Czernowitz/Černivci/Cernăuţi
1. Toponymie
Deutsche Bezeichnung
Czernowitz
Amtliche Bezeichnung
ukr. Černivci
Anderssprachige Bezeichnungen
russ. Černovcy; rum. Cernăuţi; poln. Czerniowce, jidd. טשערנאָװיץ, hebr. צֶ׳רנוֹבִיץ
Etymologie
Die Herkunft des Stadtnamens ist nicht abschließend geklärt. Er geht möglicherweise auf das polnische czern (= Furt) zurück, da an dieser Stelle ein mittelalterlicher Handelsweg den Pruth querte. Andere Quellen leiten den Namen von dem slawischen Begriff černo (= schwarz) her und verstehen ihn als Hinweis auf die Färbung der Stadtmauern unter dem Fürstengeschlecht der Rurikiden.
2. Geographie
Lage
Czernowitz liegt im Süden der westlichen Ukraine auf 48o 18' nördlicher Breite, 25o 56' östlicher Länge, 248 m über NHN, ca. 40 km von der rumänischen und 60 km von der moldawischen Grenze entfernt.
Topographie
Die Stadt in der Nähe der ukrainischen Waldkarpaten liegt überwiegend rechtsseitig des Pruth, eines Nebenflusses der Donau.
Region
Staatliche und administrative Zugehörigkeit
Ukraine. Czernowitz ist Hauptstadt der Oblast' Czernowitz (Černivec'ka oblast') und Sitz der Gebietsverwaltung. Die Stadt ist heute in drei Bezirke aufgeteilt (Rajony Peršotravnevyj, Ševčenkivs'kyj und Sadhirs'kyj [dt. Sadagora]).
3. Geschichte und Kultur
Wappen
Das erste Stadtwappen erhielt Czernowitz 1784. In der österreichischen, der rumänischen, der sowjetischen und der ukrainischen Periode war es Wandlungsprozessen unterworfen. Heute orientiert es sich z. T. wieder am alt-österreichischen Wappen und zeigt ein mit sieben Zinnen besetztes silbernes Stadttor auf rotem Grund mit dem goldenen Dreizack als Symbol der Ukraine.
Gebräuchliche oder historische Beinamen
"Jerusalem am Pruth", "Klein-Wien", "jüdisches Eldorado Österreichs". Diese geographisch-ideellen Zuschreibungen sind zeitgenössische Prägungen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert.
Mittelalter
Czernowitz wurde urkundlich erstmals 1408 in einem Handelsfreibrief des moldauischen Fürsten Alexander des Guten (Alexandru cel Bun) als Zollstelle erwähnt. In einem Städteverzeichnis des ruthenischen Fürstentums Halyč aus dem 12. Jahrhundert ist ein Cern-Askyi (= Czernowitz?) am Pruth nachgewiesen. Im 15. Jahrhundert war der Ort ein Marktflecken im Einzugsgebiet des wichtigen Warenumschlagplatzes Suczawa/Suceava und wurde 1497 während des Kriegs zwischen Stefan dem Großen (Stefan cel Mare) und Polen niedergebrannt. Czernowitz war bis 1774 Teil des Fürstentums Moldau, das ab 1512 in Vasallenabhängigkeit zum osmanischen Reich stand.
Neuzeit
Nach dem Russisch-Türkischen Krieg von 1768–1774 wurden Czernowitz und die Bukowina durch eine österreichische Militäreinheit besetzt, wodurch eine Verbindung zwischen Nordsiebenbürgen und Galizien (1772 annektiert durch Joseph II.) hergestellt wurde. Nach Verhandlungen mit der osmanischen Seite gehörten Czernowitz und die Bukowina seit 1775 zur österreichischen Krone und wurden in das Kronland Galizien und Lodomerien integriert. Seit 1782 kam es zur Ansiedlung deutschsprachiger Kolonisten (Handwerker und Bauern) aus Südwestdeutschland, Böhmen, dem Banat und der Zips. Ihnen war eine langjährige Steuerfreiheit und Befreiung vom Militärdienst zugesichert worden. In Rosch/Roša bei Czernowitz – später Teil der Stadt – siedelten vornehmlich sogenannte "Schwaben", die aus Südwestdeutschland stammten und später das Bild der Czernowitzer Deutschen nachhaltig prägten. Ab 1789 erleichterte das Judenordnungspatent Josef II. Juden in Galizien und der Bukowina die Berufswahl und garantierte ihnen Pachtrechte, was eine verstärkte Ansiedlung aus verschiedenen Teilen der Habsburgermonarchie zur Folge hatte. Auch Juden aus Russland kamen ohne Aufruf in die Region.
Czernowitz erhielt 1832 die volle städtische Selbstverwaltung und wurde, nachdem der Bukowina die Regionalautonomie mit einer eigenen Landesregierung (ab 1854) und einem Landtag in Czernowitz (ab 1861) zugesprochen worden war, zur Landeshauptstadt des Kronlandes (bis 1918). Durch den Ausbau von Verwaltung und städtischer Infrastruktur zogen ab Mitte des 19. Jahrhunderts Beamte, Lehrer und Angehörige von freien Berufen in die Stadt, unter ihnen viele Juden, die sich mehrheitlich an der deutsch-österreichischen Kultur orientierten. Sie bildeten über viele Jahrzehnte hinweg den bedeutendsten kulturellen und wirtschaftlichen Faktor in der Stadt und sorgten mit einem dichten Netz an Wohltätigkeits- und Bildungsvereinen für eine außerordentliche zivilgesellschaftliche Entwicklung.
Zeitgeschichte
Czernowitz war bis 1914 eine wichtige Garnisonsstadt der Habsburgermonarchie mit mehreren k. k. Regimentern. Es wurde im Ersten Weltkrieg zwischen 1914 und 1917 dreimal von russischen Truppen besetzt (die längste Besatzungszeit dauerte vom 18. Juni 1916 bis zum 3. August 1917). In dieser Zeit kam es zu umfänglichen Fluchtbewegungen der Stadtbevölkerung in westliche Kronländer. Nach der Rückeroberung durch österreichische Truppen im August 1917 zogen am 11. November 1918 rumänische Einheiten in Czernowitz ein. In den Pariser Friedensverträgen von 1919 wurden die Bukowina und Czernowitz Rumänien zugesprochen. Die Zwischenkriegszeit war gekennzeichnet durch Rumänisierungsprozesse, was schließlich Ende der 1930er Jahre in die Aberkennung der rumänischen Staatsbürgerschaft für ein Drittel der jüdischen Stadtbewohner mündete. Obwohl im geheimen Zusatzprotokoll zum "Hitler-Stalin-Pakt" vom 23. August 1939 nur auf Bessarabien ein Anspruch erhoben worden war, forderte die sowjetische Regierung kurz vor Ablauf eines Ultimatums an Rumänien (26. Juni 1940) auch die Annexion der Bukowina. Am 28. Juni 1940 wurde die Nordbukowina inklusive Czernowitz von sowjetischen Einheiten besetzt. Der am 5. September 1940 unterzeichneten "Deutsch-sowjetrussischen Vereinbarung über die Umsiedlung der deutschstämmigen Bevölkerung aus den Gebieten von Bessarabien und der Nördlichen Bukowina in das Deutsche Reich" folgte zwischen dem 27. September und dem 17. November 1940 die fast vollständige Umsiedlung der deutschen Volksgruppe. Nach dem Überfall des Deutschen Reiches auf die Sowjetunion kam es in Czernowitz ab dem 6. Juli 1941 zu Verbrechen an der großen jüdischen Bevölkerungsgruppe, nachdem rumänische Einheiten und ein Kommando der SD-Einsatzgruppe D unter Otto Ohlendorf die Stadt erreicht hatten. Sie verwüsteten jüdische Einrichtungen, brannten den Israelitischen Tempel nieder und erschossen mehrere hundert Juden, darunter Repräsentanten der jüdischen Gemeinde wie den Oberrabbiner Abraham Jakob Mark. Fast 50.000 Czernowitzer Juden wurden in einem Ghetto zusammengepfercht. Im Oktober und November 1941 und im Juni 1942 folgten Deportationen von 32.530 Juden in die Lager Transnistriens. Mit Hilfe von Sonderausweisen (Autorisationen) konnten 15.633 Juden in Czernowitz verbleiben.[1] Am 28. März 1944 erreichte die Rote Armee Czernowitz. Von 1947 bis 1991 gehörte die Stadt zur Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Seit Dezember 1991 ist Czernowitz Teil der unabhängigen Ukraine.
Bevölkerung
Die Bevölkerung in Czernowitz nahm seit 1775 (2.300 Einwohner) stetig zu. 1832 zählte Czernowitz etwa 11.000 Einwohner, unter ihnen Rumänen, Ukrainer (Ruthenen), Deutsche, Juden, Polen und andere Ethnien. Die Zahl der Einwohner stieg im Zeitraum von rund 40 Jahren von 33.884 (1869)[2] auf 87.113 Menschen (1910). Die Einwohnerschaft setzte sich 1910 aus Juden (32,8 %), Ukrainern (17,5 %), Polen (17,1 %), Rumänen (15,4 %), Deutschen (14,7 %) und Angehörigen anderer Nationalitäten (2,5 %) zusammen. 48,4 % der Stadtbewohner gaben bei der Befragung Deutsch als ihre Umgangssprache an.[3] 1930 lebten in Czernowitz laut Zensus 112.427 Personen, darunter 42.592 Juden (37,9 %), 30.367 Rumänen (27 %), 16.359 Deutsche (14,5 %), 11.130 Ukrainer (9,9 %), 8.986 Polen (8 %) und 2.993 Angehörige sonstiger Ethnien (2,7 %, hauptsächlich Russen und Ungarn). Bei dieser Erhebung gaben 32.731 Einwohner Jiddisch als Muttersprache an und 26.223 Deutsch.[4] Zwischen 1940 und 1946 wurde die Bevölkerung infolge der Deportation der Juden nach Sibirien und Transnistrien, der Umsiedlung der Deutschen, der Flucht bzw. der Repatriierung der Rumänen und schließlich eines gesteuerten Zuzugs von Ukrainern, Russen und Angehörigen weiterer Ethnien (darunter viele Juden) aus anderen Gebieten der Sowjetunion fast vollständig ausgetauscht. Etwa 30 % der jüdischen Bevölkerung hatten die Kriegsjahre überlebt. Sie übersiedelten mehrheitlich bis 1946 nach Rumänien und emigrierten später nach Palästina/Israel. Der Zensus von 2001 ergab für Czernowitz 236.691 Einwohner, unter ihnen 189.021 Ukrainer (79,9 %), 26.733 Russen (11,3 %), 10.553 Rumänen (4,5 %), 3.829 Moldawier (1,6 %) und 6.555 Andere (darunter 1.408 Polen, 1.308 Juden und 971 Weißrussen).[5] Nach der Erhebung von 2013 zählt Czernowitz 258.842 Einwohner.[6]
Wirtschaft
Czernowitz ist die wirtschaftlich bedeutendste Stadt im Südwesten der Ukraine und ein wichtiger Standort der Textilindustrie, des Maschinenbaus und der Nahrungsmittelindustrie. Die Stadt ist auch Dienstleistungszentrum und verfügt über einen der größten Warenmärkte in der Ukraine (Kalynivs'kyj rynok, 35 ha). Gemeinsam mit Lemberg/L'viv, Kiew/Kyïv und Odessa/Odesa ist Czernowitz touristischer Anziehungspunkt in der Ukraine. Die Stadt besitzt einen internationalen Flughafen.
Gesellschaft
Die Mehrsprachigkeit der städtischen Bevölkerung und eine relativ gleichmäßige Verteilung der Ethnien förderten lange Zeit eine Toleranzpraxis und die Fähigkeit zum Dialog zwischen den Kulturen. Es ist unbestritten, dass die alltäglich erlebten sprachlichen und nationalen Disparitäten die interkulturelle Wahrnehmung der Bewohner schulen konnten. Ab den 1860er Jahren bildete sich in Czernowitz eine vielschichtige Gesellschaftsstruktur heraus, was sich im Vereins- und Pressewesen und in den rumänischen, ukrainischen, polnischen, deutschen und jüdischen Nationalhäusern widerspiegelte. Die Deutschen gründeten den "Verein der christlichen Deutschen" (1897) und erbauten das "Deutsche Haus" (1910), die jüdische Bevölkerung errichtete das "Jüdische Nationalhaus" (1908), differenzierte sich dann aber im Unterschied zu den anderen Ethnien stärker aus und es entstanden – neben den Großgruppen der assimilierten und deutsch-akkulturierten Juden – auch zionistische und sozialistische (bundistische) Milieus. Da viele Jahre lang "übergeordnete politische Gemeinsamkeiten höher bewertet wurden als Partikularinteressen"[7], kam es häufig zu einer interethnischen und -konfessionellen Zusammenarbeit in den Bereichen Kultur, Bildung und Politik. Industrialisierung und Nationalbewegungen führten in Czernowitz vor 1914 auch zu sozialen und politischen Spannungen, die im Vergleich zu anderen Städten in der Habsburgermonarchie allerdings weniger stark ausgeprägt waren. Nach 1918 wirkte sich die neue Machtkonstellation auch auf das Zusammenleben in Czernowitz aus. Deutsche, Juden, Ukrainer und Polen hatten – obwohl sie faktisch die Mehrheit bildeten – nur noch den Status einer Minderheit mit rechtlichen Einschränkungen. Die staatlich forcierte Rumänisierung von Verwaltung und öffentlichen Einrichtungen (Schulen, Universität, Theater) veränderte das gesellschaftliche Klima in der Stadt. Gleichzeitig setzten diese Maßnahmen Impulse zur Kompensation frei und soziale Netzwerke und das kulturelle Leben der einzelnen Nationen entwickelten sich besonders gut. Ab Mitte der 1930er Jahre beförderten wirtschaftliche Krisen und die Radikalisierung politischer Gruppierungen eine gesellschaftliche Erosion, die auch mit dem Verlust bürgerlicher Freiheiten insbesondere für Juden und Ukrainer nach der Einführung der Königsdiktatur 1938 verbunden war.
Religions- und Kirchengeschichte
Deutsche Kolonisten begannen 1797 in Czernowitz mit der Führung der Kirchenmatrikel der evangelischen Pfarrei (Augsburger Bekenntnis). 1814 wurde die erste katholische Pfarrkirche fertiggestellt. Die Stadt besaß ab 1873 ein Erzbistum mit Sitz des Metropoliten, dem alle Orthodoxen der im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder unterstellt waren. Die jüdische Gemeinde verwaltete etwa 70 Synagogen (darunter den Israelitischen Tempel und die Große Synagoge) und Bethäuser. Die Verteilung der Konfessionen der Czernowitzer Bevölkerung entsprach zumeist der ethnischen Struktur. Die Erhebung für 1890 ergab: 32 % jüdisch (17.359 Personen), 27,4 % römisch-katholisch (14.822), 12 % griechisch-katholisch (6.522), 22,9 % griechisch-orientalisch (= orthodox, 12.431), 5 % evangelisch (2.697), 0,7 % andere.[8] Bis 1940 bildeten die Juden die größte Religionsgemeinde. Heute gehören die Bewohner mehrheitlich zur ukrainischen orthodoxen Kirche (Kiewer Patriarchat und Moskauer Patriarchat), andere zur ukrainischen griechisch-katholischen und zur autokephalen orthodoxen Kirche.
Besondere kulturelle Institutionen
Von kultureller Bedeutung ist das Theater, erbaut von den Architekten Ferdinand Fellner und Hermann Helmer im Jahr 1905. Die Stadt beherbergt u. a. ein Kunstmuseum im Gebäude der ehemaligen Sparkasse (im Stil der Wiener Secession), ein ethnographisches Museum (1863 gegründet), das Czernowitzer Museum für jüdische Geschichte und Kultur der Bukowina und das Staatliche Archiv des Gebiets Czernowitz (Deržavnyj arhiv Černivec'koï oblasti) mit einem der größten deutschsprachigen Akten- und Pressebestände außerhalb des deutschen Sprachraums. Von kulturhistorischer Bedeutung ist auch der jüdische Friedhof mit ca. 50.000 Grabanlagen.
Bildung und Wissenschaft
Nationale Jurij-Fed'kovyč-Universität Czernowitz/
Černivci, Hauptgebäude (2013), ehemals erzbischöfliche
Residenz [Foto: M. Winkler].
Spracherlasse und neue Schulgesetze beförderten ab den 1870er Jahren ein ausgeprägt vielfältiges Schulwesen in Czernowitz. Es kam zur Gründung von Lehrerbildungsanstalten und Bildungsvereinen, die zur gesellschaftlichen Modernisierung beitrugen, aber auch die Nationalisierung des Bildungswesens verstärkten. 1875 wurde die Franz-Josephs-Universität (heute Nationale Jurij-Fed'kovyč-Universität Černivci) als östlichste deutschsprachige Universität mit drei Fakultäten (Rechtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Letztere auch mit Rumänisch und Ruthenisch als Unterrichtssprache) gegründet. Bedeutende Professoren waren der Ökonom Joseph A. Schumpeter, der Rechtssoziologe Eugen Ehrlich, der Anglist Leon Kellner und die Historiker Ion Nistor und Raimund Friedrich Kaindl.
Kunstgeschichte
Die Bevölkerungsexplosion in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ging einher mit städtebaulichen Erweiterungen und reger Bautätigkeit. Das weitgehend intakte Stadtbild wird geprägt durch Bauten des Historismus und der frühen Moderne aus der Habsburger Zeit; als Beispiele seien neben dem Theater das Rathaus nach Vorbild italienischer Stadtpaläste (1847–1848, Architekten Andreas Mikulicz und Adolf Marin) und der Bahnhof mit Motiven des Neobarock und des Jugendstils genannt. Das bedeutendste Architekturdenkmal ist die 1882 vollendete ehemalige Residenz des Erzbischöflichen Metropoliten (heute Universitätsgebäude) in einem neogotisch-byzantinischen Mischstil (1864–1882, Architekt Josef Hlavka), seit 2011 UNESCO-Welterbe. Die Große Synagoge in maurischen Formen (1873–1878, Architekt Julian Zachariewicz) wurde 1941 von den deutschen Besatzern in Brand gesetzt. Im stark veränderten Bau ist seit 1959 ein Kino untergebracht.
Pressegeschichte
Czernowitzer Allgemeine Zeitung,
Titelblatt der ersten Ausgabe vom 29.
Dezember 1903 [Foto: M. Winkler].
Czernowitz war das größte Zentrum deutschsprachiger Presse außerhalb des deutschen Sprachraums in der Zeit zwischen 1848 und 1940. Neben einzelnen Akteuren (Philipp Menczel, Adolf Wallstein), die maßgeblich zur Modernisierung des Pressewesens in der Stadt beitrugen, hing dieser Presseboom auch mit den zahlreichen Vereinen (politische Vereine, Kultur- und Bildungsvereine u. a.), die eigene Zeitungen und Zeitschriften herausbrachten, zusammen. Es erschienen schätzungsweise 300 deutschsprachige Periodika, darunter Tages- und Wochenzeitungen, Monatsschriften und Fachorgane. Die wichtigsten Tageszeitungen waren die Bukowinaer Rundschau (1882–1907), die Czernowitzer Allgemeine Zeitung (1903–1940) und das Czernowitzer Morgenblatt (1918–1940).
Literatur
Die literarische Produktion Czernowitzer Autoren hat den Mythos der Stadt mitbegründet. Die Wahrnehmung der Stadt wird bis heute von den Zeugnissen namhafter Dichter beeinflusst; es war eine "besondere Landschaft […], die viele Künstler, Dichter, Kunst-, Literatur- und Philosophieliebhaber beherbergte" (Rose Ausländer), in der "Menschen und Bücher lebten" (Paul Celan) oder in der ein schlicht als "Wunder" (Alfred Margul-Sperber) beschriebener Aufschwung der deutschsprachigen Lyrik in den 1920er und 1930er Jahren möglich war. Czernowitz war Geburts- und Aufenthaltsort bedeutender deutsch- und jiddischsprachiger Schriftsteller und Lyriker. Zu den bekanntesten zählen Karl Emil Franzos, Paul Celan (eigentlich Paul Antschel), Rose Ausländer, Selma Meerbaum-Eisinger, Alfred Margul-Sperber, Moses Rosenkranz, Alfred Gong, Alfred Kittner, Immanuel Weissglas, Gregor von Rezzori, Elieser Steinbarg, Itzik Manger und Josef Burg. Darüber hinaus belegen auch die Werke der ukrainischen Autoren Osyp Jurij Fed'kovyč und Ol'ha Kobyljans'ka sowie des in Israel lebenden und auf Hebräisch schreibenden Schriftstellers Aharon Appelfeld eine herausragende literarische Qualität.
Gedächtnis- und Erinnerungskultur
Bis 1991 kam es in Czernowitz in jeder Epoche zu einem umfänglichen Austausch der Straßennamen, ebenso verschwanden nationale Denkmäler und es wurden neue errichtet. Heute erinnern viele Gedenktafeln an Politiker, Literaten und Künstler – unabhängig von Nationalität und ideologischen Ausrichtungen. Die in Europa, USA und Israel lebenden ehemaligen Czernowitzer und ihre Nachfahren pflegen in Publikationen und auf Internetseiten die Erinnerungen an die Stadt. Die Rezeption des kulturellen und literarischen Erbes hat sich in den letzten Jahren auch auf ukrainischer Seite verstärkt. Das jährlich im September stattfindende Poesiefestival "Meridian Czernowitz" (seit 2010) inklusive einer literarischen Kooperation mit der Leipziger Buchmesse (2012–2014) und die ukrainisch-deutsche Kulturgesellschaft am Czernowitzer "Zentrum Gedankendach" (2009 gegründet) sind gegenwärtig die beiden wichtigsten Adressen, die in ihren Veranstaltungen die kulturelle und literarische Vergangenheit mit zeitgenössischen Kunstformen verbinden. Auftritte junger europäischer Künstler und Autoren sowie ein writer-in-residence-Programm fördern den Austausch zwischen Kreativen aus zahlreichen Ländern. Das Paul Celan Literaturzentrum (Literaturnyj Celanivs'kyj centr, Eröffnung geplant im September 2014) wird den Erinnerungsdiskurs über das kulturelle Erbe der Stadt weiter vertiefen.
4. Diskurse/Kontroversen
Im Zuge der politischen Umwälzungen in Czernowitz zwischen 1775 und 1991 entstanden national geprägte Historiographien, die teilweise eine ideologische Umdeutung oder Verfälschung geschichtlicher Prozesse betrieben und dem multiethnischen Charakter der Stadt nicht gerecht wurden. Bis heute entzünden sich Debatten zwischen rumänischen und ukrainischen Historikern an der Frage nach dem "nationalen" Ursprung der Stadt und der Region. In der rumänischen Historiographie wird beispielsweise die Besetzung der Stadt 1918 als Befreiung von der österreichischen Herrschaft interpretiert, Czernowitz und die Nordbukowina wird zum ursprünglich "rumänische[n] Territorium"[9] erklärt und die nationalistische Bewegung idealisiert. In der sowjetischen Lesart wurde die Herrschaft bis 1918 ebenfalls als "österreichische Besetzung" und die Phase 1918–1940 als "Okkupation des bojarischen Rumäniens"[10] bezeichnet. In der Ukraine kursieren seit 1993 wieder Schriften der Organisation Ukrainischer Nationalisten, die die Nordbukowina einschließlich Czernowitz historisch als ukrainisches Stammesgebiet deklarieren.[11]
5. Bibliographische Hinweise
Literatur
- Andrei Corbea-Hoisie (Hg.): Czernowitz. Jüdisches Städtebild. Frankfurt/M. 1998.
- Andrei Corbea-Hoisie: Czernowitzer Geschichten. Über eine städtische Kultur in Mittelosteuropa. Wien u. a. 2003 (Literatur und Leben 63).
- Cecile Cordon, Helmut Kusdat (Hg.): An der Zeiten Ränder. Czernowitz und die Bukowina. Geschichte, Literatur, Verfolgung, Exil. Wien 2002.
- Mariana Hausleitner: Eine wechselvolle Geschichte. Die Bukowina und die Stadt Czernowitz vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. In: Helmut Braun (Hg.): Czernowitz. Die Geschichte einer untergegangenen Kulturmetropole. Berlin 2005, S. 31-81.
- Marianna Hirsch, Leo Spitzer: Ghosts of Home. The Afterlife of Czernowitz in Jewish Memory. Berkeley, Los Angeles 2009.
- Ion Lihaciu: Czernowitz 1848–1918. Das kulturelle Leben einer Provinzmetropole. Kaiserslautern u. a. 2012 (Bukowinastudien 1).
- Winfried Menninghaus: »Czernowitz/Bukowina« als Topos deutsch-jüdischer Geschichte und Literatur. In: Lyrik. Über Lyrik. Sonderheft Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. H. 600 (1999), S. 345-357.
- Markus Winkler: Jüdische Identitäten im kommunikativen Raum: Presse, Sprache und Theater in Czernowitz bis 1923. Bremen 2007 (Die jüdische Presse – Kommunikationsgeschichte im europäischen Raum/The European Jewish Press - Studies in History and Language 4).
Periodika
- Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (2006ff.).
Weblinks
- www.city.cv.ua/ (Seite des Stadtrats in ukrainischer Sprache)
- www.czernowitz.de (Seite mit Informationen zu Neuerscheinungen und Veranstaltungen zu Czernowitz und der Bukowina in deutscher Sprache
- czernowitz.ehpes.com/ (Fotos, Dokumente und Diskussionen zur jüdischen Geschichte von Czernowitz in englischer Sprache)
- www.meridiancz.com/ (Meridian Czernowitz - Internationale literarische Korporation)
- www.gedankendach.org (Ukrainisch-deutsche Kulturgesellschaft an der Nationalen Jurij-Fed'kovyč-Universität Černivci)
- www.herder-institut.de/bildkatalog/wikidata/Q157725 (Abbildungen zu Czernowitz/Černivci im Bildarchiv des Herder-Instituts, Marburg)
Anmerkungen
[1] Liviu Cărare: Concluziile Comisiei de anchetă pentru "Cercetarea neregulilor săvârşite cu ocazia evacuării evreilor din Cernăuţi" (1941) [Die Ergebnisse der Untersuchungskommission für die "Ermittlung von Verstößen bei der Evakuierung der Czernowitzer Juden" (1941)]. In: Anuarul Institutului de Istorie "G. Bariţiu" L (2011) [Jahrbuch des Instituts für Geschichte "George Bariţiu"]. Series Historica, S. 252.
[2] Orts-Repertorium des Herzogthums Bukowina. Auf Grundlage der Volkszählung vom 31. Dezember 1869 bearbeitet. Czernowitz 1872, S. 3.
[3] Die Ergebnisse der Volks- und Viehzählung vom 31. Dezember 1910 im Herzogtume Bukowina nach den Angaben der k. k. statistischen Zentral-Kommission in Wien, zusammengestellt und veröffentlicht vom statistischen Landesamte des Herzogtums Bukowina. Czernowitz 1913 (Mitteilungen des statistischen Landesamtes des Herzogtums Bukowina 17), S. 55.
[4] Sabin Manuilă: Recensământul general al populaţiei României din 29 Dec. 1930 [Allgemeine Volkszählung für Rumänien vom 29. Dezember 1930]. Vol. 2. Bucureşti 1938, S. 384.
[5] Najbіl'šіnacіonal'nostі u mіstach, selyščach ta selach Černіvec'koїoblastі za perepysom 2001 r. [Nationalitäten in den Städten, Kleinstädten und Dörfern des Gebietes Czernowitz/Černivci laut Zensus von 2001]. URL: www.ukrcensus.gov.ua/ (Abruf 19.11.2013).
[6] Deržavna služba statystyky Ukraїny: čysel'nіst' najavnoho naselennja Ukraїny [Staatliches Amt für Statistik der Ukraine: Daten zur Bevölkerung der Ukraine]. Kyїv 2013, S. 108.
[7] Emanuel Turczynski: Geschichte der Bukowina in der Neuzeit. Zur Sozial- und Kulturgeschichte einer mitteleuropäisch geprägten Landschaft. Wiesbaden 1993 (Studien der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund 14), S. 9.
[8] Special-Orts-Repertorium der Bukowina. Neubearbeitung auf Grund der Ergebnisse der Volkszählung vom 31. December 1890. Herausgegeben von der k. k. Statistischen Central-Commission. Bd. XIII: Bukowina. Wien 1894, S. 1.
[9] Mariana Hausleitner: Die Rumänisierung der Bukowina. Die Durchsetzung des nationalstaatlichen Anspruchs Großrumäniens 1918–1944. München 2001 (Südosteuropäische Arbeiten 111), S. 449.
[10] Kurt Scharr: "Die Landschaft Bukowina". Das Werden einer Region an der Peripherie 1774–1918. Wien u. a. 2010, S. 251.
[11] Hausleitner: Rumänisierung (Anm. 9), S. 449f.
Zitation
Markus Winkler: Czernowitz/Černivci. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2013. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32366 (Stand: 16.05.2022).
Nutzungsbedingungen für diesen Artikel
Copyright © Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (BKGE), alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk entstand im Rahmen des Projekts „Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa“ und darf vervielfältigt und veröffentlicht werden, sofern die Einwilligung der Rechteinhaber vorliegt. Bitte kontaktieren Sie: ome-lexikon@uol.de
Wenn Sie fachliche Hinweise oder Ergänzungen zum Text haben, wenden Sie sich bitte unter Angabe von Literatur- und Quellenbelegen an die Redaktion.