Sibirien und die Deutschen in Sibirien

1. Toponymie

Deutsche Bezeichnung

Sibirien

Amtliche Bezeichnung

Сибирь (translit. Sibirʼ)

Lateinische Bezeichnung

Siberia

Etymologie

Aus dem Turktatarischen (su-beri = wässrige Wildnis)

2. Geographie

Lage der Region

Sibirien erstreckt sich über 7.000 km vom Ural bis an den Pazifischen Ozean und über 3.500 km vom Nördlichen Polarmeer bis an die Grenzen Kasachstans, der Mongolei und der Volksrepublik China. Die heute zur Russländischen Föderation gehörende Großregion umfasst ein Territorium von 10 Millionen km2 (60–80° nördlicher Breite, 70–180° östlicher Länge).

Topographie

Der Norden einschließlich der vor der arktischen Küste liegenden Inseln besteht aus Tundra, der riesige mittlere Landstrich ist dagegen mit borealem Nadelwald, der Taiga, bedeckt. Fast acht Zehntel Westsibiriens werden von Tiefland eingenommen. Die breiten, trägen Flüsse Ob' und Irtyš machen durch ihren erschwerten Abfluss die westsibirische Tiefebene besonders feucht. In der nördlichen Tundra bewirkt der Permafrost eine schlechte Bodenqualität, während die Gebiete zwischen 56° und 66° nördlicher Breite mit kargen Podsolböden bedeckt sind. Ostsibirien ist vom Kontinentalklima geprägt, lediglich im Amur-Ussuri-Gebiet im Süden macht sich Monsuneinfluss bemerkbar. Die Nordküste am Polarmeer bleibt bis zu zehn Monate zugefroren. Die landwirtschaftliche Nutzung konzentriert sich im Wesentlichen in West- und Ostsibirien entlang der Transsibirischen Eisenbahn.

Staatliche und regionale Zugehörigkeit

Sibirien ist Teil der Russländischen Föderation. Administrativ ist Sibirien nicht selbständig; es handelt sich um einen Oberbegriff für verschiedene Verwaltungseinheiten: fünf Republiken, sechs Regionen (kraj), zehn Gebiete (oblast') und drei Autonome Bezirke (okrug). Die administrative Gliederung hat im Laufe der Geschichte mehrfach gewechselt und ist willkürlich, da der weite geographische Raum eine genaue Grenzziehung erschwert. Aus diesem Grund bevorzugen Geographen für Sibirien den Begriff "Makro-Region". Deutsche leben in der Region Altaj, dem Gebiet um Novosibirsk, Omsk und Tomsk.

Historische Geographie (Grenzen, Grenzveränderungen, Siedlungsstruktur)

Im Fall Sibiriens ist nicht von einem starren politischen, sondern von einem fluktuierenden kulturellen Grenzbegriff (frontier) auszugehen. Eine geographische Grenze zwischen dem europäischen Russland und Sibirien wurde erst im 18. Jahrhundert von dem russischen Geographen Vasilij N. Tatiščev (1686–1750) entlang des Uralgebirges gezogen. Diese Grenzziehung hat bis heute Gültigkeit. Es ist davon auszugehen, dass bereits die seit dem 16. Jahrhundert nach Sibirien vorstoßenden Kosaken eine Vorstellung vom Ural als Grenze zur unbekannten asiatischen Wildnis und ihren Völkern besaßen. Der Ural bildet auch eine Kulturgrenze. Für die Verbannten des 19. Jahrhunderts und die GULag-Häftlinge des 20. Jahrhunderts markierte der Ural den Übergang in die Welt der Lager.

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Die Eroberung Sibiriens durch das Russländische Reich.
[D. Dahlmann: Sibirien. Vom 16. Jahrhundert bis zur
Gegenwart, Paderborn 2009 © Verlag F. Schöningh]

Das Russländische Imperium war in seiner Geschichte stets auf der Suche nach seinen Grenzen im Osten, die im Unterschied zu den Grenzen seiner westlichen, europäischen Regionen weniger nationalstaatlich definiert und fixiert waren. Nach Südosten besaß Sibirien bis in das späte 19. Jahrhundert de facto keine politischen Grenzen, das an Zentralasien und die Mongolei grenzende Südsibirien war ein fluktuierender Grenzraum nomadisierender innerasiatischer Völker, vor allem turkischer Provenienz. Bis ins späte 19. Jahrhundert war in der russischen, aber auch in der westeuropäischen geographischen Terminologie daher nicht von einer politisch-nationalstaatlichen, sondern von einer topographischen Grenze (der sog. Wald-Steppen-Grenze) die Rede. Es handelte sich um eine durch Forts befestigte Steppenlinie zur Abwehr von Überfällen kasachischer und kirgisischer Nomaden. Ein ganz anderer Typ von Grenze fand sich dagegen in Ostsibirien. Hier war eine politische Grenze zwischen dem Zarenreich und dem chinesischen Kaiserreich in den völkerrechtlichen Verträgen von 1689 und 1727 festgelegt worden. Diese Grenze hatte bis Mitte des 19. Jahrhunderts Gültigkeit, wurde dann aber in der Phase des russischen Imperialismus durch die Ungleichen Verträge in den Jahren 1858–1915 zu Ungunsten Chinas revidiert, das insgesamt 1,5 Millionen km2 (darunter das Amur-Gebiet) an das Zarenreich abtreten musste. Wie problematisch sich diese Grenzziehung erwies, zeigten nicht zuletzt die militärischen Grenzzusammenstöße am Ussuri im Jahr 1969.

Die Siedlungsstruktur Sibiriens ist durch die koloniale Erschließung geprägt worden. Erste befestigte Siedlungen (russ. ostrogi) wurden im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert von Kosaken und Pelzhändlern gegründet und lagen als Siedlungsinseln innerhalb der Stammesgebiete der nomadisierenden sibirischen Völker. Diese Stützpunkte, aus denen die späteren sibirischen Städte hervorgingen, dienten als Handelsplätze für Pelze und andere Güter und zur Eintreibung der Tribute unter der indigenen Bevölkerung. Aus diesem Grund lagen bis Mitte des 17. Jahrhunderts diese Siedlungspunkte in der Taigazone; Anfang des 18. Jahrhunderts erfolgten Stadtgründungen in der südsibirischen Steppenzone wie Omsk (1716) und Semipalatinsk (1718). Gleichzeitig setzte im 18. Jahrhundert die agrarische Besiedlung vor allem des ertragreichen Westsibirien ein; Bauern aus dem europäischen Russland erhielten vom russischen Staat finanzielle Hilfen und waren von Steuern befreit. Erst ab dem 19. Jahrhundert spielten Verbannung und Strafkolonisation eine entscheidende Rolle. Unter den Verbannten befanden sich politische und religiöse Dissidenten (z. B. Altgläubige) sowie Kriminelle. Dennoch machte der Anteil der Verbannten in der Bevölkerung Sibiriens Mitte des 19. Jahrhunderts gerade einmal neun Prozent aus. Die Bevölkerung Sibiriens bestand zu 90 Prozent aus Bauern.

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Anwesen in der ehemals überwiegend von Deutschen
bewohnten Siedlung Iwanowka in Westsibirien.
[www.iwanowka.de]

Bis heute ist die Siedlungsstruktur weitgehend agrarisch geprägt. Erst mit dem Bau der Transsibirischen Eisenbahn in den 1890er Jahren setzte die Industrialisierung ein, die jedoch angesichts der Weite des Landes bis heute rudimentär blieb und auf der Ausbeutung von Rohstoffvorkommen (Kohle, Erdöl, Erdgas, Holz, Gold, Diamanten) beruht. Obwohl administrativ zu Russland gehörig, kam Sibirien der Status einer Binnenkolonie zu. An der Erforschung, Erschließung und Kolonialisierung waren seit dem 18. Jahrhundert Deutsche maßgeblich beteiligt.

3. Geschichte und Kultur

Erkundung Sibiriens in der Neuzeit

Die systematische Erforschung des unbekannten Sibirien setzte erst zur Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert auf Initiative Zar Peters I. (1672–1725) ein. 1692 reisten die norddeutschen Kaufleute Adam Brand (1692–1746) und Eberhard Isbrand Ides (um 1657 – um 1708) an der Spitze einer russischen Gesandtschaft nach Peking, um die politischen und wirtschaftlichen Fragen der Grenzziehung von 1689 zu erörtern. Der Gesandtschaftsbericht, der genaue Informationen zur Topographie und Ethnographie Sibiriens enthielt, sollte den Grundstein für die späteren wissenschaftlichen Expeditionen legen. 1719 folgte die Forschungsreise Daniel Gottlieb Messerschmidts 1685–1735), eines Arztes aus Danzig/Gdańsk, der sich vor allem für die Flora und Fauna Sibiriens interessierte. Seine Aufgabenfelder betrafen die Geographie, Naturgeschichte, Medizin, Ethnographie und Linguistik der sibirischen Völker.

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Reiseroute von J. G. Gmelin und G. F. Müller während
der zweiten Kamčatkaexpedition 1733–1743.
[D. Dahlmann: Sibirien. Vom 16. Jahrhundert bis zur
Gegenwart, Paderborn 2009 © Verlag F. Schöningh]

Die Ergebnisse Messerschmidts wurden von späteren deutschen Forschern wie Gerhard Friedrich Müller (1705–1783), Georg Wilhelm Steller (1709–1746), Johann Georg Gmelin (1709–1755) und Peter Simon Pallas (1741–1811) aufgegriffen. Der entscheidende Schritt zur Erforschung Sibiriens erfolgte auf Anregung von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) mit der Gründung der Russischen Akademie der Wissenschaften 1724. Gerade die Erforschung Sibiriens im 18. Jahrhundert ist eine gemeinsame deutsch-russische Kulturleistung von besonderer Tragweite. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang der Herforder Historiker Gerhard Friedrich Müller (1705–1783). Die deutschen Naturforscher Johann Georg Gmelin (1709–1755) und Georg Wilhelm Steller (1709–1746) nahmen an der Großen Nordischen Expedition (1733–1743) teil und machten Sibirien in der deutschen Bildungsgesellschaft bekannt. Im 19. Jahrhundert folgte die Russlandreise Alexander von Humboldts (1769–1859).

Besiedlung, Verwaltung, Militär

Nach der Erforschung Sibiriens durch deutsche Wissenschaftler und das Bekanntwerden der Region im deutschsprachigen Raum im 18. Jahrhundert setzte die Ansiedlung von deutschen Siedlern erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein. Im Zuge der von Ministerpräsident Pëtr Stolypin (1862–1911) initiierten Agrarkolonisation zogen ca. 100.000 Deutsche aus der Wolga- und der Schwarzmeerregion vor allem ins landwirtschaftlich ertragreiche Westsibirien. Die Siedler waren mit der Bodenbearbeitung gut vertraut, denn wie an der Wolga und am Schwarzen Meer trafen sie in Westsibirien auf fruchtbare Schwarzerdeböden. Russische Agronomen betonten die land-wirtschaftliche Kompetenz der deutschen Siedler. In den sibirischen Garnisonsstädten an der Grenze zur Steppe stiegen Deutsche in Verwaltung und Armee auf, viele von ihnen stammten aus dem Baltikum. Dabei sicherten sie die südsibirischen Festungslinien gegenüber den Steppennomaden, so z. B. an der Orenburger Linie. Andere Deutsche wurden wiederum mit der Inspektion der östlichen Grenze zu China beauftragt. So stellte der Forschungsreisende Alexander von Middendorff (1815–1894) in den 1840er Jahren fest, dass die Chinesen die Grenze zum Amur ungenügend schützten, was wiederum die russische Annexion der Amurregion durch den ostsibirischen Generalgouverneur Nikolaj Murav'ëv (1809–1881) ein Jahrzehnt später zur Folge hatte. Deutsche machten z. T. erstaunliche Karrieren in den sibirischen Kosakendivisionen. Unter dem Befehl des deutschbaltischen Generaladjutanten Zar Nikolaus' II. (1868–1918), Paul von Rennenkampff (1854–1918), wurde 1900 der Boxeraufstand in der russisch besetzten Mandschurei niedergeschlagen.

Das spätzarische Stolypinsche Kolonisationsprogramm orientierte sich an Bismarcks Siedlungspolitik in den preußischen Ostprovinzen.

Völlig konträr dazu stehen die repressiven Besiedlungsmaßnahmen in der Stalinära. Die Hälfte der zwischen 1927 und 1952 aus den westlichen Getreideregionen der Sowjetunion (Ukraine, Wolga- und Schwarzmeerregion) deportierten zwei Millionen Kulaken, der sog. Sondersiedler, waren Deutsche. Während des Zweiten Weltkrieges (1941–1945) wurde ca. eine Million deutscher Kriegsgefangener nach Sibirien verschleppt, wo sie Zwangsarbeit im GULag leisteten und zur Industrialisierung beitrugen (Bergbau). 40 Prozent der Gefangenen starben an Unterernährung, an Krankheiten und infolge massiver körperlicher Misshandlungen. Die Überlebenden kehrten 1955 in die Bundesrepublik Deutschland zurück (sog. Heimkehrer). Die Lagerbedingungen für deutsche Kriegsgefangene und Sibiriendeutsche unterschieden sich nicht, jedoch wurde Letzteren nach ihrer Haftentlassung eine Ausreise in die Bundesrepublik verwehrt.

Wirtschaft

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die Altaj-Region zum größten Silberproduzenten für den europäischen Markt aufgestiegen. Zugleich hatte die Suche nach Gold eingesetzt und um 1840 war Russland aufgrund der sibirischen Lagerstätten führend in der Goldgewinnung.

Im 19. Jahrhundert gehörten Deutsche auch zur Unternehmerschaft Sibiriens, die sich im Zuge der Industrialisierung (Eisenbahnbau, Bergbau,) und der zunehmenden Vernetzung des euro-asiatischen Wirtschaftsraumes etablierte. Involviert waren nicht nur sibiriendeutsche Kaufleute, sondern auch Unternehmer aus dem Deutschen Reich. Eine Pionierrolle spielten dabei Firmen aus Hamburg und Bremen. Deutsche Unternehmer versprachen sich Zugang zu den Rohstoffquellen und Absatzmärkten in Sibirien, das zusätzlich als Transitregion zum ostasiatisch-pazifischen Raum fungierte. Darüber hinaus trugen sie durch Investitionen maßgeblich zur Modernisierung Sibiriens bei. Die Firma Siemens entsandte um 1900 Techniker, die die Errichtung von Elektrizitätswerken an der Lena beratend begleiteten. Mit dem so erzeugten Strom sollte der Goldabbau auf den Lena-Feldern effizienter erfolgen. Im Altaj, das reich an natürlichen Ressourcen (Holz, Erze) war, siedelten sich deutsche Unternehmen wie Faber Castell und Thurn und Taxis an. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden neue Grafitminen entdeckt und Faber Castell erhielt vom russischen Staat eine Lizenz zum Abbau des für die Bleistiftherstellung wichtigen Rohstoffs. Die Thurn und Taxissche Post organisierte den Brief- und Paketdienst in Sibirien bis in die Polarzone. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 setzte die deutschen Unternehmer in Sibirien massiven Repressionen aus. Viele Firmen mussten ihre Geschäfte ins Ausland verlagern.

Bevölkerung

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Dorfplan der bis in die 1990er Jahre
überwiegend von Deutschen bewohnten
Siedlung Iwanowka in Westsibirien.
[www.iwanowka.de]

Die Bevölkerung setzte sich 1991 aus 80 Prozent Russen, vier Prozent Tataren, 2,2 Prozent Ukrainern, 1,9 Prozent Armeniern und 0,8 Prozent Deutschen sowie den sibirischen Ethnien zusammen. Die Deutschen stellen damit die kleinste nicht-sibirische Ethnie, ihr Anteil hat sich nach dem Zerfall der Sowjetunion seit 1991 durch Auswanderung auf 0,4 Prozent halbiert. Offiziell bekennen sich 51 Prozent der Bevölkerung Sibiriens zur russischen Orthodoxie, sieben Prozent zum Islam, neun Prozent sind Atheisten und der Rest entfällt auf nicht-orthodoxe Religionsgemeinschaften wie vor allem auf Lutheraner und Mennoniten, auf den Buddhismus und den Schamanismus.

Religions- und Kirchengeschichte

Die Deutschen in Sibirien bekennen sich auch heute noch mehrheitlich zum lutherischen oder mennonitischen Glauben. Die stark ausgeprägte Religiosität in den Gemeinden stärkte nicht nur das ethnisch-kulturelle Zusammengehörigkeitsgefühl, vielmehr engagierten sich viele Lutheraner und Mennoniten in der Missionierung von Nichtchristen, so vor allem von Muslimen und Animisten. Die wichtigsten Gemeinden in Tomsk, Barnaul, Irkutsk und Wladiwostok bekamen erst durch den großen Siedlerstrom in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Zuwachs. Die Seelsorge gestaltete sich angesichts mangelhafter Infrastruktur vor allem in ländlichen Gebieten schwierig. Der Dienst des "sibirischen Pastors" galt zu Recht als der schwierigste in der gesamten deutschen Diaspora im Russländischen Reich. 1886 lebten zwischen Ural und Pazifischem Ozean z. B. ca. 6.650 Lutheraner in acht Gemeinden. Während der Atheismuskampagne des Stalinismus in den 1930er Jahren wurde die Hälfte der Gläubigen in Lager deportiert. Zu einer Wiedergeburt der lutherischen Gemeinden kam es erst nach Stalins Tod 1953. Im Unterschied zu den Lutheranern zogen die Mennoniten in der Naherwartung der Wiederkunft Christi ein Leben in Abgeschiedenheit vor. Während der Stalinschen Kollektivierung gelang es einigen deutschen Mennoniten nach Kanada auszuwandern.

Alltagskultur

War der ökonomische Beitrag der deutschen Siedler zur Modernisierung Sibiriens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch erwünscht, so waren sie in späteren Phasen Diskriminierungen und Repressionen ausgesetzt, so im Ersten Weltkrieg, im Russischen Bürgerkrieg und während des Stalinismus. Deutsche Kultur und Sprache konnten nur im Geheimen gepflegt werden. Während in der Öffentlichkeit des Zarenreiches die kulturellen Leistungen der Deutschen in Sibirien durchaus bekannt und anerkannt waren, wusste die Mehrheit der sowjetischen Bevölkerung kaum etwas über den Alltag der Sibiriendeutschen. In der offiziellen sowjetischen Propaganda galt die deutsche Minderheit gegenüber anderen der Union als gleichberechtigt. Ungeachtet des andersartigen kulturellen Hintergrundes kam es im Alltag zur Angleichung in der Lebensweise. In einer weitläufigen Region mit einer ethnischen Polyvarianz (Deutsche, Russen, Tataren, sibirische Ethnien) war dies eine hohe Anpassungsleistung. Kriege und innenpolitische Krisen (Revolution, Stalinismus) stärkten jedoch gegenseitige Stereotypenbildungen und Berührungsängste.

Kunst, Musik, Literatur

Traditionell gehörten die bäuerliche Alltagskultur und die sibirische Landschaft zu den beliebtesten Motiven sibiriendeutscher Maler und Schriftsteller. Der deutsche Naturforscher Georg Adolf Erman (1806–1877) stellte auf seiner Sibirienreise in den 1830er Jahren fest, dass deutsche Musik in den sibirischen Konzerthäusern regelmäßig gespielt wurde. Bis zur Oktoberrevolution 1917 gab es in Sibirien ein reiches deutsches Vereinswesen, das Musik, Kunst, Theater und Literatur pflegte. Nach dem politischen Systemwechsel setzte zunächst ein finanzieller Niedergang ein, bevor der kulturelle Kahlschlag des Stalinismus folgte. Mit dem Einsetzen des politischen und kulturellen Tauwetters nach Stalins Tod griffen sibiriendeutsche Künstler wie z. B. die Maler Alfred Friesen (1929–2019) und Bruno Dil die Themen Deportationen und Repressionen sowie das Schicksal der deutschen Kriegsgefangenen in Sibirien in ihren Werken auf.

Gedächtnis- und Erinnerungskultur

Das deutsche Sibirienbild fällt ambivalent aus. Zum einen hat die deutsche Kultur durch die wissenschaftliche Erforschung Sibiriens und die wirtschaftlichen Leistungen der Sibiriendeutschen die Geschichte Sibiriens bis auf den heutigen Tag nachhaltig beeinflusst. Zum anderen haben Diskriminierung und Repressionen, vor allem während des Stalinismus sowie das Schicksal der nach Sibirien verbannten Bauern und der in sowjetische Kriegsgefangenschaft geratenen deutschen Soldaten schmerzliche Spuren im kollektiven Gedächtnis hinterlassen.

4. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Nikolaj N. Baranov u. a. (Hg.): Deutsche auf dem Ural und in Sibirien, XVI.–XX. Jahrhundert. Forschungsbeiträge der wissenschaftlichen Konferenz "Deutschland - Russland. Historische Erfahrungen interregionaler Zusammenarbeit im XVI.–XX. Jahrhundert". Ekaterinburg 2001.
  • Detlef Brandes, Andrej Savin: Die Sibiriendeutschen im Sowjetstaat 1919–1938. Essen 2001 (Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa 19).
  • Viktor Bruhl: Die Deutschen in Sibirien: Eine hundertjährige Geschichte von der Ansiedlung bis zur Auswanderung. Nürnberg u. a. 2003.
  • Dittmar Dahlmann: Sibirien. Vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Paderborn u. a. 2009.
  • Nelly Däs: Schicksalsjahre in Sibirien. Berlin u. a. (ca. 1985).
  • Petr P. Vibe: Istorija i ėtnografija nemcev v Sibiri [Geschichte und Ethnographie der Deutschen in Sibirien]. Omsk 2009.

Bibliographien, Jahrbücher, Zeitschriften

  • Serija Germanskie issledovanija v Sibiri [Reihe Deutsche Studien in Sibirien Kemerovo] 2003ff. (erscheint unregelmäßig)

Weblinks

Zitation

Eva-Maria Stolberg: Sibirien und die Deutschen in Sibirien. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2012. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/55224.html (Stand 26.07.2021).

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OME-Redaktion (Stand: 30.07.2024)  | 
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