Görlitz/Zgorzelec
1. Toponymie
Amtliche Bezeichnungen
Görlitz, poln. Zgorzelec
Anderssprachige Bezeichnungen
tschech. Zhořelec; lat. Gorlicium, civitas Gorlicense
Etymologie
Der Stadtname leitet sich von dem altobersorbischen *Zgorelc (= Siedlung auf einem ausgebrannten Waldstück, Brandrodungssiedlung) her.
2. Geographie
Lage
Görlitz liegt auf 51° 1' Nord, 15° 0' Ost, etwa 100 km östlich von Dresden an der deutsch-polnischen Grenze.
Topographie
Görlitz – einschließlich seines Ostteils, der seit 1945 polnischen Stadt Zgorzelec – liegt zu beiden Seiten der Lausitzer Neiße (poln. Nysa Łużycka), im Hügelland des Naturraums Östliche Oberlausitz, der im Süden durch das Zittauer Gebirge gegen das Böhmische Becken abgeriegelt wird.
Region
Staatliche und administrative Zugehörigkeit
Bundesrepublik Deutschland, Freistaat Sachsen, Sitz des Kreises Görlitz. Die Stadt ist Sitz des katholischen Bistums Görlitz. – Görlitz-Ost/Zgorzelec: Republik Polen, Woiwodschaft Niederschlesien (Województwo Dolnośląskie), Kreis Zgorzelec (Powiat Zgorzelecki).
3. Geschichte und Kultur
Gebräuchliche Symbolik
Die Wappenverleihung erfolgte durch Kaiser Karl IV. (1316-1378) und wurde 1433 durch Kaiser Sigismund (1368-1437) erneuert. Das heutige Wappen der deutschen Stadt Görlitz orientiert sich am historischen Vorbild und zeigt auf gespaltenem Schild rechts den schwarzen, doppelköpfigen Reichsadler (für Kaiser und König) auf goldenem Grund, links einen aufrechten, nach rechts schreitenden doppelgeschwänzten, silbernen Löwen mit goldener Krone auf rotem Grund (Zugehörigkeit der Stadt zur böhmischen Krone). Löwe und Adler halten mit der rechten Pranke beziehungsweise mit dem Schnabel eine goldene Kaiserkrone, die die Reichsunmittelbarkeit symbolisieren sollte.
Das Wappen der Stadt Zgorzelec wird seit 1960 verwendet und nimmt Bezug auf das erste Görlitzer Stadtsiegel (1298). Zwischen zwei Wehrtürmen ist unter einem Topfhelm mit Adlerflug ein nach rechts gelehnter dreieckiger Schild mit dem schlesischen Adler zu finden.
Archäologische Bedeutung
1981/1984 wurde im Zuge der Arbeiten in der Pfarrkirche St. Peter und Paul der Grundriss des spätromanischen Vorgängerbaus aufgedeckt. Grabungen auf dem Görlitzer Hausberg Landeskrone (1909, 1929, 1937/1938 und 1969/1970) ergaben Hinweise auf eine Besiedlung seit dem 10. Jahrhundert sowie eine spätere Befestigung.
Mittelalter
Die überlieferte Ersterwähnung erfolgte im Jahr 1071 als „villa Goreliz“ in einer Urkunde Kaiser Heinrichs IV. (1050-1106). Zu Füßen einer Burg über den Neißeufern hatte sich im 12. Jahrhundert eine Kaufmannssiedlung entlang des Lunitzbaches entwickelt. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts erfolgte die Verlegung auf das Hochplateau über dem Westufer der Lausitzer Neiße. Die Siedlung prosperierte durch die günstige Lage an der via regia, der alten transkontinentalen Ost-West-Fernhandelsroute; damit einher ging auch eine erste Bebauung des Brückenkopfes am Ostufer. Die Stadt, die ab 1329 Teil des Königreich Böhmens war, erhielt zahlreiche Privilegien. Nach 1469 gehörte Görlitz zum Machtbereich des ungarischen und böhmischen Königs Mathias Corvinus (1443-1490).
Neuzeit
Der Dreißigjährige Krieg hatte verheerende Folgen für Görlitz. Infolge des Friedens von Prag/Praha (1635) kam die Stadt mit der Oberlausitz unter sächsische Hoheit.
Während des Siebenjährigen Krieges (1756-1763) und der napoleonischen Herrschaft zwischen 1807 und 1813 wurde die Stadt Durchmarschgebiet der Armeen und Opfer ständiger Einquartierungen. Infolge des Wiener Friedensvertrags kam sie 1815 mit dem nordöstlichen Teil der Oberlausitz zu Preußen und wurde dem Amt Liegnitz/Legnica der Provinz Schlesien zugeschlagen. Ab den 1830er Jahren erlebte Görlitz eine wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit. Ab 1875 griff die Bebauung auf das Ostufer über.
Die größte Zäsur in der neuesten Stadtgeschichte war die Festlegung der Oder-Neiße-Linie als neue Grenze nach dem Zweiten Weltkrieg 1945. Der westliche Teil mit der historischen Altstadt kam zur SBZ, später DDR (Bezirk Dresden); der östliche Teil gelangte unter polnische Verwaltung und hieß zunächst Zgorzelice, ab 1946 Zgorzelec. Mit der Vertreibung der deutschen Bevölkerung kamen erste polnische Neusiedler in der Oststadt an. Der Zentralismus in Politik und Wirtschaft der DDR drängte die Stadt Görlitz an den Rand der Bedeutungslosigkeit. Am 17. Juni 1953 war sie eines der wichtigsten regionalen Zentren des Aufstands gegen die Staatsgewalt. Nach 1989 veränderten neue Strukturen in Politik und Verwaltung das Leben in Görlitz.
Verwaltung
Seit dem Ende des 13. Jahrhunderts ist die Ausbildung einer bürgerlichen Selbstverwaltung in Görlitz zu beobachten. 1346 schlossen sich Bautzen, Görlitz, Kamenz, Lauban/Lubań Śląski, Löbau und Zittau zum Oberlausitzer Sechsstädtebund zusammen. Durch die kaiserliche Bestätigung und die Übertragung richterlicher Gewalt über Adel, Bürger und Bauern wuchs das politische Gewicht der Städte. Seit der Einführung der kommunalen Selbstverwaltung 1833 wurde ein Magistrat nach preußischem Muster gebildet, der von einem Bürgermeister geleitet wurde.
Bevölkerung
Die Einwohnerzahl blieb lange Zeit konstant; noch um 1800 wurden ca. 9.000 Einwohner gezählt.[1] Ab 1820 ist ein stetiger Anstieg zu verzeichnen; im Jahr 1900 lebten in Görlitz 80.932 Menschen.[2] Die höchsten Einwohnerzahlen wurden 1939 mit 93.823 und 1949, bedingt durch den Flüchtlingsstrom, mit 101.742 Personen registriert. Seitdem war im westlich der Lausitzer Neiße gelegenen Görlitz ein stetiger, rascher werdender Rückgang zu verzeichnen, der erst in jüngster Zeit scheinbar die Talsohle erreicht hat: 1988 77.609, 2012 54.956 Einwohner.[3] Im polnischen Zgorzelec leben heute 32.000 Menschen.[4]
Wirtschaft
Von alters her stützte sich die – oft in Handelsgesellschaften mit weitverzweigten Beziehungsgeflechten organisierte – Kaufmannschaft vor allem auf Waidhandel, Tuchherstellung und Tuchhandel, die für Görlitz noch im 19. Jahrhundert eine erhebliche Bedeutung hatten.
Die Einführung der preußischen Gewerbeordnung 1845 verlieh dem Pioniergeist und Unternehmerwillen des Bürgertums neue Impulse. Zu den Pionieren der Görlitzer Industrialisierung gehörte Christoph Lüders (1803-1872), dessen Unternehmen mit der Entwicklung eines Schnelltriebwagens, des sogenannten „Fliegenden Hamburgers“, weltweites Aufsehen erregte. Ein bedeutendes Unternehmen war auch die 1852 gegründete Maschinenbauanstalt und Eisengießerei, deren Erzeugnisse, vor allem Turbinen, Dampfmaschinen und Generatoren, sich eines ausgezeichneten Rufes erfreuten. Beide Unternehmen fusionierten 1923 zur WUMAG. In der Zeit des Nationalsozialismus profitierte das Unternehmen von Zwangsarbeitern des KZ-Außenlager in Biesnitz bei Görlitz.
Heute gehört der Waggonbau zum kanadischen Unternehmen Bombardier; die Firma Siemens unterhält in der ehemaligen Maschinenbau-Anstalt seine Turbinenbausparte.
1847 wurde Görlitz an das preußische und das sächsische Eisenbahnnetz angeschlossen. Die industrielle Entwicklung konzentrierte sich vornehmlich auf das Westufer. Auf dem Ostufer spielte nach 1945 als größter Arbeitgeber das Braunkohlekraftwerk Turow südlich von Zgorzelec eine bedeutsame Rolle.
Nach 1989 führte in Görlitz die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit zur Schließung zahlreicher Firmen; andere eroberten mit neuen Ideen und Produkten, aber auch mit neuen Eigentümern einen Platz in der regionalen und überregionalen Wirtschaft (z. B. Waggonbau [Bombardier], Süßwaren [Hoinkis]). In Zgorzelec hat sich seit 1988 die Firma Citronex zum größter Bananenimporteur Europas entwickelt, der seit 2008 dort auch die größte Reifeanlage des Kontinents für Bananen betreibt.
Religions- und Kirchengeschichte
Mit den evangelischen Predigten setzte sich ab 1521 in Görlitz die Reformation durch und ließ das katholische Kirchenwesen untergehen. Seit 1825 unterstand Görlitz dem Breslauer Konstitorium (ab 1934 Bischof). 2004 schloss sich das Kirchengebiet der Landeskirche Berlin-Brandenburg an. Ein katholischer Gottesdienst wurde erst 1829 wieder in Görlitz gefeiert. Der Anteil katholischer Gläubiger wuchs nur langsam. Nach 1945 wurde der Sitz des Bischofs nach Görlitz verlegt. Ehemals zum Bistum Breslau gehörig, wurde 1945 zunächst ein erzbischöfliches Amt, 1994 ein eigenes Bistum errichtet.
In Zgorzelec gehört heute der größte Teil der Bevölkerung der römisch-katholischen Kirche an (Bistum Liegnitz). Darüber hinaus spielen in der Stadtgeschichte griechische Flüchtlinge eine Rolle; seit 2002 besitzt die Gemeinde eine griechisch-orthodoxe Kirche – die Heilige-Konstantin-und-Helena-Kirche (Cerkiew Świętych Konstantyna i Heleny).
Ein jüdisches Viertel und eine jüdische Bevölkerung sind bis zu ihrer Vertreibung im 14. Jahrhundert nachgewiesen. Eine Neuansiedlung erfolgte nach 1847. Bis zur nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik ab 1933 entwickelte sich eine starke jüdische Bürgerschaft, die wesentlich das Kulturleben von Görlitz beeinflusste.
Besondere kulturelle Institutionen
Seit 1872 besteht das Museum für Altertum und Kunst; seit 1902 existieren mit der Oberlausitzer Gedenkhalle Räume für ein Kaiser-Friedrich-Museum (heute: Dom Kultury in Zgorzelec). 1932 wurde nach einem Umbau der Kaisertrutz in die Görlitzer Museumslandschaft eingefügt. Die städtischen Sammlungen zogen ab 1951 in das ehemalige Gebäude der 1779 gegründeten Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften um. Mit der vollständig erhaltenen Bibliothek vereint dieses Gesellschaftshaus unter dem Leitspruch „in uno museum“ eine private wissenschaftliche Sammlung im Sinne des Enzyklopädismus der Aufklärungszeit mit den städtischen Exponaten. Das Physikalische Kabinett im sogenannten Barockhaus stellt Versuche zur Erforschung der Elektrizität Adolf Traugott von Gersdorffs (1744-1807) vor, eines der Mitbegründer der Wissenschaftsgesellschaft. Die hier präsentierten Alpenmodelle gehören zu den ältesten ihrer Art. Eine der wichtigsten wissenschaftlichen Einrichtungen ist das Senckenberg-Museum, das aus der Naturforschenden Gesellschaft hervorging (Schwerpunkte: Zoologie, Botanik und Mineralogie). Seit 2001 öffnete das Schlesische Museum im Schönhof seine Ausstellungen und bewahrt durch Sammlungs- und Forschungstätigkeit das Erbe der reichen schlesischen Provinz. In Zgorzelec befindet sich das Lausitzer Museum (poln.: Muzeum Łużyckie).
Seit 1850 besteht das städtische Theater, das sich nach und nach in der Theaterwelt einen guten Ruf erwarb. 2011 fusionierte es mit dem Zittauer Theater zur Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau GmbH. Seit 1995 wird jährlich das internationale Straßentheaterfestival ViaThea veranstaltet.
Die Neue Lausitzer Philharmonie führt Werke aller Genres auf.
Bildung und Wissenschaft
Görlitz gewann im 16. Jahrhundert für die Wissenschaften an Bedeutung. Zu den führenden Denkern des frühen 17. Jahrhunderts gehörte der einst in Görlitz beheimatete Jacob Böhme (1575-1624); sein Wohnhaus liegt heute im polnischen Zgorzelec (ul. Daszyńskiego 12). Mit seinem theosophischen Hauptwerk Aurora oder die Morgenröte im Aufgang legte er die Grundlagen für die klassische deutsche Philosophie. Die Forschung zu dem Werk des großen Denkers liegt heute in den Händen des Internationalen Jacob Böhme-Instituts Görlitz
1779 gründeten Vertreter des Stadtbürgertums mit aufgeklärten Adligen die Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften (s.o).
1565 wurde das Gymnasium Augustum in den Räumen des alten Franziskanerklosters eröffnet; es hatte einen hervorragenden Ruf und zog Bürgersöhne und Adlige aus Schlesien und Böhmen an. In der DDR-Zeit wurde das Gymnasium in eine Polytechnische Oberschule umgewandelt, ehe es nach der politischen Wende als Gymnasium mit musischem Profil wiederbelebt wurde. Neben einem zweiten Gymnasium beheimatete Görlitz eine Fachschule, deren Studienangebot sich seit den 1960er und 1970er Jahren auf Elektronik und Elektrotechnik konzentrierte. Nach 1989/1990 wurde die Fachschule in eine Fachhochschule umgewandelt und mit dem Standort Zittau zusammengeführt.
Kunstgeschichte und Architektur
Görlitz zählt über 4.000 architektonische und städtebauliche Einzeldenkmale von zum Teil einzigartiger Qualität und wird mitunter als größtes deutsches Flächendenkmal bezeichnet. Als Modellstadt der Denkmalpflege wird sie seit den frühen 1990er Jahren sukzessive saniert.
Die Nikolaikirche, die älteste Kirche der Stadt, wurde 1298 erstmals erwähnt. Zwischen 1225 und 1235 entstand die Peter-und-Paulskirche als dreischiffige Basilika. Ihr Neubau als raummächtigste obersächsische Hallenkirche fand 1497 seinen baulichen Abschluss. Die Dreifaltigkeitskirche war ursprünglich Teil des Franziskanerklosters, das im Zuge der Reformation 1563 aufgelöst wurde.
Die Steinmetzarbeiten in der Frauenkirche sind herausragende Beispiele der spätgotischen Bauplastik. Das im 15. Jahrhundert entstandene „Heilige Grab“ ist einer der ältesten symbolischen Landschaftsgärten Deutschlands. 1853 weihte die katholische Gemeinde mit der Heilig-Kreuz-Kirche ihr erstes nachreformatorisches Gotteshaus in Görlitz, ein zweites wurde 1898-1900 errichtet. Für die evangelische Gemeinde entstanden 1898-1901 die Lutherkirche und 1913-1916 die Kreuzkirche. Besonders erwähnenswert ist die 1937/1938 erbaute Christuskirche im Stadtteil Rauschwalde (Otto Bartning [1883-1959]). Görlitz besitzt zwei Synagogen, die alte (umgebaut 1869 und seit 1911 mit anderer Nutzung) und die neue Synagoge (1909-1911). Beide Bauten haben fast unbeschadet den Nationalsozialismus überstanden und befinden sich in einer schrittweisen Instandsetzung.
Weitere architektonische Kostbarkeiten sind die Hallenhäuser, die eindrucksvoll das Wohn- und Geschäftsleben der Görlitzer Fernhändler im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert repräsentieren. Hinter einem oft kunstvoll gestalteten, manchmal auch schlichten Eingangsportal verbergen sich weiträumige Erdgeschoss- und Zentralhallen.
Die Stadterweiterungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolgten auf beiden Ufern der Neiße; im heutigen Zgorzelec haben sich eine Reihe von Wohnsiedlungen aus den Jahrzehnten vor und nach dem Ersten Weltkrieg erhalten (z.B. Gartenstadt Rabenberg).
Musik
Bereits in der Frühen Neuzeit erfreute sich Görlitz einer regen Musikkultur, vor allem an der Kantorei der Hauptpfarrkirche St. Peter und Paul, durch die Ratsmusik und am städtischen Gymnasium. 1570 gründete der Görlitzer Bürgermeister Bartholomäus Scultetus (1540-1614) das Convivium musicum; die Musikvereinigung bestand bis zum Beginn des Dreißigjährigen Krieges.
Seit 1803 gibt es Belege für regelmäßige Konzerte der Stadtkapelle. Ab 1889 sind die Schlesischen Musikfeste eng mit dem kulturellen Leben der Stadt verbunden. Alle zwei bis drei Jahre trafen sich hier Chöre und Klangkörper aus ganz Deutschland, um gemeinsam mit einheimischen Künstlern vielbeachtete Aufführungen zu gestalten. Für die Musikfeste entstand 1910 ein Saalbau mit 2.000 Sitzplätzen nach Plänen des Berliner Architekten Bernhard Sehring (1855-1941).
Buch- und Druckgeschichte
Die erste belegte Buchdruckerei der Stadt errichtete der aus Lauban stammende Crispin Scharffenberg 1553 und ab 1565 ist eine ständige Druckerei nachweisbar. Mit dem ab 1768 zunächst von Friedrich Fickelscherer herausgegebenen Lausitzischen Magazin etablierte sich ein Periodikum, das bis heute von der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften fortgeführt wird.
Literatur
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde Görlitz zu einem Treffpunkt zahlreicher Künstler und Literaten. Der Rechtsanwalt Paul Mühsam (1876-1960) bewies mit Werken wie Sonett aus der Einsamkeit (1926) und Stufen zum Licht (1933) eine lyrische Begabung. Hervorzuheben sind auch der in Görlitz aufgewachsene Arno Schmidt (1914-1979). Seine fruchtbarste Schaffenszeit erlebt der Kupferstecher und Publizist Johannes Wüsten in Görlitz. Er war mit dem Görlitzer Ludwig Kunz(1900-1976) befreundet, der die „Freie Gruppe: Die Lebenden“ hier begründete.
Militärgeschichte
1830 wurde Görlitz Garnisonsstadt. Auf der höchsten Stelle der Altstadt entstand in den Jahren 1854-1858 eine Kaserne. Später wurde in der Oststadt die „Neue Kaserne“ („Rote Kaserne“) errichtet. 1935 entstand an der Hermsdorfer Straße die Kleist-Kaserne, ein Jahr später im Stadtteil Moys die Winterfeldt-Kaserne.
Gedächtnis- und Erinnerungskultur
Ihrem Oberbürgermeister Gottlob Ludwig Demiani (1786-1846), der die Weichen für die wirtschaftliche Blüte der Stadt im 19. und frühen 20. Jahrhundert gestellt hatte, setzten die Görlitzer 1862 ein vom Dresdener Bildhauer Johannes Schilling (1828-1910) geschaffenes Denkmal auf dem Marienplatz, nachdem sie ihm zu Ehren den alten Rademarkt vor den Toren der Altstadt kurz nach seinem Tod in Demianiplatz umbenannt hatten. Der Frankfurter Stadtbaudirektor Martin Elsaesser (1884-1957) gestaltete in der Nikolaikirche ein Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs, eines der interessantesten Zeugnisse expressionistischer Kunst in Görlitz.
In Zgorzelec erinnert die Gedenkstätte des STALAG VIII A an das 1940-1944 existierende Kriegsgefangenenlager mit bis zu 47.000 gefangenen Soldaten. Den über 3.000 im Frühjahr 1945 hier gefallenen Soldaten der II. Polnischen Armee gedenkt das Gräberfeld an der Ulica Bohaterów II Armii Wojska Polskiego.
4. Diskurse/Kontroversen
Eine der großen Kontroversen der letzten zwei Jahrzehnte ist das Ringen um die kulturelle Identität der Görlitzer. Zwei Lager stehen sich gegenüber: die Vertreter der Oberlausitz und die Schlesiens. Ausgangspunkt ist die Teilung der Oberlausitz 1815. Über Jahrhunderte hinweg war die Oberlausitz ein einheitlicher Kulturraum, der seitdem in einen sächsischen und einen preußischen Machtbereich geteilt war. Die Oberlausitz war Teil der preußischen Provinz Schlesien geworden und nach 1945 einzig verbliebener Teil Schlesiens auf deutschem Boden. Das führte insbesondere nach 1990 zu heftigen Identitätsdebatten. Vielfältige Argumente für die schlesische und auch für die oberlausitzische Identität wurden ins Feld geführt, die jeweils ausgrenzen, nicht versöhnen und insofern keine befriedigende Lösung bieten.[5] In gleicher Weise ist „Flucht und Vertreibung“ ein Thema in Görlitz. Nach 1945 setzte in den an Polen gefallenen Gebieten östlich der Neiße die Vertreibung der deutschen Bevölkerung ein. Viele ließen sich mit der Hoffnung auf eine baldige Rückkehr zunächst in Görlitz, westlich der Neiße, nieder. Die verordnete „deutsch-polnische Freundschaft“ (Görlitzer Abkommen von 1950) hatte in Görlitz mit der sozial-demographischen Entwicklung in den Nachkriegsjahren jedoch keine Grundlage. Erst nach 1990 gingen Görlitz und Zgorzelec aufeinander zu und vereinbarten partnerschaftliche Beziehungen unter dem Markenzeichen einer „Europastadt“; seit 2004 verbindet unter anderem die als Fußgängerbrücke wiedererrichtete Altstadtbrücke beide Stadthälften. Träger der Entwicklung ist insbesondere die Nachkriegsgeneration.
5. Bibliographische Hinweise
Literatur
- Ines Anders, Peter Wolfrum: Görlitz. Historische Ansichten in vier Jahrhunderten. Würzburg 1997.
- Joachim Bahlcke (Hg.): Geschichte der Oberlausitz. Herrschaft, Gesellschaft und Kultur vom Mittelalter bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Leipzig 2001.
- Andreas Bednarek: Die städtebauliche Entwicklung von Görlitz im 19. Jahrhundert. Görlitz 1991 (Schriftenreihe des Ratsarchivs der Stadt Görlitz 15).
- Andreas Bednarek: Görlitz, so wie es war. Düsseldorf 1993.
- Michael Guggenheimer: Görlitz. Schicht um Schicht. Spuren einer Zukunft. Bautzen 2004.
- Peter Haslinger (Hg.): Historisch-topographischer Atlas schlesischer Städte / Historyczno-topograficzny atlas miast śląskich. Bd. 1: Görlitz/Zgorzelec. Bearb. v. Christoph Waack, übers. v. Dariusz Gierczak. Marburg/L., Wrocław 2010.
- Maritta Iseler: Bauwesen und Architektur der Stadt Görlitz. Repräsentationsformen an der Schwelle zur frühen Neuzeit. Bernstadt 2014.
- Richard Jecht: Geschichte der Stadt Görlitz. 2 Bde. Görlitz 1927-1934.
- Ernst-Heinz Lemper: Görlitz. Eine historische Topographie. 2., überarb. Aufl. Görlitz 2009.
- Wilfried Rettig: Eisenbahnknoten Görlitz. Egglham 1994.
Periodika
- Görlitzer Magazin. Geschichte und Gegenwart der Stadt Görlitz und ihrer Umgebung (1987ff.)
- Neues Lausitzisches Magazin. Zeitschrift der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Görlitz e. V. (1822-1926).
Weblinks
- www.goerlitz.de (Internetseite der Stadt)
- www.unser-goerlitz.de (Internetportal der Via Regia Buchhandlung)
- www.zgorzelec.eu/ (Internetseite der Stadt Zgorzelec in polnischer Sprache)
- www.schlesisches-museum.de/ (Seite des Schlesischen Museums zu Görlitz)
- www.herder-institut.de/staedteatlas-schlesien (Historisch-topographischer Atlas schlesischer Städte [mit einem Beitrag zu Görlitz/Zgorzelec], herausgegeben von Peter Haslinger, Wolfgang Kreft, Grzegorz Strauchold und Rościsław Żerelik)
- www.herder-institut.de/bildkatalog/wikidata/Q4077 (Abbildungen zu Görlitz/Zgorzelec im Bildarchiv des Herder-Instituts, Marburg)
Anmerkungen
[1] Richard Jecht: Die wirtschaftlichen Verhältnisse der Stadt Görlitz im 1. Drittel des 19. Jh. Görlitz 1916, S. 18.
[2] Verwaltungsbericht der Stadt Görlitz 1900 (Ratsarchiv Görlitz).
[3] Stadtverwaltung Görlitz (Hg.): Stadt Görlitz. Fakten und Zahlen. Görlitz 2012.
[4] główny urząd statystyczny [Statistisches Hauptamt]: demografia.stat.gov.pl/BazaDemografia/StartIntro.aspx (Abruf 13.08.2021).
[5] Ein Vertreter entsprechender Positionen ist das „Kuratorium Einige Oberlausitz e.V.“, das eine Petition an den Sächsischen Landtag richtete. Siehe dazu : www.unsere-oberlausitz.de (Abruf 19.11.2014).
Zitation
Andreas Bednarek: Görlitz/Zgorzelec. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2014. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32386 (Stand 30.07.2021).
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