Sprache
1. Definition
Sprache ist das wichtigste Kommunikationsmittel der Menschen. Sie dient dem Austausch von Informationen, erfüllt aber auch epistemische (die Organisation des Denkens betreffende), kognitive und affektive Funktionen. "Sprache" hat drei elementare Bedeutungskomponenten:[1] (a) Sprache an sich, die menschliche Sprachbegabung als solche (frz. faculté du langage), (b) Sprache als Einzelsprache, d. h. die Konkretisierung von (a) in einer bestimmten Sprachgemeinschaft in einem bestimmten Zeitraum (frz. langue), und (c) die Realisierung von (b) in konkreten Kommunikationsereignissen (frz. parole).
2. Theoretische und methodische Grundlagen
Seit wann verfügt die Menschheit über Sprache? Schätzungen besagen, dass sich die Menschensprache(n) in der Zeit zwischen 140.000 und 70.000 v. Chr. herausbildete(n).[2] Es ist unbekannt, wie dieser Prozess (die Glottogonie) ablief, ob er sich einmal ereignete als Monogenese einer einzigen Ursprache, der sog. adamitischen Sprache, oder als Polygenese an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten. Sprache gilt seit der Antike als wesentliches Unterscheidungsmerkmal des Menschen gegenüber allen anderen Lebewesen (homo animal loquens, der Mensch ist das sprechende Lebewesen).
Die Fähigkeit von Kindern, die Sprache(n) ihrer Umgebung zu erwerben, ist angeboren. Sie entwickelt sich im Laufe der biologischen Reifung und der Sozialisation jedes Menschen. Diese Ontogenese von Sprache wird im Rahmen der Spracherwerbsforschung und der Forschung zur Kindersprache untersucht.
Die physische Erscheinungsform von Sprache sind (artikulierte) Ketten von Sprachlauten (später auch Ketten von Schriftzeichen), die in der Zeit (oder auf einem Schriftträger im zweidimensionalen Raum) linear angeordnet sind und Elemente aller Ebenen des Sprachsystems ausdrücken. Diese Ebenen sind (a) das Sprachlautinventar der betreffenden Sprache, das eine spezifische Auswahl aus einem universellen Inventar darstellt, (b) ihre Semantisierung im System der Phoneme, der Töne und der Regeln für Akzent, Intonation und Prosodie (Tonhöhenverlauf), (c) die Verkettung von Lauten zu Silben, Wortbildungsmitteln und Wörtern, (d) die Verbindung der Einheiten von (c) zu Syntagmen, Sätzen und Texten. Gewissermaßen quer dazu liegt die Ebene der Bedeutungen (Wort-, Satz- und Textbedeutungen). Dazu treten Regeln und Normen für die Sprachverwendung und sprachliches Handeln. Zum Zwecke der Beschreibung und Analyse von Sprache(n) werden möglichst generalisierbare Kategorien wie Laut, Silbe, Wort oder Satz verwendet.
Die Erfindung der Schrift kann auf das späte 4. Jahrtausend v. Chr. datiert werden.[3] Das Vorhandensein schriftlicher Zeugnisse markiert die Grenzlinie zwischen Vorgeschichte und geschichtlicher Zeit. Es markiert gleichzeitig den Beginn der Überlieferung von Sprachdaten, die als Grundlage linguistischer Beschreibungen und Analysen dienen können. Schriftzeugnisse liefern das Material für die Erforschung der Sprachgeschichte. Sie erlauben die vergleichende Rekonstruktion alter, nicht durch Daten belegter Sprachzustände bzw. von Ausschnitten derselben.
Heute werden auf der Erde etwa 5.000 Sprachen gesprochen. Lediglich einige Hundert davon werden auch geschrieben, und nur ein Teil davon sind entwickelte Schriftsprachen. Neben selbständigen Sprachen gibt es Varietäten, die als Dialekte, Soziolekte, Sondersprachen usw. in Bezug auf eine Sprache angesehen werden.
Sprachliche Vielfalt ist einerseits ein bewahrenswertes Erbe der Menschheit, denn jede einzelne Sprache ist ein besonderer Ausdruck des menschlichen Geistes, ein „Gedanke Gottes“, wie J. G. Herder (1744–1803), der vielzitierte Vater des „Völkerfrühlings“ im 19. Jahrhundert, das metaphorisch formulierte. Andererseits kann sprachliche Vielfalt im Zuge von Modernisierungsprozessen zu einem innen- und wirtschaftspolitischen Problem werden, wenn sie ein Kommunikationshindernis darstellt. In solchen Fällen sind eine oder mehrere landesweite und ggf. weitere regionale Verkehrssprachen unumgänglich, die die innerstaatliche Kommunikation ermöglichen. Solche linguae francae sind oft die Sprachen früherer Kolonial- oder dominierender Handelsmächte. In Nordeuropa war das Mittelniederdeutsche (Mnd.) im Spätmittelalter eine solche lingua franca, in Teilen Mittel-, Ost- und Nordeuropas das Hochdeutsche zwischen dem 18. und dem 20. Jahrhundert.
3. Historischer Abriss
Das Deutsche ist in den Erscheinungsformen des südlichen Althochdeutschen (Ahd.) und des nördlichen Altsächsischen (As.) und Altniederfränkischen (am Niederrhein) seit dem 8. Jahrhundert kontinuierlich überliefert. Das Ahd. ging im 11. Jahrhundert in das Mittelhochdeutsche (Mhd.) über, das As. wurde im 12. Jahrhundert vom Mittelniederdeutschen (Mnd.) abgelöst. Teile Holsteins sowie Mecklenburg, Brandenburg, Pommern, Obersachsen sowie das spätere West- und Ostpreußen wurden seit dem 12. Jahrhundert (teilweise) germanisiert durch Eroberungen und nachfolgende Besiedlung aus dem Westen (einschließlich der Niederlande). Die elb- und ostseeslawischen Sprachen wurden dabei fast gänzlich verdrängt (bis auf das Sorbische im Südosten Brandenburgs und im Osten Sachsens). Im Norden breitete sich das Mnd. von Lübeck und Magdeburg bis ins Baltikum aus, im Süden mhd. Dialekte von Thüringen bis ins südliche Ostpreußen (Hochpreußisch).
Infolge von Migrationsbewegungen aus dem deutschen und niederländischen Sprachraum heraus verbreiteten sich im Hoch- und Spätmittelalter (nieder-)deutsche Dialekte auch in nichtdeutsche Sprachräume Mitteleuropas, Südosteuropas und Nordeuropas hinein („Landesausbau“). Im 18. Jahrhundert zogen deutschsprachige Bauern und Handwerker bis nach Russland, in den Kaukasus und erneut nach Südosteuropa und so entstanden dort vielerorts deutsche Sprachinseln, die infolge des Zweiten Weltkriegs großenteils untergingen. Im Mittelalter war dies ein gesprochenes Deutsch, das sich – nach Maßgabe der Herkunftsregionen der Migranten – zu Mischdialekten entwickelte.
In den baltischen Ländern, in den Städten Finnlands, Schwedens, Dänemarks sowie in Pommern und Preußen verbreiteten sich infolge starker Zuwanderung aus Deutschland mnd. Dialekte, auf deren Basis sich seit dem 14. Jahrhundert das Mnd. als sprachraumübergreifende Verkehrssprache herausbildete, die im gesamten Ost- und Nordseeraum als Amts- und Kanzleisprache (neben dem Lateinischen), als Handelssprache und allgemeine Verkehrssprache verwendet wurde. Im 16. Jahrhundert endete die große Zeit der „Hansesprache“, doch blieb das gesprochene Deutsch in diesem Raum niederdeutsch geprägt (das Baltendeutsche, das Niederpreußische, das Mittel- und Ostpommersche). Nach der Vertreibung der deutschen Bevölkerung 1945 sind diese Dialekte erloschen.
Mitteldeutsche Dialekte auf ehemals westslawischem Sprachgebiet sind das Obersächsische, das Südmärkische, das Schlesische (heute: in Resten, etwa das Niederschlesische im Kreis Görlitz) sowie das (heute verklungene) Hochpreußische. Das Deutsche in Polen, im Norden Böhmens und Mährens sowie in Siebenbürgen war mitteldeutsch geprägt.
Im Süden war das Mittelbairische in seiner österreichischen Ausprägung die wesentliche Kontaktvarietät des Deutschen. Die deutschen Siedlungsgebiete und Sprachinseln im Süden Böhmens und Mährens, in der Grafschaft Krain (im heutigen Slowenien), in Ungarn, Kroatien, Serbien und der Slowakei waren mittelbairisch geprägt, ebenso die Siedlungsgebiete der „Kolonisten“ des 18. Jahrhunderts, die von der österreichischen Regierung gerufen worden waren („Donauschwaben“, früher: „Ungarländische Deutsche“). Die späteren „Russlanddeutschen“, die Katharina II. (1762–1796) anwarb, sprachen mitteldeutsche Dialekte, Alemannisch-Schwäbisch und Bairisch, aus denen neue Mischdialekte hervorgingen.
Das Verhältnis zu den jeweiligen Kontaktsprachen gestaltete sich unterschiedlich. In Dänemark, Schweden und Polen assimilierten sich die (meist städtischen) deutschen Zuwanderer in der Regel an die Mehrheitsnation. Im Baltikum war das Deutsche bis etwa 1880 die dominante Sprache, die von Esten und Letten gelernt werden musste, die sozial aufsteigen wollten; danach wurde das Russische als Staatssprache durchgesetzt. Im Herzogtum Preußen assimilierten sich aufstiegsorientierte Litauer und Polen an die deutsche Mehrheit, im Königlichen Preußen behielten die großen Städte deutsche Mehrheiten. Nach den Teilungen Polen-Litauens nahm der Germanisierungsdruck im „Großherzogtum Posen“ kontinuierlich zu; er bewirkte verbreitete Zweisprachigkeit. In der Habsburgermonarchie und ihren Nachfolgestaaten konnte sich das Deutsche in vielen Regionen in der Regel bis 1918 bzw. 1945 halten; der Sprachwechsel aus der jeweiligen Mehrheitssprache zum Deutschen war oft Mittel und Ausdruck sozialen Aufstiegs.
Mit der Ausbreitung der (lutherischen) Reformation ging die Verbreitung des Hochdeutschen als Schriftsprache, später auch als Sprache der Verwaltung, der Gerichte, der Predigt und der Schulen in Teilen Mittel- und Osteuropas einher. In den deutschen Siedlungsgebieten im Ostseeraum und im historischen Königreich Polen-Litauen, in Siebenbürgen und den Zipser Städten setzte sich das Hochdeutsche bis zum Ende des 16. Jahrhunderts (gegen das Lateinische) in solchen elaborierten Funktionen durch. In Böhmen, Ungarn und über den ganzen Balkan hinweg fand dieser Prozess im späten 18. Jahrhundert statt, nachdem die Bildungsreformen Maria Theresias (1740–1780) und Josephs II. (1765–1790) bewirkt hatten, dass die von Johann Christoph Gottsched (1700–1766) definierten Normen des hochdeutschen Standards (nach und nach) verwendet und in den Schulen gelehrt wurden.
Amts- und Kanzleisprache war das Deutsche (bis ins 18. Jahrhundert in Konkurrenz zum Lateinischen) in Est- und Livland, im Herzogtum Preußen (wo es die prußische Sprache verdrängte), im 16. Jahrhundert auch im Königlichen Preußen (in den Städten Danzig, Thorn und Elbing bewahrte es diese Funktion), im Königreich Böhmen, in der Krain, in Oberungarn (der heutigen Slowakei), im Fürstentum Siebenbürgen sowie im 19. Jahrhundert (in Ansätzen) in Galizien und in der Bukowina. Der Versuch Josephs II., das Deutsche als Amts- und Kanzleisprache auch im ungarischen Reichsteil der Habsburgermonarchie durchzusetzen, scheiterte rasch.
Als (privilegierte) Landessprache und Unterrichtssprache bzw. als obligatorische erste Fremdsprache fungierte das Deutsche dort, wo die deutschen Minderheiten politisch und wirtschaftlich dominant waren, also in Estland, Livland und Kurland, in den cisleithanischen Ländern der Donaumonarchie und bei den Siebenbürger Sachsen. In diesen Gebieten wurde es auch als Literatursprache genutzt. Im 19. Jahrhundert nahmen assimilierte, bürgerliche Juden in Österreich-Ungarn, aber auch in Russland das Deutsche als Bildungs- und Literatursprache an. Namhafte Vertreter der deutschsprachigen Literatur aus Mittel- und Osteuropa sind unter anderen Jakob Michael Reinhold Lenz (1751–1792), Marie von Ebner-Eschenbach (1830–1916), Karl Emil Franzos (1848–1904), Eduard von Keyserling (1855–1918), Franz Kafka (1883–1924), Rose Ausländer (1901–1988), Elias Canetti (1905–1994), Arthur Koestler (1905–1983) und Herta Müller (geb. 1953).
4. Diskurse/Kontroversen
s. "Sprachpolitik"
5. Bibliographische Angaben
Literatur
- Konrad Ehlich, Jakob Ossner, Harro Stammerjohann (Hg.): Hochsprachen in Europa. Entstehung, Geltung, Zukunft. Freiburg/Breisgau 2001.
- Helmut Glück: Deutsch als Fremdsprache in Europa vom Mittelalter bis zur Barockzeit. Berlin, New York 2002.
- Helmut Glück: Die Fremdsprache Deutsch im Zeitalter der Aufklärung, der Klassik und der Romantik. Grundzüge der deutschen Sprachgeschichte in Europa. Wiesbaden 2013 (Fremdsprachen in Geschichte und Gegenwart 12).
- Helmut Glück, Michael Rödel (Hg.): Metzler Lexikon Sprache. 5. Aufl. Stuttgart 2016.
- Peter von Polenz: Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. 3 Bde. Berlin, New York 1991–1999.
- Franz Stark: Deutsch in Europa. Geschichte seiner Stellung und Ausstrahlung. Sankt Augustin 2002 (Sprachen und Sprachenlernen 309).
- Harald Weinrich: Sprache, das heißt Sprachen. Tübingen 2001 (Forum für Fachsprachenforschung 50).
Anmerkungen
[1] Die Unterscheidung geht zurück auf Ferdinand de Saussure (1857–1913), Schweizer Sprachforscher und Begründer der synchronen Linguistik. Die französischen Originaltermini werden im Folgenden in Klammern angeführt.
[2] Horst M. Müller: Sprache und Evolution. Grundlagen der Evolution und Ansätze einer evolutionstheoretischen Sprachwissenschaft. Berlin 1990; Jean-Louis Dessalles, Aux origines du langage [Von den Anfängen der Sprache]. Paris 2000. Vgl. außerdem die Bände der Reihe Studies in the Evolution of Language, hg. v. Kathleen R. Gibson und Maggie Tallerman bei Oxford University Press (2001ff).
[3] Hartmut Günther, Otto Ludwig (Hg.): Schrift und Schriftlichkeit. Writing and Its Use. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. An International Handbook of Interdisciplinary Research. 2 Halbbände, Berlin, New York 1944, 1996 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 10, 1/2), hier Bd. 1, Kapitel III: Schriftgeschichte, S. 122–423.
Zitation
Helmut Glück: Sprache. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2018. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32775 (Stand 31.01.2018).
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