Deutschland/Deutsches Reich

1. Toponymie

Deutsche Bezeichnung

Deutschland/Deutsches Reich

Amtliche Bezeichnung

Norddeutscher Bund (1867–1871), Deutsches Reich (1871–1945 bzw. – in Form der von den Siegermächten übernommenen Regierungsgewalt – bis 1949), 1943–1945 auch Großdeutsches Reich

Inoffizielle Bezeichnungen: (Deutsches) Kaiserreich bzw. Zweites Reich (1871–1918), Weimarer Republik (1918–1933), ‚Drittes Reich‘ bzw. NS-Deutschland (1933–1945)

Etymologie

Der Name „Deutschland“ im Sinne von „Land der Deutschen“ beruht auf dem frühneuhochdeutschen Wort „diutisk“ („zum Volk gehörig“, latinisiert „theodiscus“) als Bezeichnung für die germanische(n) Volkssprache(n) im Unterschied zum Lateinischen, der damals im Frankenreich bzw. Ostfränkischen Reich verwendeten Bildungs- und Verwaltungssprache. Aus diesen älteren Formen bildete sich im Laufe der Zeit das Adjektiv „teutsch“ (zeitweilig auch irrtümlich mit dem antiken Stamm der Teutonen in Verbindung gebracht) bzw. „deutsch“ heraus sowie analog hierzu der Ländername „Teutschland“ bzw. „Deutschland“. Er bezog sich vor dem Hintergrund eines wachsenden frühnationalen Bewusstseins primär auf die deutschsprachigen Gebiete des Heiligen Römischen Reiches (seit dem späten 15. Jahrhundert mit dem Namenszusatz „Deutscher Nation“).

2. Geographie

Lage

Das Deutsche Reich bildete – hierbei ist seine völkerrechtliche Identität mit der heutigen Bundesrepublik Deutschland zu beachten – den Hauptbestandteil des (nord)westlichen Mitteleuropa. Es wurde im Nordwesten von der Nordsee, im Nordosten von der Ostsee, im Südwesten von den Vogesen, im Süden von den Alpen und im Südosten vom Bayerischen Wald bzw. Böhmerwald sowie vom Erzgebirge und den nördlichen Sudeten (dem Riesengebirge) begrenzt. Im Westen und Osten fehlten natürliche Grenzen; im Westen konnte näherungsweise der Westrand des Rheinischen Schiefergebirges als solche gelten. Deutschlands Nachbarländer waren bis 1920 die Schweiz, Frankreich, Luxemburg, Belgien, die Niederlande, Dänemark, das Russische Reich und Österreich-Ungarn. Durch die Neuordnung nach dem Ersten Weltkrieg wurden die beiden letztgenannten Mächte durch Polen, Litauen, die Tschechoslowakei und (Deutsch-)Österreich ersetzt. Infolge der Annexionen während der NS-Zeit grenzte das Reich zwischen 1938 und 1945 vorübergehend an die Slowakei, Ungarn, Rumänien und Jugoslawien (außerdem – sofern man die Auflösung Polens 1939 als gegeben ansieht – an die Sowjetunion). Durch den – gemäß den Potsdamer Beschlüssen vom August 1945 zunächst vorläufigen und völkerrechtlich durch den deutsch-polnischen Grenzvertrag von 1990 endgültig gewordenen – Verlust der Ostgebiete nach dem Zweiten Weltkrieg verlor Deutschland die direkte Nachbarschaft zu Litauen.

Topographie

Unabhängig von den im Laufe des 20. Jahrhunderts erfolgten territorialen Veränderungen weist Deutschland eine vor allem nord-südliche topographische Großgliederung auf: Im Norden, beginnend mit den Küstengebieten an Nord- und Ostsee, geht die norddeutsche bzw. mitteleuropäische Tiefebene fließend in die gleichartigen Landschaftsräume der Niederlande, Dänemarks (Jütland) sowie – heute – Polens (Pommern und Niederschlesien) über. Historisch verlief sie weiter über Hinterpommern nach West- und Ostpreußen sowie in die Warthe-Weichsel-Region um Posen/Poznań. Dieser Tieflandbereich umfasst vollständig die Bundesländer Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Bremen, Hamburg, Brandenburg und Berlin sowie anteilig Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und Sachsen. Die Tiefebene erstreckt sich im Westen bis in die Westfälische und die Kölner Bucht, im Osten bis in die Leipziger Bucht bzw. die Oberlausitz. Hieran schließt südlich der Mittelgebirgsraum an, der für den Großteil des mittleren und südlichen Deutschland prägend ist; dies betrifft vor allem die Länder Saarland, Rheinland-Pfalz, Hessen, Thüringen, Baden-Württemberg und Bayern. Den nördlichen Abschnitt dieses Raums bildet die Deutsche Mittelgebirgsschwelle, die vor allem das Rheinische Schiefergebirge (Teutoburger Wald, Rothaargebirge, Eifel, Westerwald, Hunsrück, Taunus), das Niedersächsisch-Hessische Bergland (Rhön, Vogelsberg), den Harz, den Thüringer Wald, den Frankenwald, das Erzgebirge sowie im Südosten den Bayerischen Wald umfasst; bis 1945 setzte sich diese Zone östlich ins schlesische Riesengebirge bzw. die Sudeten fort. Südlich der Mittelgebirgsschwelle liegen ganz im Westen das Saar-Nahegebiet und die Pfalz. Hieran schließt östlich als Einschnitt die Oberrheinische Tiefebene an, die vor allem auf dem Gebiet des Elsass (Frankreich) sowie Badens und der Pfalz verläuft und sich nördlich bis ins Rhein-Main-Gebiet und die Wetterau erstreckt. Infolge der hier aus dem Mittelmeerraum über das Rhônebecken nach Norden strömenden Luftmassen bildet das Oberrheintal den klimatisch wärmsten Teil Deutschlands. Östlich von ihm befindet sich das Südwestdeutsche Schichtstufenland; zu ihm gehören im Norden Odenwald und Spessart, im Südwesten der Schwarzwald sowie im Osten die Schwäbische und die Fränkische Alb. Als südlichster – und deutlich kleinster – topographischer Großraum folgt südlich der Donau das Alpenvorland, das im äußersten Süden, an der Grenze zu Österreich, im Allgäu und den Bayerischen Alpen ins Hochgebirge übergeht.

Historische Geographie

Die territoriale Gestalt des Deutschen Reichs entstand in zwei Schritten: Zunächst schlossen sich 1867 nach dem Sieg Preußens im deutschen Bundeskrieg und dem Ausscheiden Österreichs aus der deutschen Politik 22 Staaten nördlich der Mainlinie unter preußischer Führung zum Norddeutschen Bund zusammen (Verfassung vom 16. April 1867). Mehrere deutsche Staaten wurden von Preußen annektiert (Hannover, Hessen-Kassel, Nassau, Freie Stadt Frankfurt/Main). Der bisherige Bundesstaat Luxemburg mitsamt der dort befindlichen Bundesfestung schied aufgrund einer preußisch-französischen Übereinkunft aus dem Bund aus und wurde vollständig souverän. Später traten nach dem gemeinsamen Sieg über Frankreich die süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg und Baden (sowie Hessen-Darmstadt für seine südlich des Mains gelegenen Gebiete) im November 1870 dem Norddeutschen Bund bei, der in der Folge mit Wirkung vom 1. Januar 1871 die Bezeichnung „Deutsches Reich“ erhielt (die Kaiserproklamation im Schloss von Versailles am 18. Januar 1871 hatte vor allem symbolpolitischen Charakter). Am 16. April 1871 erhielt das Reich eine neue Verfassung. Territorial erweitert wurde es durch die Angliederung der von Frankreich im Frieden zu Frankfurt vom 10. Mai 1871 abgetretenen Provinzen Elsass und Lothringen, die als „Reichsland Elsass-Lothringen“ reichsunmittelbares Gebiet wurden und erst 1911 eine Verfassung und damit die Aufwertung zum Bundesstaat erhielten. Das deutsche Staatsgebiet umfasste zwischen 1871 und 1920 (Inkrafttreten des Versailler Vertrags) 540.858 km². Die überseeischen Kolonien, die nicht zum eigentlichen deutschen Staatsgebiet zählten, umfassten 1914 eine Gesamtfläche von 2.658.450 km².

Infolge der Bestimmungen des Versailler Vertrages vom 28. Juni 1919 verringerte sich das Territorium Deutschlands 1920 auf 468.116 km². Verloren gingen dabei folgende Gebiete:

- Elsass-Lothringen (Fläche 14.522 km²): Das Gebiet wurde ohne Verhandlungen bereits mit dem Waffenstillstand vom 11. November 1918 der französischen Verwaltung unterstellt, aber formal erst mit dem Versailler Vertrag abgetreten.

- Eupen-Malmedy inklusive Neutral-Moresnet (Fläche 1.036 km²): Dieses fast ganz deutschsprachige Gebiet kam als Entschädigung für die in der Zeit der deutschen Besatzung entstandenen Schäden ohne Abstimmung zu Belgien.

- Nordschleswig (Fläche 3.993 km²): Dieses Gebiet (die sogenannte Zone I) wurde im Ergebnis der Volksabstimmung vom 10. Februar 1920 am 15. Juni 1920 an Dänemark angeschlossen, während die südliche Zone II bei Deutschland verblieb. Das Plebiszit wurde offiziell als verspätete Umsetzung einer Bestimmung des Wiener Friedens zwischen Preußen und Österreich von 1866 legitimiert. Hierbei wurde allerdings die dänische Seite dadurch begünstigt, dass die Zone I, in der mit einer klaren Entscheidung für Dänemark zu rechnen war, geschlossen dem mehrheitlich gewählten Staat zugeschlagen wurde, während in der überwiegend prodeutschen Zone II die Zuordnung nach einzelnen Kreisen erfolgte.

- Die durch die Teilungen Polens Ende des 18. Jahrhunderts  preußisch gewordene Provinz Posen kam mit Ausnahme einiger deutsch besiedelter Kreise im Westen und Süden ohne Abstimmung zu Polen; die abgetretene Fläche betrug 26.000 km².

- Der Großteil der bisherigen preußischen Provinz Westpreußen ging mit Ausnahme Danzigs/Gdańsk und des infolge des Plebiszits vom 11. Juli 1920 bei Deutschland verbliebenen und der Provinz Ostpreußen (als „Regierungsbezirk Westpreußen“) angegliederten Regierungsbezirks Marienwerder/Kwidzyn ohne Abstimmung an Polen. Die abgetretene Fläche betrug 17.750 km².

- Das Soldauer Gebiet (südwestliches Ostpreußen) kam ohne Abstimmung zu Polen; Fläche 500 km².

- Das Hultschiner Ländchen/Hlučínsko/Kraik hulczyński (Oberschlesien) ging ohne Abstimmung an die Tschechoslowakei; die Fläche betrug 330 km².

- Ostoberschlesien (Fläche 3.241 km²): Infolge der am 20. März 1921 durchgeführten Volksabstimmung, bei der ca. 60 Prozent der Abstimmungsberechtigten für Deutschland und ca. 40 Prozent für Polen gestimmt hatten, entschied die zuständige Kommission des Völkerbunds, das Gebiet gemäß einer im Versailler Vertrag vorgesehenen Möglichkeit zu teilen. Hierin sowie in der Grenzziehung, wodurch ein Großteil der Kohlegruben und Industrieanlagen auf polnischem Staatsterritorium lag, kam die besonders von Frankreich geübte Bevorzugung seines polnischen Verbündeten zum Ausdruck. Nachdem zunächst eine für Deutschland günstigere Grenzziehung vorgesehen gewesen war, versuchten polnische bewaffnete Gruppen im dritten der Schlesischen Aufstände (2. Mai – 5. Juli 1921; die beiden anderen hatten 1919 und 1920 stattgefunden), die weitreichenden polnischen Gebietsansprüche mit Gewalt durchzusetzen. Hiergegen setzten sich die zur Aufsicht vor Ort befindlichen alliierten Truppen kaum zur Wehr; allerdings drängte der aus Freikorps gebildete „Selbstschutz Oberschlesien“ die polnischen Einheiten insbesondere in der Schlacht um den Sankt Annaberg/Góra Świętej Anny (21.–27. Mai 1921) zurück. Die endgültige Grenzziehung entsprach in hohem Maße den polnischen Wünschen. Immerhin sicherte das am 15. Mai 1922 in Genf auf 15 Jahre abgeschlossene Deutsch-Polnische Abkommen über Oberschlesien den nationalen Minderheiten auf beiden Seiten wichtige Schutzrechte zu.

- Danzig und sein Umland wurden 1919, mit einer Fläche von 1.966 km², zur „Freien Stadt“ unter dem Schutz des Völkerbundes erklärt. Allerdings erhielt der polnische Staat, der Anspruch auf Danzig erhoben hatte, obwohl nur ca. fünf Prozent seiner Einwohner Polen waren, umfangreiche wirtschaftliche und militärische Rechte in diesem neugeschaffenen Staat (besonders in dessen Hafen) und vertrat ihn nach außen, während das Deutsche Reich als Mutterland von 95 Prozent der Danziger Bevölkerung sämtliche Hoheitsrechte in der Stadt verlor.

Unter Völkerbundverwaltung gelangten damals:

- das Saargebiet (Saarland; Fläche 1.910 km²) von 1920 bis 1935 (de facto unter französischer Besatzung). Frankreich versuchte, das Gebiet wirtschaftlich, politisch und kulturell zu vereinnahmen; jedoch kehrte es dem Ergebnis der Volksabstimmung vom 13. Januar 1935 (über 90 Prozent für Deutschland) entsprechend am 1. März desselben Jahres vollständig ins Reich zurück.

- das Memelgebiet (Memelland; Fläche 2.848 km²) von 1920 bis 1923 (ebenfalls unter französischer Besatzung). Es wurde 1923 in einem handstreichartigen Überfall von litauischen Einheiten besetzt und nachmals Litauen eingegliedert; der Völkerbund billigte dieses Vorgehen. Am 22. März 1939 wurde das Memelgebiet nach einem Ultimatum des Deutschen Reiches gegenüber Litauen wieder deutsches Staatsgebiet.

Das Rheinland wurde, einschließlich mehrerer Brückenköpfe am Ostufer des Rheins, von 1918 bis 1930 durch die Westmächte besetzt und im Versailler Vertrag zur demilitarisierten Zone erklärt (inkl. eines 50 km breiten Streifens am Ostufer), blieb aber durchgängig deutsches Staatsgebiet. Diese Maßnahme diente vorrangig als Pfand zur Erzwingung deutscher Reparationszahlungen. Nach der Unterzeichnung der Verträge von Locarno 1925 wurde die Besetzung, die bis maximal 1935 hätte dauern können, ab 1926 schrittweise aufgehoben und – nach der Unterzeichnung des Young-Plans, der die Reparationszahlungen abschließend regeln sollte – am 30. Juni 1930 beendet. Aus den im Westen an andere preußische Provinzen angrenzenden, bei Deutschland verbliebenen Teilen Posens und Westpreußens wurde 1922 die neue Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen mit der Hauptstadt Schneidemühl/Piła gebildet (Fläche 7.695 km²). Sie bestand bis 1938, als sie aufgelöst wurde und ihre Kreise den umliegenden Provinzen Pommern, Brandenburg und Schlesien angegliedert wurden.

Nach der Machtübernahme durch das NS-Regime 1933 kam es zu zahlreichen territorialen Veränderungen, zunächst im Frieden, ab 1939 mit kriegerischen Mitteln. Die Rückkehr des Saarlands unter deutsche Staatsgewalt 1935 und die 1936 erfolgte sogenannte Remilitarisierung des Rheinlands, d. h. die Wiedererrichtung deutscher militärischer Strukturen in diesem durch die Locarnoverträge entmilitarisierten Gebiet, stellten sensu stricto keine Gebietserweiterungen dar. Zu solchen kam es hingegen mit der Angliederung Österreichs („Anschluss“) am 13. März 1938 sowie mit der Annexion der überwiegend deutsch bewohnten Gebiete der Tschechoslowakei („Sudetenland“) infolge des am 29. September 1938 zwischen Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien geschlossenen Münchner Abkommens. Handelte es sich hierbei noch um von deutscher Seite ethnographisch begründbare Revisionsforderungen, so bedeutete die Besetzung der sogenannten „Rest-Tschechei“ und die anschließende Proklamation des „Protektorats Böhmen und Mähren“ als Teil des Großdeutschen Reiches am 15. März 1939 ein Ausgreifen über den deutschen Siedlungsraum hinaus und den Beginn einer geostrategisch motivierten Expansionspolitik. Nach dem Kriegsbeginn im September 1939 gestaltete sich die weitere Territorialpolitik kompliziert und in Abhängigkeit von den konkreten politischen Zielen im jeweiligen Gebiet. Unmittelbar nach dem Angriff auf Polen wurde die Freie Stadt Danzig am 1. September 1939 ins Reich rückgegliedert; wenig später, am 26. Oktober 1939, wurde sie zusammen mit dem Gebiet der polnischen Woiwodschaft (seit 1938 Groß-)Pommerellen (Województwo Wielkie Pomorze) und dem ostpreußischen Regierungsbezirk Westpreußen zum Reichsgau Danzig-Westpreußen zusammengefasst. Am selben Tag entstand auf dem Gebiet der bisherigen Woiwodschaft Großpolen (Województwo Wielkopolskie) der Reichsgau Posen (ab Januar 1940 Reichsgau Wartheland). Die Reichsgaue galten als Reichsgebiet mit direkter Unterstellung unter die Reichsführung (vertreten durch die Reichsstatthalter), also ohne eine zumindest formale Länderebene; sehr wichtig für die politisch-administrative Durchdringung dieser Gebiete waren die dort kongruent gebildeten Parteigaue der NSDAP. Der Status des ebenfalls am 26. Oktober 1939 aus den übrigen deutsch besetzten polnischen Gebieten errichteten Generalgouvernements blieb unscharf. Es wurde nicht annektiert, seine zeitweilige Bezeichnung als „Nebenland des Reiches“ lieferte keine klare staatsrechtliche Definition. Die Zivilbehörden unter Generalgouverneur Hans Frank (1900–1946) agierten in einem praktisch rechtsfreien Raum, in dem weder das internationale Recht noch die im besetzten Westeuropa halbwegs eingehaltenen informellen Gepflogenheiten Anwendung fanden. Daher und angesichts des Charakters der nationalsozialistischen Besatzungspolitik könnte das Generalgouvernement als ‚halbautonomes Kolonialgebiet‘ bezeichnet werden.

Wie angedeutet, wurde hinsichtlich der nach dem Westfeldzug im Mai/Juni 1940 besetzten Gebiete an der Westgrenze anders verfahren. Während das 1919 an Belgien gefallene Eupen-Malmedy annektiert wurde, kamen Luxemburg, (Deutsch-)Lothringen und das Elsass zunächst nur unter deutsche Zivilverwaltung (sogenannte CdZ-Gebiete, „Chef der Zivilverwaltung“); dies stand im Zusammenhang mit Hitlers (1889–1945) Absicht, die westeuropäischen Gegner relativ schonend zu behandeln und sich Bündnisoptionen offenzuhalten. Zugleich wurden diese Gebiete in die erweiterte Gaustruktur der NSDAP eingegliedert: Eupen-Malmedy in den Gau Köln-Aachen, Luxemburg in den Gau Moselland, Lothringen in den Gau Westmark (zusammen mit dem Saarland und der Pfalz) und das Elsass in den Gau Baden bzw. ab da Baden-Elsass. Langfristig war geplant, die Gaue Westmark und Baden-Elsass in Reichsgaue umzuwandeln (im Falle von Baden-Elsass als „Reichsgau Oberrhein“); hierzu kam es aber bis 1945 nicht mehr. Nach dem Sieg über Jugoslawien im April 1941 wurden die an das Reich angrenzenden – altösterreichischen – CdZ-Gebiete Kärnten und Krain sowie Untersteiermark gebildet, die ebenfalls zur späteren Annexion vorgesehen waren. Einen Sonderfall bildete der nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 aus ehemals polnischem und belarusischem Gebiet formierte Bezirk Bialystok/Białystok. Er wurde verwaltungstechnisch dem Gau Ostpreußen unterstellt und bildete das einzige CdZ-Gebiet im Bereich der Ostfront; seine vollständige Eingliederung ins Reich wurde bis zum deutschen Rückzug im Sommer 1944 systematisch vorbereitet.

Die deutsche Niederlage im Zweiten Weltkrieg 1945 führte nicht nur zum Verlust aller seit 1938 erfolgten Gebietserweiterungen, sondern auch zur Besetzung ganz Deutschlands und zum Verlust der Ostgebiete in den Grenzen von 1937. Die vorrückenden sowjetischen und die sie begleitenden polnischen Verbände besetzten bis Anfang 1945 die Provinzen Ostpreußen, Westpreußen (mit Danzig), Pommern und Schlesien bis zur Oder-Neiße-Linie, begannen die noch nicht geflohene deutsche Bevölkerung zu vertreiben und erklärten die besetzten deutschen Gebiete zu sowjetischem bzw. polnischem Staatsgebiet. Diese einseitigen Anspruchserhebungen – die durch den Aufbau polnischer bzw. sowjetischer militärischer und ziviler Strukturen sowie durch Ansiedlungsmaßnahmen zu faits accomplis gemacht wurden – waren völkerrechtlich unwirksam. Eine formale Zwischenlösung erfolgte auf der Potsdamer Konferenz (17. Juli – 2. August 1945), auf der die Westmächte die Unterstellung der deutschen Ostgebiete unter sowjetische bzw. polnische Verwaltungshoheit akzeptierten; dies schloss die Zustimmung zum „geordneten und humanen Transfer“ der noch östlich von Oder und Neiße verbliebenen Deutschen in das deutsche Restgebiet ein. Diese Regelung bedeutete keine völkerrechtliche Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als polnischer Westgrenze, da die endgültige Grenzziehung einer allgemeinen Friedenskonferenz vorbehalten sein sollte, zu der es infolge des Kalten Krieges niemals kam. Die Anerkennung der Grenze durch die DDR im Görlitzer Vertrag vom 6. Juli 1950 wurde von der Bundesrepublik als illegitim abgelehnt. Mit der Gewaltverzichtserklärung im Warschauer Vertrag vom 9. Dezember 1970 sowie in der am 1. August 1975 unterzeichneten KSZE-Schlussakte von Helsinki wurde die Oder-Neiße-Grenze de facto von der Bundesrepublik anerkannt, auch wenn dies noch keinen definitiven Gebietsverzicht implizierte. Dieser und somit die abschließende völkerrechtliche Regelung erfolgte erst nach der deutschen Wiedervereinigung im deutsch-polnischen Grenzvertrag vom 14. November 1990, der im Zwei-plus-Vier-Vertrag vom 12. September 1990 verbindlich postuliert worden war. Die Zugehörigkeit des 1945 von der Roten Armee eroberten nördlichen Ostpreußen (als Kaliningradskaja oblastʼ) zur Sowjetunion bzw. zu Russland ist durch keine vergleichbare völkerrechtliche Regelung begründet; nach der im Potsdamer Abkommen beschlossenen Unterstellung des Gebiets unter sowjetische Verwaltung wurde es am 17. Oktober 1945 annektiert. Durch die Bestimmung des Territoriums des vereinigten Deutschland als Summe der Gebiete der Bundesrepublik, der DDR und Berlins im Zwei-plus-Vier-Vertrag (wobei die Frage des Fortbestands des Reiches in seinen Grenzen von 1937 nicht mehr erörtert wurde) erkannten die beiden deutschen Staaten 1990 diesen Status quo implizit an. Das Memelland wurde 1945 der Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik einverleibt und gehört seit 1991 zur Republik Litauen.

Auch im Westen kam es nach 1945, abgesehen von der Rückkehr Elsass-Lothringens unter französische Kontrolle, zu – allerdings größtenteils nur vorübergehenden – Abtretungen deutschen Gebiets an die Nachbarstaaten. Frankreich versuchte wie nach dem Ersten Weltkrieg erneut, das Saarland an sich zu bringen; hierzu betrieb es 1946 dessen Ausgliederung aus der französischen Besatzungszone und 1947 die Annahme einer eigenen saarländischen Verfassung. De facto wurde das Gebiet politisch und wirtschaftlich von Frankreich kontrolliert. Im Rahmen der Pariser Verträge war Bundeskanzler Konrad Adenauer (1876–1967) 1954 bereit, mit Frankreich das sogenannte (zweite) Saarstatut auszuhandeln, welches das Saarland bis zum Abschluss eines Friedensvertrags „europäisiert“, also faktisch auf Dauer aus dem deutschen Staatsverband herausgenommen hätte. Diese Option wurde jedoch in einer Volksabstimmung am 23. Oktober 1955 von zwei Dritteln der Saarländer abgelehnt; in der Folge wurde das Gebiet am 1. Januar 1957 zum zehnten Bundesland der Bundesrepublik Deutschland. Ebenfalls von Frankreich initiiert wurde das Ruhrstatut von 1949, das die gemeinsame Kontrolle der westdeutschen Kohle- und Stahlindustrie durch die Westmächte und die gerade in Gründung befindliche Bundesrepublik vorsah. Dabei strebte Frankreich anfangs wie im Saarland die Abtrennung der Region von Deutschland an, was aber die USA und Großbritannien im Hinblick auf den ökonomischen Wiederaufbau abwehrten. Das Ruhrstatut wurde 1951 durch die Montanunion (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl) abgelöst. Auch die Beneluxländer versuchten nach 1945, sich durch Gebietsabtretungen für die deutsche Besatzungsherrschaft entschädigen zu lassen. Während Belgien und Luxemburg nur kleine, eher symbolische Ansprüche auf deutsche Grenzbezirke geltend machten, erhoben die Niederlande entlang der gemeinsamen Grenze Gebietsforderungen in einer Größe von ca. 1.840 km², die unter anderem Borkum, Ostfriesland, das Emsland, die Grafschaft Bentheim sowie teils die Städte Osnabrück, Münster, Aachen und Köln einschlossen. Auch hier sorgte der politische Druck der westlichen Hauptmächte dafür, dass der als Alliierter benötigten Bundesrepublik schwerere Verluste erspart blieben; so kam es nach 1949 lediglich für Gebiete in einer Gesamtgröße von ca. 70 km² zur sogenannten niederländischen Auftragsverwaltung, die keine Annexion bedeutete. 1963 kehrten diese Territorien bis auf einige sehr kleine Gebietsstreifen zu Deutschland zurück. Belgien hatte – unter Einschluss eines Gebietstauschs – schon 1958, Luxemburg 1959 alle besetzten Gebiete zurückgegeben.

3. Geschichte und Kultur

Der Weg zur Reichsgründung (1806–1871)

Nach dem durch Napoleon (1769–1821) bewirkten Ende des Alten Reiches 1806 teilten sich die dann nominell souveränen deutschen Staaten in die Mitglieder des direkt von Frankreich abhängigen Rheinbundes einerseits und die mit Napoleon formal gleichrangig verbündeten Mächte Österreich und Preußen andererseits. Im Zuge der Befreiungskriege 1813–1815 fielen die deutschen Vasallen Napoleons zwar nacheinander von diesem ab; sie beharrten aber auf ihrer Eigenständigkeit und widersprachen der Idee einer deutschen Einigung. Der 1815 gegründete Deutsche Bund führte die Reichstradition indirekt fort, tat dies aber ausdrücklich in europäischer Einbindung und auf der Grundlage des monarchischen Prinzips. Bestand ein Hauptzweck des Bundes daher zunächst in der Unterdrückung der nationalen und liberalen Bestrebungen in Deutschland, so wurde er 1848/49 zur rechtlichen und politischen Basis des Versuchs einer demokratischen Reichsneugründung. Einen wesentlichen Faktor bildete dabei die Wandlung des Reichsbegriffs von einer universalistisch-übernationalen hin zu einer nationalen, auf das deutsche Volk bezogenen Interpretation. Dieser primär von bürgerlichen Kreisen getragene Prozess hatte schon im späten 17. und im 18. Jahrhundert angesichts der Loslösung der meisten nichtdeutschen Gebiete vom Heiligen Römischen Reich begonnen und kam in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Abschluss.

Die Integration des Deutschen Bundes in die politische Strategie Otto von Bismarcks (1815–1898) war wesentlich für das letztendliche Gelingen der deutschen Einigung, da sie es erlaubte, die preußische Politik vom Odium partikularistischen Machtstrebens zu befreien und die bürgerliche Öffentlichkeit in Preußen und den anderen deutschen Staaten hinter Bismarck zu sammeln. Zugleich hatten die Erfahrungen von 1848/49 gezeigt, dass die Einigung nur mit dem Einvernehmen der anderen Großmächte und/oder im bewaffneten Kampf gegen sie möglich sein würde. Die Skepsis der im preußischen Landtag nach 1860 stark vertretenen Liberalen gegenüber der unter dem Neuen Kurs betriebenen ‚autoritären Modernisierung‘ und machtpolitisch abgestützten Einigungspolitik in Deutschland äußerte sich vor allem im bekannten Heereskonflikt. Diesen konnte Bismarck politisch letztlich erst infolge der erreichten Erfolge für sich entscheiden. Der populäre gemeinsame Feldzug Preußens und Österreichs gegen Dänemark 1864 illustrierte erstmals dieses Zusammenrücken von Bürgertum und noch immer überwiegend aristokratisch geleiteter zivil-militärischer Staatsgewalt. Die von Bismarck erhofften „moralischen Eroberungen“ kamen dabei in der Tat vor allem Preußen zugute, während sich immer stärker die Unvereinbarkeit der Hausmachtinteressen der Habsburger mit dem nationaldeutschen Einigungsstreben zeigte. Ein wichtiger außenpolitischer Faktor war, dass England und Russland die Entwicklungen im Deutschen Bund zwar unter stabilitätspolitischen Gesichtspunkten aufmerksam verfolgten, aber Bismarcks Zusicherungen akzeptierten, seine Politik werde das Recht der Deutschen auf nationale Einheit in einer Form verwirklichen, die auch den Sicherheitsinteressen der anderen Mächte entgegenkomme. Ohnehin nahm man in Sankt Petersburg/Sankt-Peterburg/Leningrad und London eher das Frankreich Napoleons III. (1808–1873) als Störfaktor wahr.

Der preußische Sieg im deutschen Bundeskrieg von 1866 führte zum endgültigen Ausscheiden Österreichs aus der deutschen Politik und der kleindeutschen Lösung zunächst in Gestalt des 1867 gegründeten Norddeutschen Bundes. Damit einher ging innenpolitisch die Spaltung der liberalen Partei in die sich als Nationalliberale konstituierende Mehrheit, die Bismarck 1866 Indemnität gewährte und ihn (zumindest) bis zum Erreichen der deutschen Einheit unterstützen wollte, und die in der Opposition verbleibenden und sich dadurch auf lange Zeit marginalisierenden Altliberalen. Die unabhängig gebliebenen süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg, Baden und Hessen-Darmstadt schlossen, da Österreich als Schutzmacht nicht mehr zur Verfügung stand, angesichts der französischen Drohhaltung gegenüber dem deutschen Einigungsprozess die defensiven sogenannten Schutz- und Trutzbündnisse mit Preußen, die für den Kriegsfall die Unterstellung ihrer Truppen unter preußischen Oberbefehl vorsahen. Im Juli 1870 trat infolge der französischen Kriegserklärung an Preußen der Bündnisfall ein, der 1871 im gemeinsamen Sieg aller deutschen Staaten endete. Noch vor dem Friedensschluss mit Frankreich wurde durch den Beitritt der süddeutschen Staaten zum Norddeutschen Bund im November 1870 mit Wirkung zum 1. Januar 1871 das Deutsche Reich gegründet.

Die mittel- und osteuropäische Dimension der Reichsgründung

1807 verdankte das von Napoleon geschlagene Preußen seinen – reduzierten – Fortbestand wesentlich der Intervention des Zaren Alexander I. (Aleksandr I, 1777–1825), der einen Puffer zwischen dem russischen Zarenreich und dem expansionistischen Frankreich wünschte. Das 1813 gegen Napoleon geschlossene preußisch-russische Bündnis trug wesentlich zur Rettung des Hohenzollernstaats bei, führte aber nach 1815 auch zu einer langwährenden Abhängigkeit des durch die französische Besatzung und die Kriegslasten erschöpften Preußen von Russland. Im Deutschen Bund übernahm Österreich erneut die Führung der deutschen Staaten. Das „Dritte Deutschland“ war vor allem darauf aus, gegenüber den beiden Großmächten seine Stellung zu wahren, und unterhielt weiterhin enge Verbindungen mit Frankreich und Westeuropa. In Preußen festigte die Erinnerung an die Rückeroberung des Landes vom Osten her die besondere Stellung Ostpreußens mit der Krönungsstadt Königsberg/Kaliningrad und der anderen altpreußischen Provinzen. In der preußischen Innenpolitik erlangte die „polnische Frage“ zunehmende Bedeutung, obwohl sich der Gebietsanteil aus den Teilungen Polens 1815 stark reduziert hatte. In den Provinzen Posen und Westpreußen war es zunächst der polnische Adel, der, ermutigt durch die vorangegangene Phase des von Napoleon geschaffenen Herzogtums Warschau, bestrebt war, seine Stellung als herrschender Stand in einem polnischen Staat wiederzuerlangen. Daher genügten ihm die vom König angebotenen sozialen und funktionalen Privilegien nicht; vielmehr unterstützte er die Aufstände in Russisch-Polen 1830/31 und 1863/64 und schmiedete auch innerhalb Preußens entsprechende Pläne, so 1846.

Die 1848 ausbrechende Revolution offenbarte die hinter der Losung der „Völkerfreundschaft“, die unter anderem in der gemeinsamen Ablehnung der russischen Politik gründete, verborgenen Interessengegensätze von Deutschen und Polen in den preußischen Ostgebieten. Die Polen versuchten, zum Nachteil von Deutschen und Juden, die ausschließliche Kontrolle über die Provinz Posen zu erlangen; ihre militärische Erhebung wurde durch preußische Truppen niedergeschlagen. Die unter anderem hieraus resultierende Abkehr von der „Polenbegeisterung“ des Vormärz äußerte sich auch auf dem Forum der Deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche; deutsche und polnische nationale Interessen sollten vielen fürderhin als unvereinbar erscheinen. Unter den Vorzeichen eines Wandels von einem primär emanzipatorischen zu einem integralen und geopolitischen Nationalismus vollzog sich in den 1870er Jahren die Hinwendung der Liberalen zur preußischen Regierungslinie auch unter dem Gesichtspunkt der strategischen Sicherheit. Für Bismarcks politische Strategie erwies sich die – mehr oder weniger – wohlwollende Neutralität Russlands als wichtiger Faktor. Neben den engen Beziehungen der beiden Dynastien wirkte dabei die russische Verstimmung über das österreichische Eingreifen zugunsten der Westmächte im Krimkrieg. Diese Faktoren und die erwähnten Zusicherungen veranlassten den Zaren, die „revolutionären“ Aspekte der Bismarck‘schen Politik, d. h. die Mobilisierung der bürgerlichen Öffentlichkeit und die Absetzung befreundeter Herrscherhäuser, in Kauf zu nehmen. Russland blieb 1866 neutral und hinderte 1870 Österreich durch eindeutige Drohungen an einem Eingreifen zugunsten Frankreichs. Das Zweite Reich ersetzte 1871 den Deutschen Bund, der als europäische Ausgleichszone offen ausländischen Einflüssen ausgesetzt war, durch einen souveränen Nationalstaat, der anstelle Preußens gleichberechtigt in das Konzert der Mächte eintrat.

Das Kaiserreich (1871–1918)

Das Kaiserreich stellte innenpolitisch einen Kompromiss zwischen den Wertvorstellungen und Interessen der Fürsten einerseits – die mittels ihrer Vertreter im Bundestag die nominellen Souveränitätsträger blieben – und denjenigen des Bürgertums andererseits dar. Letzteres prägte maßgeblich die dynamische Entwicklung des neuen Nationalstaats auf den Gebieten der Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Bildung und pflegte zugleich im Reichstag eine politische Diskussions- und Willensbildungskultur, die die faktischen Grenzen der Parlamentsmacht in der konstitutionellen Monarchie immer weiter dehnte. Zur sozialen Hauptaufgabe wurde die Integration der für die wirtschaftliche Entwicklung essentiell wichtigen Arbeiterklasse, deren politischer Arm, die SPD, sich schrittweise einem reformistischen Kurs annäherte und 1912 die stärkste Reichstagsfraktion stellte. Im Ergebnis zeigte das Reich das oft widersprüchliche Bild eines äußerlich traditionalistischen, noch immer vom Adel dominierten Landes, das gleichwohl innerlich modern war und in mancherlei Hinsicht an der Spitze der allgemeinen europäischen Entwicklung marschierte; in dieser Hinsicht ähnelte es Großbritannien und anderen west- und nordeuropäischen Monarchien. Aufgrund des wachsenden ethnokulturellen Nationsbegriffs gerieten die nationalen und ethnischen Minderheiten (u. a. Polen, Dänen, Elsässer und Lothringer) unter erhöhten Anpassungsdruck. Die strukturellen Hauptprobleme des Kaiserreichs waren jedoch zum einen der Kontrast zwischen den vor allem im Westen gelegenen Industriegebieten und den agrarischen Ostprovinzen, zum anderen die Spannung zwischen den ‚partikularistischen‘ Interessen der preußischen Monarchie und der immer stärker werdenden Eigendynamik des Reiches als Nationalstaat. Außenpolitisch begann das Reich als letzte der großen europäischen Nationen in den 1880er Jahren, Kolonien zu erwerben, und betrieb unter Wilhelm II. (1859–1941) die sogenannte Weltpolitik, die die deutsche Gleichrangigkeit mit Großbritannien, Russland, Frankreich und den USA sichern sollte. Die von Bismarck gepflegte konservative Balancepolitik zur Isolierung Frankreichs verlor nach 1890 an Wirkung, da Russland und England eine wachsende Rivalität zum jungen Reich empfanden. In der Folge bildete sich eine französisch-russische Allianz, während sich Deutschland auf den Dreibund mit Österreich-Ungarn und Italien verwiesen sah. Durch die Entente Cordiale von 1904 und den britisch-russischen Ausgleich von 1907 wurde Deutschland strategisch „eingekreist“, was es durch die Bildung einer strategischen Achse über Bulgarien ins Osmanische Reich („Berlin-Bagdad-Bahn“) zu konterkarieren suchte.

Direkter Auslöser des Ersten Weltkriegs war die Eskalation des österreichisch-serbischen Konflikts, hinter dem der österreichisch-russische Gegensatz stand, die Achillesferse des deutschen Sicherheitssystems. Die Kriegsziele des Deutschen Reichs bestanden 1914 allein in der strategischen Niederringung seiner Gegner und der Sicherung seiner Weltstellung. Seine Kolonien wurden mit Ausnahme Deutsch-Ostafrikas nach kurzer Zeit von den Kriegsgegnern besetzt. In Europa dagegen besetzten deutsche Truppen weite Gebiete verschiedener Kriegsgegner – im Westen Belgiens und Frankreichs, im Osten Russlands (vor allem Russisch-Polen und das Baltikum) sowie im Zusammenwirken mit Österreich-Ungarn bzw. Bulgarien Teile Italiens sowie ganz Serbien und Rumänien. Manche dieser Territorien waren in den verschiedenen damals diskutierten Kriegszielplänen als zukünftige deutsche Einflusszonen vorgesehen, direkte Annexionsideen betrafen jedoch nur kleine, wirtschaftlich interessante Regionen wie die Erzgruben von Longwy und Briey in Französisch-Lothringen. Im Osten wurden weite Teile Ostpreußens 1914/15 von russischen Truppen besetzt; dabei kam es zu zahlreichen Tötungen und Verschleppungen deutscher Zivilisten sowie zur Zerstörung vieler Städte. Jedoch konnten die russischen Truppen 1915 hier ebenso zurückgedrängt werden wie im österreichischen Galizien. In der Folge dieses strategischen Vorstoßes nach Osten und der Weigerung des Zaren Nikolaus II. (Nikolaj II, 1868–1918), einem Separatfrieden zuzustimmen, entstand 1916 die Konzeption der Randstaaten- bzw. Abgliederungspolitik; sie sollte im ethnisch mehrheitlich nichtrussischen Grenzsaum Russlands eine Einfluss- und Pufferzone aus mit Deutschland verbündeten Staaten schaffen (als Teil des Mitteleuropa-Konzepts). Als Vorstufe hierzu wurde 1915 auf überwiegend polnisch, jüdisch, litauisch und belarusisch besiedeltem Gebiet das sogenannte Land Ober Ost (d. h. Befehlsbereich des Oberbefehlshabers an der Ostfront) als – der Idee nach – militärisch-effizient verwalteter Musterstaat eingerichtet, in dem Methoden der wirtschaftlichen, verkehrstechnischen und administrativen ‚Zivilisierung‘ dieses aus westeuropäischer Sicht rückständigen Raums erprobt wurden. Die Proklamation des „Königreichs Polen“ am 5. November 1916 sollte die Errichtung des besagten Gürtels von Klientelstaaten einleiten. Es kam jedoch weder hier noch an anderer Stelle zu einer formalen Annexion feindlichen Territoriums; so gelangten auch verschiedene Ideen zur Angliederung kongresspolnischen Gebiets („Grenzstreifenplan“) nicht zur Ausführung. Trotz dieser Erfolge im Osten und des Ausscheidens Russlands aus dem Krieg führten die materielle Überlegenheit und bessere geostrategische Position der Westmächte sowie der Zusammenbruch der Verbündeten 1918 zur deutschen Niederlage.

Die Weimarer Republik (1918–1933)

Das angesichts des Rückzugs im Westen ab September/Oktober 1918 offenbar werdende Scheitern der militärischen und zivilen Führung, die äußerst angespannte Versorgungslage und die Kriegsmüdigkeit vieler Soldaten und Zivilisten führten am 3. Oktober zum Matrosenstreik in Wilhelmshaven und Kiel und zur anschließenden reichsweiten Revolution, zunächst in Form der Einrichtung von Arbeiter- und Soldatenräten. In dieser Lage wurden der Führung der Sozialdemokratie (seit 1917 gespalten in MSPD und USPD) als einziger Kraft eine Kanalisierung des Geschehens und die Verhinderung eines Bürgerkriegs zugetraut. Daher verfügte der letzte kaiserliche Reichskanzler Max von Baden (1867–1929) am 9. November den Thronverzicht Wilhelms II. und übertrug die Regierungsgewalt dem MSPD-Vorsitzenden Friedrich Ebert (1871–1925). Am selben Tag rief Philipp Scheidemann (1865–1939) die Deutsche Republik aus und kam damit Karl Liebknecht (1871–1919), einem der Führer der linkssozialistischen Spartakusgruppe, zuvor, der eine Räterepublik errichten wollte. Der Kampf gegen die extreme Linke wurde unerwartet zur größten Herausforderung der provisorischen Regierung, des Rats der Volksbeauftragten, die dieser nur durch ein Bündnis mit den alten Eliten des Kaiserreichs, insbesondere der Obersten Heeresleitung (Ebert-Groener-Pakt), und den nach dem Waffenstillstand vom 11. November 1918 entstandenen Freiwilligenverbänden bewältigen konnte. Hierdurch kam es – wie in anderen von Revolutionen geprägten Ländern Europas – zu einer Verschiebung der politischen Fronten und einem konfliktreichen Nebeneinander pro- und antirepublikanischer Kräfte, das sich beispielhaft im sogenannten Flaggenstreit zeigte (Schwarz-Rot-Gold gegen Schwarz-Weiß-Rot). Die prorepublikanischen Parteien SPD, DDP und Zentrum, die 1919/20 bei den Beratungen der Weimarer Nationalversammlung (Inkrafttreten der neuen Verfassung am 14. August 1919) die Mehrheit stellten, sahen sich nicht nur der von der Rechten verbreiteten Dolchstoßlegende ausgesetzt, die das Kausalverhältnis von Niederlage und Revolution 1918 umzukehren versuchte; sondern ebenso bedeuteten der Versailler Vertrag und die alliierte Politik eine durchgängige schwere Belastung für die Effektivität und Legitimation der „Weimarer Parteien“.

Unter Berufung auf die angebliche alleinige deutsche Kriegsschuld wurde das Reich territorial, wirtschaftlich und militärisch erheblich geschwächt und als Kriegsverlierer politisch benachteiligt, was die von den Westmächten postulierte „Neuordnung Europas“ mit einer unübersehbaren Hypothek belastete. Dabei wurden die demokratischen Kräfte in Deutschland, deren Ermächtigung US-Präsident Woodrow Wilson (1856–1924) im Oktober 1918 ausdrücklich gefordert hatte, nicht besser behandelt als die alten kaiserlichen Eliten, was die Glaubwürdigkeit der demokratischen Orientierung in den Augen vieler Bürger untergrub und das Ansehen der Weimarer Republik schwächte. Die Reparationsverpflichtungen und die Gebietsverluste, vor allem im Osten an Polen, sowie die weitgehende militärische Wehrlosigkeit des Reiches führten zu Verbitterung und Bedrohungsgefühlen; hierdurch wurde das Bestreben nach einer Revision der Grenzen zu einer allseitigen Forderung. Allerdings war dies für die prorepublikanischen Parteien nur auf friedlichem Wege denkbar, während die radikale Rechte zumindest rhetorisch einen neuen Krieg nicht ausschloss. Nach vielfältigen Krisen – Kapp-Lüttwitz-Putsch 1920, politische Morde an Matthias Erzberger (1875–1921) und Walther Rathenau (1867–1922), Hyperinflation, kommunistische Aufstände und Hitler-Putsch 1923, Ruhrbesetzung – gelang ab 1924 eine Stabilisierung der wirtschaftlichen und politischen Lage, was den Weimarer Parteien und der Republik eine gewisse Erholung verschaffte („Goldene Jahre“). Außenpolitisch wurde diese Phase von der auf die Wiedererlangung der deutschen Gleichberechtigung ausgerichteten Politik Gustav Stresemanns (1878–1929) geprägt. Der Schwarze Freitag am 25. Oktober 1929 brachte den vorrangig durch amerikanische Kredite finanzierten Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft nach 1918 zum Zusammenbruch. Die nach dem Ende der letzten parlamentarischen Regierung im März 1930 eingesetzten Präsidialkabinette betrieben eine Austeritätspolitik, die zu millionenfacher Arbeitslosigkeit führte. In dieser Lage erreichte die NSDAP bei den Reichstagswahlen vom 14. September 1930 18,3 Prozent gegenüber nur 2,6 Prozent bei den Wahlen von 1928. In geringerem Maß gewann auch die KPD Wählerstimmen dazu, während die SPD, die aber stärkste Partei blieb, und die traditionellen Rechtsparteien DNVP und DVP Verluste erlitten. Während sich in der Folge Teile der DNVP und andere rechte Kräfte offen mit der NSDAP verbündeten, betrieb die KPD auf Geheiß Stalins (1878–1953) seit 1931 eine gegen die Republik und vor allem die Sozialdemokratie gerichtete Kampagne. Die nächste Reichstagswahl am 31. Juli 1932 verschaffte der NSDAP mit 37,3 Prozent ihr bestes in freien Wahlen erzieltes Ergebnis; da sie sich aber einer parlamentarischen Regierung verweigerte, konnte das „Kabinett der Barone“ unter Franz von Papen (1879–1969) keine Mehrheit erlangen. Aufgrund einer Absprache mit Hitler kam es im November 1932 erneut zu Wahlen; dabei erlitt die NSDAP zwar leichte Verluste, aber auch die Mitteparteien wurden weiter geschwächt. Der Versuch des neuen Kanzlers Kurt von Schleicher (1882–1934), durch Bildung einer Querfront die Energie der NS-Bewegung unter Umgehung Hitlers zu nutzen, scheiterte. Nach Schleichers Demission wurde Hitler am 30. Januar 1933 zum Kanzler einer Koalition aus NSDAP und DNVP ernannt; damit war die Weimarer Republik faktisch beendet.

Die NS-Herrschaft (1933–1945)

Der NS-Führung gelang es schnell, ihre konservativen Koalitionspartner zu neutralisieren, die Gewaltenteilung auszuhebeln und auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens eine politische und ideologische Gleichschaltung einzuleiten. Dabei spielten die Einschüchterung politischer Gegner durch SA und SS ebenso eine Rolle wie der verbreitete Überdruss am parlamentarischen System, die Hoffnung auf wirtschaftliche Erholung sowie auch die genuine Begeisterung vieler Deutscher über das harte und (anfangs) erfolgreiche Auftreten Hitlers gegenüber den Garantiemächten des Versailler Vertrags und dessen belastender Bestimmungen. In der Anfangsphase zielte der politische Druck (einschließlich Gewalt) vor allem auf politische Gegner wie Sozialdemokraten und Kommunisten, aber auch Liberale und Konservative, die in die ersten Konzentrationslager zum Zweck „politischer Umerziehung“ verschleppt wurden. Die entscheidende formale Voraussetzung dafür war die am 28. Februar 1933 erlassene „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“, die wichtige Grundrechte suspendierte und für die der in seinen Ursachen nie völlig aufgeklärte Reichstagsbrand vom Vortag den Anlass bot. Nach dem Tode des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg (1847–1934) im August 1934 vereinte Hitler dessen Amt mit seinem eigenen unter dem Titel „Führer und Reichskanzler“; fortan bildete er die oberste Führungsspitze aller staatlichen und Parteiorganisationen im Kontext der entstehenden „Polykratie“. Dabei trat der dem nationalsozialistischen Begriff von Dynamik entsprechende „Maßnahmenstaat“ neben den formal weiterbestehenden Institutionenstaat, indem Hitler hochrangigen NS-Vertretern oder Parteiorganisationen staatsartige Aufgaben übertrug. Zur wichtigsten Ausprägung dieser Herrschaftsform wurde das hochgradig autonome ‚Imperium‘ der SS unter Heinrich Himmler (1900–1945) und Reinhard Heydrich (1904–1942), dessen Zentrale ab 1939 das „Reichssicherheitshauptamt“ (RSHA) in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße war. Die SS wurde auch zum Hauptakteur der ab 1933 zunächst noch teils verhalten bzw. nichtöffentlich, später immer offensiver betriebenen Verdrängung, Verfolgung und Ermordung von als „lebensunwert“ oder „rassefremd“ eingestuften Bevölkerungsgruppen. Die Juden als größte Opfergruppe konnten sich im Reich zwar noch bis ca. 1942/43 offiziell organisieren, wurden aber bereits ab 1933 schrittweise aus dem Berufsleben und dem öffentlichen Raum verdrängt. Neben Berufsverboten, Ausgrenzungskampagnen und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit wurden zahlreiche jüdische Unternehmen „arisiert“. Bis 1938 zielten diese Maßnahmen vor allem darauf ab, die deutschen (und österreichischen) Juden zur Emigration zu nötigen; dies gipfelte in der "Reichskristallnacht" (heute auch "Reichspogromnacht", "Pogromnacht", "Novemberpogrome") am 9. November 1938, als zahlreiche Synagogen und andere jüdische Einrichtungen zerstört und viele Juden verhaftet wurden. Mit dem Kriegsbeginn im September 1939 waren für die Juden und andere bedrohte Gruppen die meisten Fluchtrouten versperrt; ausgehend von Polen (Generalgouvernement und eingegliederte Gebiete) begann im besetzten Europa der Aufbau des weitverzweigten Lager- und Ghettosystems, das zunächst zur räumlichen Isolierung und wirtschaftlichen Ausbeutung jüdischer und anderer Häftlinge diente. Später, vor allem in der „Aktion Reinhardt“ ab Juli 1942, wurden von hier aus bzw. unter Nutzung dieser Strukturen die Transporte in die im Generalgouvernement gelegenen Vernichtungslager organisiert.

Diese gegen verschiedene soziale und ethnische Gruppen gerichtete Vernichtungspolitik war nur unter Einsatz kriegerischer Mittel umsetzbar. Die besetzten Länder wurden nach Maßgabe der NS-eigenen ‚Rassenhierarchie‘ sehr unterschiedlich behandelt, generell diejenigen im Westen und Norden besser als diejenigen im Osten und Südosten Europas. Hitlers territoriales Hauptziel war es, die Sowjetunion niederzuwerfen, das dortige bolschewistische Regime zu vernichten und Deutschland – bzw. der nie präzise definierten „arischen Rasse“ – ein auf die eurasische Landmasse gestütztes Imperium zu verschaffen (Russland als „deutsches Indien“). Dabei identifizierte er den Bolschewismus als von Juden errichtetes Herrschaftssystem, was in der Konsequenz zur Planung der physischen Vernichtung der Juden in Europa führte. Analog hierzu wurden, nachdem Hitlers Versuch eines Bündnisses mit den „artverwandten“ Staaten des Westens gescheitert war, vor allem Großbritannien und die USA als jüdisch kontrolliert dargestellt. Diese primär ideologische Begründung ließ die Ausweitung des von Hitler avisierten Kampfes zu einem neuen Weltkrieg unvermeidlich erscheinen. Hierzu kam es 1941 durch den deutschen Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni und die Kriegserklärung Deutschlands und Italiens an die USA am 11. Dezember, denen als ‚inneres Pendant‘ im Januar 1942 die Wannsee-Konferenz folgte. Durch die militärische Eskalation überspannten die Achsenmächte ihre strategischen Möglichkeiten und setzten die 1939/40 erzielten Erfolge aufs Spiel; ähnlich wie im Ersten Weltkrieg mussten mit Dauer des Krieges die weit überlegenen Ressourcen der Alliierten (zumal der USA) zur Niederlage der Achse führen. Trotz vieler operativer Erfolge 1941/1942 gelang es nicht, die Sowjetunion oder Großbritannien auszuschalten; mit dem Untergang der 6. Armee bei Stalingrad und den Rückschlägen in Afrika geriet die Achse 1943 in die strategische Defensive. Trotz oder gerade wegen der sich abzeichnenden Niederlage erreichte der industrielle Mord an den Juden 1943/44 seinen Höhepunkt. Ab Januar 1945 besetzten die Alliierten gegen heftigen Widerstand schrittweise das Reichsgebiet. Am 30. April beging Hitler im Führerbunker Selbstmord, am 7. bzw. 8. Mai (laut Moskauer Zeit am 9. Mai) wurde in Reims bzw. Berlin-Karlshorst die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht unterzeichnet. Nach der Verhaftung der letzten, in Flensburg ansässigen Reichsregierung unter Karl Dönitz (1891–1980) am 23. Mai übernahmen die Alliierten in der Berliner Erklärung vom 5. Juni die Regierungsgewalt in Deutschland; damit war die Souveränität Deutschlands auf unbestimmte Zeit suspendiert. In den Nachkriegsjahrzehnten und angesichts der Gründung der Bundesrepublik und der DDR setze eine Debatte ein, ob das Deutsche Reich fortbestehe und welcher deutsche Staat dessen Rechtsnachfolge beanspruchen könne. In seinem Urteil vom 31. Juli 1973 zum Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR (unterzeichnet am 21. Dezember 1972) stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass sich das Deutsche Reich zwar 1949 organisatorisch in zwei Staaten aufgegliedert habe, aber völkerrechtlich fortexistiere. Die Bundesrepublik sei zwar in ihrer staatsrechtlichen Wirksamkeit auf den Geltungsbereich des Grundgesetzes begrenzt, fühle sich aber verantwortlich für das ganze Deutschland. Die DDR gehöre zu Deutschland und könne im Verhältnis zur Bundesrepublik nicht als Ausland angesehen werden. Die SED-Führung hatte nach 1949 lange Zeit ihrerseits das Ziel der Wiedervereinigung verfolgt und die DDR als historisch legitimierten Kern des wiederherzustellenden Nationalstaats betrachtet. Seit den 1970er Jahren – insbesondere seit dem Grundlagenvertrag – ging sie aber dazu über, die Bundesrepublik als Ausland zu betrachten, und lehnte den Gedanken einer Rechtsnachfolge bzw. -identität der DDR mit dem Reich kategorisch ab. Die deutsche Wiedervereinigung und der Zwei-plus-Vier-Vertrag 1990 lösten abschließend die Frage des Vertretungsanspruchs für das gesamte Deutschland.

4. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung, hrsg. v. Rainer A. Müller.
    Bd. 7: Vom Deutschen Bund zum Kaiserreich 1815–1871, hrsg. v. Wolfgang Hardtwig und Helmut Hinze, Stuttgart 1997.
    Bd. 8: Kaiserreich und Erster Weltkrieg 1871–1918, hrsg. v. Rüdiger vom Bruch und Björn Hofmeister, Stuttgart 2000.
    Bd. 9: Weimarer Republik und Drittes Reich 1918–1945, hrsg. v. Heinz Hürten, Stuttgart 1995.
  • Ulrich Herbert: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. München 2014.
  • Frank-Lothar Kroll: Geburt der Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur vor dem Ersten Weltkrieg. Berlin 2013.
  • Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800–1918. München 1998, Neuausgabe München 2013.
  • Wolfgang Hardtwig (Hg.): Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933. München 2007.
  • Helmut Walser Smith (Hg.): The Oxford Handbook of Modern German History. Oxford University Press 2011.
  • William W. Hagen: German History in Modern Times. Four Lives of the Nation. Cambridge University Press 2012.
  • Martin Kitchen: A History of Modern Germany 1800–2000. 2nd edition, London 2011.
  • Jean Solchany: L’Allemagne au XXe siècle entre singularité et normalité. Paris 2003.
  • Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. 2 Bände, München 2000.
  • Heinrich August Winkler: Vom linken zum rechten Nationalismus. Der deutsche Liberalismus in der Krise von 1878/79. In: Geschichte und Gesellschaft, 4. Jg., H. 1, Liberalismus im aufsteigenden Industriestaat (1978), S. 5–28.

Periodika

  • Historische Zeitschrift
  • Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte
  • Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History
  • Geschichte und Gesellschaft
  • Archiv für Sozialgeschichte
  • Archiv für Kulturgeschichte
  • Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte
  • German History
  • Central European History
  • Revue d'Allemagne et des Pays de langue allemande

Weblinks

Zitation

Jens Boysen: Deutschland/Deutsches Reich. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2020. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32614 (Stand 05.10.2020).

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(Stand: 19.01.2024)  | 
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