren. Für diese aus osteuropäisch-jüdischen Kontexten stammenden Gelehrten waren Aufenthalte im westlichen Ausland und in den Zentren der europäisch- und deutsch-jüdischen Aufklärung von großer Bedeutung, also etwa in Königsberg/Kaliningrad, Berlin, Breslau, Amsterdam und Paris. Zu nennen wären z. B. der aus dem heutigen Belarus stammende Salomon Dubno (1738–1813), der zusammen mit Moses Mendelssohn (1729–1786) eine Übertragung der hebräischen Bibel in die deutsche Sprache und einen neuen Bibelkommentar (hebr. bi’ur) besorgte, der aus Lublin stammende Zalkind Hourwitz (1751–1812), der königlicher Bibliothekar in Paris war, in einer weit verbreiteten Abhandlung die rechtliche Gleichstellung der Juden verlangte und stark in die revolutionären Ereignisse von 1789 involviert war, oder Salomon Majmon (ca. 1753–1800), ein Philosoph aus dem Umkreis von Immanuel Kant (1724–1804) und Autor einer einflussreichen Autobiographie eines jüdischen Aufklärers. Das 1854 von Zacharias Frankel (1817–1875) in Breslau gegründete Jüdisch-Theologische Seminar strahlte als Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit ins östliche Europa aus und wies eine beträchtliche Zahl ostmitteleuropäisch-jüdischer Studierender wie auch Lehrender auf. Seit seiner Gründung 1877 spielte das Rabbinerseminar in Budapest, das seine – allerdings deutlich reduzierte – Lehrtätigkeit auch unter kommunistischer Herrschaft fortsetzen konnte, eine wichtige Rolle in der Rabbinerausbildung im ostmitteleuropäischen Raum.

Aus den Prinzipien der Haskalah leiteten Gelehrte auch im östlichen Europa die Notwendigkeit einer Reform von Ritus, Gemeinde, Erziehung und Rabbinat ab, wobei sich die Unterstützung für solche Forderungen in einer stark durch Observanz und kulturelle Absonderung geprägten Gemeinschaft in engen Grenzen hielt. Aufgrund des marginalen Status solcher Haltungen bildeten reform- und integrationsfreundliche Juden meist private Kongregationen. Reformorientierte Religionsgelehrte traten in den Dienst von Regierungen, die eine auf Integration und Akkulturation abzielende Agenda verfolgten. Die österreichische Regierung beauftragte 1787 Herz Homberg (1749–1841) als Anhänger einer forcierten Aufklärung unter den Juden mit der Einrichtung eines Netzwerks von jüdischen Schulen deutscher Sprache in Galizien, um Germanisierung und Integration unter den Juden in der Provinz zu befördern. Diese Schulen wurden jedoch wegen ihres mangelnden Erfolgs 1806 wieder geschlossen. Gleichfalls in obrigkeitlichem Auftrag verfasste Homberg den auf aufklärerischen Prinzipien beruhenden Katechismus Bne Zion, über den jüdische Eheleute vor ihrer Trauung eine Prüfung ablegen mussten. Der aus Tarnopol/Ternopil stammende Autor Josef Perl (1773–1839) verband seine Beratungstätigkeit für die österreichische und die russische Regierung mit der Leitung einer Schule und der Publikation einer Vielzahl anti-chassidischer Polemiken. Auch der Münchner Rabbiner Max Lilienthal (1815–1882) beriet seit 1841 die russische Regierung bei ihrem Vorhaben, ein russischsprachiges Schulsystem für jüdische Kinder einzurichten. Zahlreiche ‚gelehrte Juden‘ (russ. učënye evrei) waren in ähnlicher Funktion bei der Errichtung von Rabbinerseminaren und als Zensoren jüdischen Schrifttums für die russische Verwaltung tätig.

In Reaktion auf die stärkere Sichtbarkeit und den zunehmenden Einfluss von reform- und integrationsorientierten Bestrebungen in den jüdischen Gemeinden des östlichen Europas kam es zu einer kulturellen wie politischen Mobilisierung unter führenden Vertretern rabbinischer wie auch chassidischer Observanz. Erheblichen Einfluss hatte hierbei der in Preßburg/Bratislava/Pozsony wirkende Schriftgelehrte Moses Schreiber (1762–1839), auch bekannt als Hatam Sofer, der den Grundsatz prägte, dass jegliche Neuerung jüdischen Brauches eine verbotene Änderung sei („Jegliche Neuerung ist durch das Gesetz/die Bibel untersagt“, hebr. he-hadash asur min ha-torah). Diese Haltung schlug sich in einer zunehmenden Militanz observanter Politik nieder, die nichtjüdische politische Instanzen zur Durchsetzung der eigenen Ziele heranzog, wie dies auch reformorientierte Kräfte taten. Beispiele für eine solche politisierte Orthodoxie sind Elchanan Spektor (1817–1896) und Samuel Mohilever (1824–1898) im Russischen Reich, Akiva Schlesinger (1837–1922) in Ungarn oder die 1878 in Lemberg gegründete Wochenschrift Machsike ha-dat (hebr.: Die das Gesetz stärken). Diese politisch mobilisierte Orthodoxie vernetzte sich nach dem ungarischen Schisma von 1869 auch international und führte sowohl chassidische Führungspersönlichkeiten, Repräsentanten der deutschsprachigen Neo-Orthodoxie (etwa Ezriel Hildesheimer, 1820–1899) wie auch der ungarischen Ultra-Orthodoxie in einer politischen Allianz zusammen, aus der 1912 die – bis heute existierende – Agudas Israel hervorging. Zu ihren Gründern gehörte Me’ir Shapira (1887–1933), ein aus Galizien gebürtiger chassidischer Gelehrter, der 1924 den Grundstein der 1930 in Lublin eröffneten Jeschiwa Chochmei Lublin legte. 

In Russland folgten auf die Machtübernahme der Bolschewiken die systematische und umfassende Bekämpfung religiöser Observanz und so auch das Verbot jüdischer religiöser Einrichtungen, Ämter und Bewegungen. Die Repression führte etwa 1927 zur Verhaftung Joseph Issac Schneersohns (1880–1950), des Führers der Lubawitscher Chassiden (Chabad), der nach seiner durch internationale Proteste erwirkten Entlassung zunächst nach Riga/Rīga und 1931 nach Warschau emigrierte.

Große Bedeutung erlangte auch das 1925 in Berlin und Wilna gegründete YIVO (jidd. Idisches Wisnschaftleches Institut, Jüdisches Wissenschaftliches Institut), das sich gleichermaßen einem Volksbildungs- und territorialistischen Ethos verpflichtet fühlte. Seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im gesamten östlichen Europa und in Nordamerika widmeten sich historisch-philologischer, sozialwissenschaftlicher, ethnographischer und ökonomisch-statistischer Forschung speziell zur Geschichte und Kultur des osteuropäischen Judentums und des Jiddischen. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde die Niederlassung des YIVO in New York 1940 zum Hauptquartier dieses internationalen Forschungsnetzwerks und ist heute Teil des Center for Jewish History. Ein Teil der historischen Sammlungen des unter deutscher Besatzung zerstörten Instituts in Wilna überdauerte versteckt den Krieg und die sowjetische Periode und wird heute durch Digitalisierung wieder zugänglich gemacht.

Jüdisch-nichtjüdische Beziehungen

Die räumliche Kohabitation von Juden und Nichtjuden, die in vielen kleinen und größeren Städten des östlichen Europas selbstverständlich war, funktionierte im Wesentlichen aufgrund der Anerkennung einer sprachlichen, religiösen und rechtlichen Geschiedenheit, die sowohl von der Obrigkeit und der Kirche als auch von den jüdischen Gemeindeführungen gewünscht und aufrecht erhalten wurde. Dennoch kam es im Alltag zu einer Vielzahl von Begegnungen. Traditionelle Begegnungsräume waren der Markt, der Handel, die Schenke sowie das nachbarschaftliche Wohnen im Stadtraum. Im kleinstädtischen Raum lebten Juden und Nichtjuden in einer „ambiguous symbiosis“ (Rosa Lehmann). In recht klar definierten, alltäglichen und begrenzten Kontexten waren sie aufeinander angewiesen und bezogen. Über diese Kontexte hinaus waren Sozialkontakte jedoch ausgesprochen unüblich und wurden auch rechtlich bis ins 18. Jahrhundert auf beiden Seiten sanktioniert. Die sprachliche Scheidung, die sich erst durch die Schulpflicht in der Zwischenkriegszeit aufzulösen begann, trug hierzu erheblich bei, ungeachtet des Umstands, dass sowohl auf jüdischer als auch auf nichtjüdischer Seite die Sprache der jeweils anderen Seite bis zu einem gewissen Grad bekannt war. Wechselseitige stereotype Wahrnehmungen schlugen sich in literarischer Produktion und in der Presse, aber auch in Legenden, Sprichwörtern und Bräuchen nieder und stimulierten Abgrenzungsaffekte immer wieder neu.

Die Auflösung der ökonomischen Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden, die mit den Teilungen Polens einsetzte, gefährdete dieses Beziehungsgeflecht. Ein wesentlicher Faktor dabei war der Rückzug des Adels aus der Kooperation mit den Juden insbesondere im Pachtwesen. Wohl traten an die Stelle der ländlichen und kleinstädtischen Kohabitation mit ihren relativ klar umgrenzten Begegnungsräumen neue Formen städtischer Kohabitation. Die sich im urbanen Raum entfaltenden Beziehungen waren jedoch nur begrenzt durch definierte Formen sozialer und ökonomischer Interaktion bestimmt, weniger traditionsgebunden und sozial etabliert. Aus dem ‚Anderen‘ wurde der ‚Fremde‘.

Dieses Phänomen, das weder als Akkulturation noch als Entfremdung, sondern vielmehr als eine sich qualitativ verändernde Getrenntheit zu beschreiben wäre, verlief parallel und unabhängig von den Bemühungen der Teilungsmächte, die jüdische Minderheit in staatliche wie auch gesellschaftliche Strukturen zu integrieren. Unterschieden sich auch die in Anwendung gebrachten Mittel, so stand hinter diesem staatlichen Handeln immer die Erwartung einer sprachlichen, habituellen und weltanschaulichen Integration der jüdischen Gemeinschaft in die Umgebungsgesellschaft.

Diese Prozesse verliefen in den verschiedenen Teilungsbereichen unterschiedlich. Im Falle der Provinz Posen kann man insofern von einem Erfolg sprechen, als das Angebot, als preußischer Untertan naturalisiert zu werden, ausreichend Perspektiven für einen sozialen Aufstieg bot. Zudem untergrub die migrationsbedingte Auszehrung der jüdischen Gemeinden die Beharrungskräfte traditioneller jüdischer Kultur nachhaltig. Im russischen Teilungsbereich war es die Verbindung von Wehrdienst und staatlich beaufsichtigten jüdischen Schulen mit Russisch als Unterrichtssprache, die ein beträchtliches Kontingent russisch sozialisierter Juden hervorbrachte. Im österreichischen Teilungsbereich stellte sich die Situation insofern komplizierter dar, als die Attraktivität einer Integration in die deutschsprachige Imperialkultur seit dem sog. Ausgleich von 1867 (mit Autonomie der Reichsprovinzen) in Konkurrenz zu einem polnischsprachigen Verwaltungs- und Schulwesen stand. Der beachtliche Anteil jüdischer Freiwilliger in den Polnischen Legionen während des Ersten Weltkriegs zeigt, dass sich viele junge Juden mit dem Projekt eines polnischen Gemeinwesens identifizierten. Im Königreich Polen innerhalb des russischen Teilungsgebietes verfolgte nur eine Minderheit der politischen und gesellschaftlichen Führungsschichten eine aktive Integrationsstrategie. Eine Ausnahme von dieser Regel war die kurzlebige Phase der polnisch-jüdischen Verbrüderung im Kontext der patriotischen Mobilisierung im Vorfeld des Januaraufstandes von 1863. Diese folgte auf eine Welle antisemitischer Mobilisierung 1859, die als wojna żydowska (jüdischer Krieg) bekannt wurde und deren Ziel es war, gerade der Warschauer jüdischen Jugend die Grenzen ihrer Integrierbarkeit zu demonstrieren.

Diese sozialen Vorbehalte speisten sich aus unterschiedlichen Quellen, unter denen eine religiös motivierte Ablehnung von Juden als Andersgläubigen eine prominente Rolle spielte, was als Erklärung für die Virulenz exkludierender Tendenzen jedoch nicht ausreicht. Die soziale und kulturelle Ferne ließ die jüdische Bevölkerung als eine mit polnischer Gesellschaft, Kultur und Staatlichkeit inkompatible Gruppe plausibler erscheinen als etwa im deutschsprachigen Raum oder in Westeuropa. Hier war seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert eine partielle Integration von Juden in die ‚halbneutralen‘ (Jacob Katz) bürgerlichen und gebildeten Schichten erfolgt. Die Vorstellung der Inkompatibilität wurde zum Ende des 19. Jahrhunderts mit zunehmender Aggressivität durch nationalkonservative Parteien vertreten, in besonders prominenter Form von Roman Dmowski (1864–1939), dem Führer der polnischen Nationaldemokraten.

Judenfeindliche Positionen waren jedoch weit über die Grenzen dieser politischen Formation verbreitet und können für die Gesellschaften des geteilten Polens durchaus als kulturell hegemonial bezeichnet werden. So lässt sich auch die antijüdische Gewalt – ein seit der Welle antijüdischer Ausschreitungen im zaristischen Russland 1881/82 und dem sich an Weihnachten 1882 in Warschau ereignenden Pogrom an Aggressivität zunehmendes Phänomen – nicht auf antisemitische Agitation allein zurückführen. Erst in Verbindung mit einem unterschwelligen Ressentiment und der Vorstellung, dass ein gewalttätiger Angriff auf die jüdischen Nachbarn das aus dem Gleichgewicht geratene Verhältnis von Juden und Nichtjuden wieder ins Lot bringen könne, konnte die Gewalt im moralischen Universum der Täter legitimieren. Übereinstimmend haben jüngere Studien zu den Pogromen in Russland 1881/82, den litauischen Provinzen und in Galizien um 1900 gezeigt, dass diese Ausschreitungen eine quasi ‚korrigierende‘ Funktion haben sollten, was sich nicht zuletzt in der Erwartung niederschlug, dass nach den Exzessen wieder ‚normale‘ Verhältnisse eintreten würden.[7] Es besteht kein Zweifel, dass die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts eine erhebliche Brutalisierung mit sich brachten, für die das Pogrom von Kischinau/Chişinău/Kišinëv (1903) als Wegmarke hin zu mörderischer Gewalt steht. Es wurde durch hetzerische Presseberichterstattung vorbereitet, für die Pavel Krushevan verantwortlich zeichnete, der im gleichen Jahr als erster Herausgeber der in der Folge so einflussreichen Protokolle der Weisen von Zion hervortrat, einer Propagandaschrift, die ein jüdisches Streben nach Weltherrschaft behauptete.

Die nach dem Ersten Weltkrieg spürbare Polarisierung ostmitteleuropäischer Gesellschaften hatte erhebliche Bedeutung für die jüdisch-nichtjüdischen Beziehungen und schlug sich in gesetzgeberischen Maßnahmen (vgl. das bereits erwähnte Numerus-Clausus-Gesetz in Ungarn 1920) wie auch in politisch motivierter Gewalt nieder. So wurde Gabriel Narutowicz (1865–1922) nach seiner Wahl zum polnischen Staatspräsidenten als ‚Judenpräsident‘ verunglimpft und am 16. Dezember 1922 von einem radikalisierten Anhänger der Nationaldemokratischen Partei ermordet. Nationalistische und paramilitärische Milizen trugen in Litauen, Polen und Ungarn wesentlich zur Destabilisierung demokratischer Strukturen und zu antisemitischer Agitation bei. Nicht zuletzt aufgrund der umfassenden Beschulung jüdischer Kinder in landessprachlichen Bildungseinrichtungen intensivierte sich gleichzeitig die sprachliche Akkulturation, sofern diese nicht, wie etwa in Ungarn, ohnehin gegeben war. In den baltischen Staaten, der Tschechoslowakei und Polen wuchs erstmals eine überwiegend mehrheitssprachlich integrierte jüdische Generation heran – ein Prozess, der womöglich weitreichende Folgen gehabt hätte, jedoch durch Krieg und Völkermord abgebrochen wurde.

Haltungen, die einer jüdischen Präsenz skeptisch oder feindselig gegenüberstanden, überdauerten auch den Zweiten Weltkrieg und führten vielfach zu Gewaltakten gegen einzelne Juden und zu Pogromen (Krakau 1945, Kielce 1946). Weniger sichtbar in den Jahren sowjetischer Vorherrschaft, knüpften nationalistische Kräfte nach 1989 in ihrer ideologischen Ausrichtung an ihre Vorläufer an, konnten jedoch nicht mehr eine vergleichbare hegemoniale Position erlangen. Seit dem Ende der kommunistischen Vorherrschaft 1989–1991 ist die Zahl der in Ostmitteleuropa lebenden Juden vor allem durch Emigration weiter gesunken. Weiterhin existieren Vorurteile über ihre Geschichte und ihre Präsenz, die in bestimmten Kontexten auch politisch mobilisiert und genutzt werden – etwa in der Auseinandersetzung zwischen der Fidesz-Regierung in Ungarn und der Europäischen Union in der Frage der Flüchtlingshilfe ab 2015, als der zum Verteidiger unkontrollierter Einwanderung diffamierte Finanzier George Soros von staatlicher Seite mit antisemitischen Stereotypen angegriffen wurde. Gleichzeitig bemühen sich sozialdemokratische, bürgerliche und konservative Regierungen in ganz Ostmitteleuropa um gute Beziehungen zu Israel, offenbar nicht zuletzt, um sich auf diese Weise gegen den Vorwurf antijüdischer Vorbehalte zu immunisieren.

Erwerbstätigkeit: Von der Nische zum Statusverlust

Juden waren durch ostmitteleuropäische Landesherren zur Niederlassung aufgefordert worden, um spezifische ökonomische Funktionen zu übernehmen (s. o.). Übereinstimmend enthielten Judenprivilegien großzügige Regelungen für jüdische Erwerbstätigkeit, die nur wenigen Beschränkungen unterworfen war. Erwartet wurde, dass jüdische Geschäftsleute den Warenhandel beleben, das Steueraufkommen für den Fiskus erhöhen und als Kreditgeber den ökonomischen und politischen Spielraum der Landesherrschaft erweitern würden. Schon bald entwickelte sich eine enge wirtschaftliche Kooperation zwischen jüdischen Kaufleuten auf der einen und Adel und Aristokratie auf der anderen Seite, in der neben Handel und Kredit das Pachtwesen ein prominentes Betätigungsfeld jüdischer Unternehmer wurde. Für meist jährlich zu leistende Pauschalsummen pachteten sie landesherrliche Monopole wie etwa die Produktion alkoholischer Getränke, den Handel mit Salz oder Tabak sowie die Erhebung von Zöllen, Abgaben und Steuern.

Mit der Produktion und dem Absatz von Alkohol (Propination) war auch die Pacht von Schenken und Herbergen verbunden, die meist in den Händen von Juden lag – im 18. Jahrhundert lebte etwa die Hälfte der jüdischen Familien im ländlichen Raum von diesem Gewerbe. Jüdische Kaufleute und Händler prägten die Märkte und den Klein- und Hausierhandel in ganz Ostmitteleuropa. Auch Jüdinnen spielten hier als Kauffrauen eine sehr sichtbare Rolle, im Pachtwesen und als Unternehmerinnen dagegen lediglich als Witwen verstorbener jüdischer Unternehmer. Im Groß- und im internationalen Handel waren Juden je nach Branche unterschiedlich prominent vertreten. Im Vergleich zu Mittel- oder Westeuropa war ihr Anteil unter den Handwerkern wie auch der Anteil des Handwerks an der jüdischen Erwerbstätigkeit wesentlich größer, wovon nur ein kleiner Teil aus spezifisch jüdischen Tätigkeiten (wie etwa dem rituellen Schächten) bestand.

Nach den Teilungen Polens und dem mit ihnen verbundenen Statusverlust des Adels bemühten sich Grundbesitzer, jüdische Pächter aus ihrer angestammten Vermittlerrolle in der Gutswirtschaft zu verdrängen. Adlige Grundbesitzer bemühten sich in Galizien, im Königreich Polen wie auch im Russischen Reich, sich die Erträge aus der Propination anzueignen. Hiermit war auch der Versuch verbunden, die jüdischen Pächter für die negativen Folgen von exzessivem Alkoholvertrieb und -konsum verantwortlich zu machen. Außerhalb der Städte boten Handel oder Handwerk nur sehr eingeschränkt alternative Erwerbsmöglichkeiten. Die einsetzende Wanderungsbewegung in die Städte und wirtschaftlich dynamischere Regionen führte an den Zielorten schnell zu einem Überangebot menschlicher Arbeitskraft.

Ähnliche Konsequenzen hatten die durch Industrialisierung und Mechanisierung ausgelösten Umschichtungsprozesse und die im Vergleich geringere Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung im östlichen Europa. Der Verlust traditioneller Erwerbsmöglichkeiten führte zu einer Überbesetzung in einigen wenigen, geringe Qualifikationen und Investitionen erfordernden Handwerksberufen – z. B. Schneider oder Schuster – sowie im Kleinhandel und im Dienstleistungsbereich. In der Textil- und der Schwerindustrie, die sich in den Teilungsgebieten punktuell entwickelten, spielten Juden vereinzelt als Unternehmer und Investoren eine Rolle, jedoch nicht – mit nur wenigen Ausnahmen – als Arbeitskräfte. Es entstand zwar ein proletarisiertes jüdisches Handwerk, das vornehmlich der Textilindustrie zuarbeitete, vor allem aber bildete sich eine große Zahl unspezifisch qualifizierter Tagelöhner und Kleinhändler heraus, die ihren Lebensunterhalt nur mit größter Mühe zu bestreiten vermochten und stereotyp als ‚Luftmenschen‘ bezeichnet wurden. Die Ökonomin Sarah Rabinowitsch prägte für sie 1903 den Begriff ‚Unternehmerproletariat‘.[8] Immer mehr Juden gerieten in eine wirtschaftlich überaus prekäre Situation und wurden ‚klassenlos‘ (Eli Lederhendler), was ein entscheidender Faktor bei der Entscheidung für die Emigration nach Westeuropa und vor allem nach Übersee (s. o.) werden sollte.

3. Kontroversen und historische Debatten

Bis zum Zweiten Weltkrieg drehten sich historische Debatten um die jüdische Präsenz im östlichen Europa um Fragen der Seniorität (Gründe und Zeitpunkt der jüdischen Ansiedlung), der Legitimität (rechtlicher und politischer Status der jüdischen Minderheit in Ableitung aus ihrer lokalen Geschichte), der kulturellen und politischen Identität (Akkulturation und Integration, Identifizierung mit Titularnationen, jüdischer Nationalismus und Zionismus, jüdische Prominenz in sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien) und der Gestaltung der jüdisch-nichtjüdischen Beziehungen (jüdische Autonomie, Antisemitismus, Kohabitation).

Seit dem Zweiten Weltkrieg stehen Kontroversen im Kontext des Völkermords an den europäischen Juden im Zentrum nahezu aller historischen Debatten. Ein frühes Beispiel ist die Debatte um den Dokumentarfilm Shoah aus dem Jahr 1985 von Claude Lanzmann (1925–2018), der die Frage nach der Haltung der nichtjüdischen Nachbarn zum Leid der durch Nazi-Deutschland verfolgten Juden aufwarf. Zur selben Zeit wurden auch erste internationale Konferenzen zur polnisch-jüdischen Geschichte abgehalten (New York 1984, Oxford 1985), an denen jüdische wie nichtjüdische Historiker teilnahmen. Die Oxforder Konferenz führte zur Gründung des Jahrbuchs Polin. Studies in Polish Jewry, das als wissenschaftliches Forum auch für gegensätzliche historiographische Positionen Vorbildcharakter erlangen sollte.

Paradigmatischen Charakter für die historischen Kontroversen im Kontext des Holocaust hatte die im Jahr 2000 in polnischer und 2001 in englischer Sprache erschienene Studie Sąsiedzi (Nachbarn) von Jan Tomasz Gross über ein Massaker an der jüdischen Bevölkerung in dem Ort Jedwabne. Während der Autor zu dem Schluss kam, dass die Verantwortung für dieses Verbrechen im Wesentlichen bei der örtlichen nichtjüdischen Bevölkerung lag, wollten vor allem polnische Historiker die – bis dato nicht nachgewiesene – federführende Rolle der zum Zeitpunkt des Massakers vorrückenden Wehrmacht und SS-Einheiten nicht ausschließen. Vergleichbare Auseinandersetzungen fanden um die Auslieferung und Ermordung von Juden statt, die sich in Verstecken dem Zugriff der deutschen Besatzer entzogen hatten. Die Auseinandersetzung um diese sog. dritte Welle (poln. trzecia fala) der Verfolgung dauert bis heute an. Als alternatives Narrativ wurde vor allem durch das Instytut Pamięci Narodowej (IPN) das Konzept einer die Generationen überdauernden ‚guten Nachbarschaft‘ (poln. dobre sąsiedztwo) vertreten, in deren Rahmen sich nichtjüdische Mitbürger im Rahmen des Möglichen um den Schutz der verfolgten jüdischen Bevölkerung bemühten und – nicht bestreitbare – Fälle von Gewalt oder Kooperation mit den deutschen Besatzern die Ausnahme waren. Unmittelbar vergleichbar ist die Auseinandersetzung um die prominente Rolle von litauischen nationalistischen Milizen und Einzelpersonen in der Verfolgung und Ermordung der litauischen jüdischen Bevölkerung seit dem Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion im Jahr 1941. Weitere Kontroversen betreffen den Grad der Freiwilligkeit bei der Rekrutierung der örtlichen nichtjüdischen Bevölkerung für die Waffen-SS und deren Rolle in der Judenverfolgung, etwa in der Ukraine. Nach ähnlichem Muster verläuft die Debatte um die Bewertung der mit Hitler kooperierenden oder verbündeten Regime (Stalin 1939–1941, Horthy/Ungarn, Antonescu/Rumänien, Tiso/Slowakei). Besonders intensiv ist in dieser Hinsicht die Kontroverse um die Rolle der Kooperation des Horthy-Regimes mit Hitler-Deutschland und um die Durchführung des Völkermords an den ungarischen Juden nach der Besatzung Ungarns (18. März 1944).

4. Bibliographische Hinweise

Nachschlage- und Kartenwerke

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Periodika

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  • Kateřina Čapková, Hillel J. Kieval (Hg.): Zwischen Prag und Nikolsburg. Jüdisches Leben in den böhmischen Ländern. Göttingen 2020.
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Weblinks

Anmerkungen

[1] Moshe Rosman: Poland before 1795. In: YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe, Bd. 2. New Haven, Conn., 2008, S. 1883.

[2] Michael Silber: Hungary. In: YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe, Bd. 1, S. 771.

[3] Hillel Kieval: Bohemia and Moravia. In: YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe, Bd. 1, S. 205.

[4] Evyatar Friesel: Atlas of Modern Jewish History. Revised from the Hebrew Edition . Oxford, New York: Oxford University Press, 1990, S. 16–17.

[5] Mark Kupovetsky: Population and Migration before World War I. In: YIVO Encyclopedia on Jews in Eastern Europe, URL: yivoencyclopedia.org/article.aspx/Population_and_Migration/Population_and_Migration_before_World_War_I [Abruf 15.12.2019].

[6] Evyatar Friesel: Atlas of Modern Jewish History. Oxford 21990, S. 111.

[7] Mark Kupovetsky: Population and Migration before World War I. In: YIVO Encyclopedia on Jews in Eastern Europe, URL: yivoencyclopedia.org/article.aspx/Population_and_Migration/Population_and_Migration_before_World_War_I [Abruf 15.12.2019].

[8] Sara Rabinowitsch: Die Organisationen des Jüdischen Proletariats in Russland, Karlsruhe 1903 (zugl. Diss., Freiburg 1903) (Volkswirtschaftliche Abhandlungen der badischen Hochschulen 7. Erg.-Bd. 2), S. 34, 40.

Zitation

François Guesnet: Juden. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2020. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32724 (Stand 07.09.2020).

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