Protektorat Böhmen und Mähren

1. Toponymie

Deutsche Bezeichnung

Protektorat Böhmen und Mähren

Anderssprachige Bezeichnung

tschech. Protektorát Čechy a Morava; tschech. (Spottname) „Protentokrát“ [„für dieses Mal“, „bis auf Weiteres“]

Etymologie

Der üblichen Definition nach ist ein Protektorat ein teilsouveränes staatliches Territorium, dessen auswärtige Vertretung und Landesverteidigung einem anderen Staat durch einen völkerrechtlichen Vertrag unterstellt sind. Als Vorbild für die Gestaltung des Protektorats Böhmen und Mähren galt der Vertrag von La Marsa vom 8. Juni 1883, in dem das Protektorat Frankreichs im Rahmen seiner Kolonialherrschaft über Tunesien verankert wurde.

2. Geographie

Lage

Das Protektorat Böhmen und Mähren entstand durch ‚Führererlass‘ vom 16. März 1939 auf dem vom nationalsozialistischen Deutschland am Vortag besetzten Gebiet der Tschechoslowakei, die bereits am 30. September 1938 durch das Münchner Abkommen um ihre mehrheitlich von deutscher Bevölkerung bewohnten Grenzgebiete reduziert worden war. Es umfasste eine Fläche von 49.363 Quadratkilometern. Die Grenzen des Protektorats entsprachen den schon in München auf der Basis einer angeblichen Sprachgrenze getroffenen Bestimmungen – orientierten sich also weder an der geographischen Gestaltung der Landschaft noch an wirtschaftlichen oder militärischen Kriterien.

3. Geschichte und Kultur

Gebräuchliche Symbolik

Die Symbolik des dem Reich untergeordneten staatlichen Gebildes bezog sich auf die der zerstörten Tschechoslowakei: die Fahne hatte drei Streifen in Weiß, Rot und Blau, im Wappen wurde der böhmische Löwe mit dem Adlerweibchen in den Farben der Fahne kombiniert.

Zeitgeschichte

Die Besetzung der verbliebenen Tschecho-Slowakischen Republik (die Slowakei hatte sich einen Tag zuvor für unabhängig erklärt) fand bis auf kleine Ausnahmen kampflos statt. Das Territorium war nach der Abtretung der Grenzfestungskette an Deutschland infolge des Münchner Abkommens kaum noch zu verteidigen. Die entscheidende Macht in dem besetzten Gebiet wurde von Reichskanzler Adolf Hitler in die Hände des ‚Reichsprotektors’ gelegt, bei dessen Amt auch die Zentralstelle der deutschen Staatspolizei errichtet wurde. .

Gleich nach der organisatorisch gut vorbereiteten Besetzung startete die Gestapo das „Unternehmen Gitter“ mit dem Ziel, kommunistische und sozialdemokratische Funktionäre, politische Emigranten aus Deutschland und einige berühmte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und der Kunstszene als Geiseln zu internieren. In dem „Unternehmen Albrecht I.“ wurde Anfang September diese präventive Verhaftungspraxis weiterentwickelt, um die tschechische Gesellschaft einzuschüchtern und vor Widerstand gegen die Besatzungsmacht abzuschrecken. So war es seit Ende April zu einer Reihe von großen, durch historische Jahrestage (etwa den Todestag von Jan Hus) ausgelöste bzw. durch die Kirche organisierte Massenversammlungen mit zehntausenden von Bürgern gekommen, die einen nationaltschechischen, teils offen antideutschen Charakter besaßen.

Besonders große Demonstrationen fanden am 28. Oktober 1939, dem Jahrestag der Gründung der Tschecho-Slowakischen Republik, statt. Den Massendemonstrationen im Zentrum von Prag/Praha begegnete die deutsche Polizei mit dem Einsatz von Schusswaffen. Der Begräbniszug für den erschossenen Studenten Jan Opletal (1915–1939) wurde am 17. November zum Anlass für neue – von der deutschen Polizei verbotene und gleichzeitig durch Studenten der deutschen Hochschulen gezielt provozierte – tschechische Studentendemonstrationen. Die schon im Vorfeld vorbereitete Reaktion des Besatzungsregimes war hart: In den Nachtstunden wurden neun leitende Funktionäre aller beteiligten Studentenvereine verhaftet und erschossen, eine umfangreich Verhaftungsaktion in Prag, Brünn/Brno und Pribram/Příbram mündete in den Transport von 1.300 Studenten in das Konzentrationslager Sachsenhausen-Oranienburg, wo sie mehrere Jahre interniert blieben. Am nächsten Tag wurde die Entscheidung Hitlers verkündet, zur Strafe die tschechischen Hochschulen für drei Jahre zu schließen. Die Tatsache, dass deren Gebäude mit der gesamten  Ausstattung sogleich den deutschen Hochschulen übergeben wurden, deutete an, dass diese Schließung von Dauer sein sollte.

Eine Steigerung des Terrors im Protektorat brachte der Wechsel in der Person des höchsten Repräsentanten des Deutschen Reiches in Prag: Am 27. September 1941 übernahm Reinhard Heydrich (1904–1942) die Funktion des (stellvertretenden) Reichsprotektors. In einer Geheimrede informierte er die führenden deutschen Amtsvertreter über das Konzept der geplanten Vernichtung des tschechischen Volkes nach dem Kriegsende. Seit seinem Amtsantritt ging Heydrich offensiv gegen resistentes Verhalten der tschechischen Protektoratsregierung und besonders gegen den tschechischen Widerstand vor. Er erklärte den Ausnahmezustand, verhängte das Standrecht, startete eine Verhaftungswelle, von der u. a. der Ministerpräsident der Protektoratsregierung, General Alois Eliáš (1890–1942) betroffen war, und ordnete Erschießungen von Angehörigen der tschechischen Eliten an.

Mit Heydrich verschärfte sich auch die Lage der Juden im Protektorat dramatisch. Nachdem aus der barocken Festungsstadt Theresienstadt/Terezín alle Einwohner ausgesiedelt worden waren, traf am 24. November 1941 das erste jüdische Aufbaukommando ein, um hier ein riesiges Ghetto für die Juden aus ganz Mitteleuropa zu errichten. Insgesamt kamen 139.517 Juden – davon 73.468 aus dem Protektorat – nach Theresienstadt. 33.521 von ihnen starben hier, 87.000 wurden in die Vernichtungslager im Osten weitertransportiert.

Durch eine Kombination von Terror und sozialen Versprechungen zugunsten der Arbeiter versuchte Heydrich die Leistung der kriegswichtigen Wirtschaft des Protektorats zu steigern. Er initiierte einen anfangs noch vermeintlich „freiwilligen“, später aber offen erzwungenen Arbeitseinsatz von Tschechen im Deutschen Reich. Insgesamt waren 640.000 Tschechen davon betroffen, 6.000 von ihnen kamen dabei ums Leben, 60.000 starben unmittelbar nach ihrer Rückkehr an den Folgen der Zwangsarbeit.

Die größte Repressionswelle erreichte das Protektorat nach dem gelungenen Attentat auf Heydrich am 27. Mai 1942 durch Fallschirmagenten der tschechoslowakischen Auslandsarmee, die im tschechischen Netzwerk des Widerstands Unterstützung und Unterschlupf fanden, bis sie infolge eines Verrats von der Gestapo entdeckt wurden und im Kampf starben. In der sog. „Heydrichiade“,der Vergeltungsaktion für das Attentat, wurden im Rahmen des Sonderrechts im Juni und Juli 1942 viele der bisher verhafteten Geiseln, Vertreter der tschechischen Eliten, Mitglieder des Widerstandes, Familienmitglieder von Exilsoldaten sowie sämtliche Einwohner der Dörfer Lidice und Ležáky und Hunderte Bürger, welche für eine „Bejahung des Attentates“ verhaftet wurden, ohne Gerichtsverfahren hingerichtet. Insgesamt rechnet man mit 1.585 erschossenen Tschechen im Protektorat und mit weiteren Hinrichtungen in den Konzentrationslagern. Die Gesamtzahl der Opfer liegt bei etwa 5.000. Die größte Mordaktion an tschechischen Bürgern fand am 8. März 1944 in Auschwitz statt, als in einer Nacht 5.000 tschechische Juden des so genannten „Familienlagers“ vergast wurden.

Das nahende Kriegsende führte zahlreiche deutsche Flüchtlinge, sog. „Nationalgäste“, vor allem aus Schlesien, in das Protektorat sowie eine Reihe von Todesmärschen von Häftlingen aufgelöster Konzentrationslager, die hier teilweise exekutiert wurden. Nach der schweren Schlacht um Ostrau/Ostrava und nach der Eroberung von Brünn durch die Rote Armee am 26. April 1945 wurde der „Böhmische Kessel“ (Česká kotlina) für 900.000 Soldaten der Armeegruppe Mitte des Feldmarschalls Ferdinand Schörner (1892–1973) als „Festung“ ausgebaut. Zwischen dem 25. April und dem 6. Mai wurde Westböhmen inklusive Pilsen/Plzeň durch die US-Army befreit. Eine zu optimistische Einschätzung der Situation führte zu einer Reihe von lokalen tschechischen Aufständen in Ostböhmen und im Elbegebiet. Sie wurden brutal niedergeschlagen. Am 5. Mai begann spontan und in der Anfangsphase noch unorganisiert der Prager Aufstand, dessen Leitung die der Tschechische Nationalrat (Česká národní rada) unter dem Vorsitz von Albert Pražák (1880–1956) übernahm. Der Militärbefehlshaber der Aufständischen war General Karel Kutlvašr (1895–1961). Die Kämpfe mit der Armee und den Verbänden der Waffen-SS dauerten bis zum 8. Mai. Die Wehrmacht kapitulierte und erhielt vom Tschechischen Nationalrat freien Abzug in die amerikanische Gefangenschaft. Letzte SS-Stützpunkte liquidierte die Rote Armee, deren Panzereinheiten Prag am 9. Mai 1945 erreichten.

Verwaltung

Oberster Repräsentant des Protektorates war der Staatspräsident. Der vorherige Präsident der territorial bereits reduzierten Tschechoslowakei Emil Hácha (1872–1945) blieb auch nach der Besatzung in seiner Funktion und behielt dieses Amt in der ganzen Protektoratszeit bis zum 8. Mai 1945. Er war von der Gunst Hitlers bzw. des Reichsprotektors als seines Vertreters abhängig. Die von dem Staatspräsidenten ernannte Protektoratsregierung musste vom Reichsprotektor bestätigt werden, der zudem das Recht besaß, alle Gesetze, Erlasse und Gerichtsurteilemit seinem Veto zu belegen. Die tschechoslowakische Verfassung blieb formell in Kraft, das Parlament wurde aber aufgelöst, wie auch alle politischen Parteien. Die Protektoratsregierung, die auf der Basis des Ermächtigungsgesetzes Nr. 330/1938 agierte, das durch Erlass des Reichsprotektors vom 12. Dezember 1940 für zeitlich begrenzt erklärt wurde, durfte keine Gesetze, sondern nur Regierungserlasse verabschieden. Auch diese konnten vom Reichsprotektor verändert, mit einem Veto belegt oder durch eigene Erlasse ersetzt werden.

Der erste Reichsprotektor in Prag war Konstantin von Neurath (1873–1956), der in dieser Funktion de facto bis zum Sommer 1941, formell bis zum Jahre 1943 verblieb. Der SS-Obergruppenführer und Polizeigeneral Reinhard Heydrich übernahm am 27. September 1941 als stellvertretender Reichsprotektor faktisch dessen Position. Nach dem Tode Heydrichs wurde SS-Oberst-Gruppenführer und Oberster Befehlshaber der Ordnungspolizei Kurt Daluege (1897–1946) als sein Nachfolger nach Prag geschickt, um jeden Widerstand im Protektorat zu brechen. Eine für das Schicksal der besetzten Gesellschaft eigentlich noch wichtigere Rolle spielte der Staatssekretär im Amt des Reichsprotektors und Befehlshaber der Polizei, SS-Gruppenführer Karl Hermann Frank (1898–1946), seit den 1930er Jahren eine Leitfigur der sudetendeutschen Nationalsozialisten. Im August 1943 wurde er zum Deutschen Staatsminister für Böhmen und Mähren ernannt. Dadurch wurde die gleichzeitig nur formell mit dem im Deutschen Reich entmachteten früheren Reichsinnenminister Wilhelm Frick (1877–1946) besetzte Funktion des Reichsprotektors de facto beiseitegeschoben und bis zum Kriegsende alle Macht in Franks Händen konzentriert.

Die Protektoratsregierung wurde erst mit einigem zeitlichen Abstand nach der deutschen Besetzung konstituiert. Bis zum 27. April 1939 regierte unter dem neuen Namen noch die letzte tschechoslowakische Regierung unter dem Agrarier Rudolf Beran (1887–1954) weiter. Die erste vom Staatspräsidenten neu ernannte Regierung des Protektorats leitete bis zu seiner Verhaftung am 28. September 1941 Alois Eliáš, den dann bis zum 19. Januar 1942 Justizminister Jaroslav Krejčí (1892–1956) vertrat. Krejčí dirigierte auch die weitere, auf Initiative Heydrichs eingesetzte Regierung, die bis zum 19. Januar 1945 tätig war. In dieser Regierung wurde das neu geschaffene Ministerium für Arbeit und Wirtschaft einem Reichsdeutschen, dem SS-Brigadeführer Walter Bertsch (1900–1952), anvertraut. Die Arbeitssprache der Regierung wurde Deutsch, so dass Bertsch ihre Tätigkeit kontrollieren konnte. Zu seinen Hauptaufgaben gehörte die Organisation des  tschechischen Arbeitseinsatzes  im Deutschen Reich. Die letzte Protektoratsregierung leitete seit dem 19. Januar 1945 der bisherige Innenminister und Stellvertreter des Ministerpräsidenten, Richard Bienert (1881–1949); Krejčí blieb sein Stellvertreter.

Im Rahmen dieser dualen Regierungsstruktur bemühte sich  die tschechische Exekutive, die in den inneren Angelegenheiten (Justiz, Inneres, Finanzen, Öffentliche Arbeiten, Landwirtschaft, Handel, Gesundheit und Erziehung) mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet war, besonders in den ersten Jahren der Okkupation, aber auch später, systematisch zugunsten der eigenen Gesellschaft zu wirken und sogar mit  politischen Widerstandsgruppen zu kooperieren. Sie stand mit der Londoner Exilregierung in Verbindung und wirkte beschützend für die tschechische Bevölkerung. Tatsächlich konnte die Regierung den NS-Terror, der in anderen besetzten Gebieten im Osten Europas dramatisch eskalierte, abmildern und für die Gesellschaft relativ lange mehr oder weniger erträgliche Lebensbedingungen im Alltag sicherstellen. Die Gestapo besaß jedoch von den oppositionellen Aktivitäten der Regierung und den konservativ-nationalistischen tschechischen Eliten so weit Kenntnis, dass sie nach der Ankunft Heydrichs ihre Netze schnell und tiefgreifend zerschlagen konnte. Trotzdem war die Lage im Protektorat allgemein eher mit der Situation der besetzten Länder West- und Nordeuropas vergleichbar als mit der von Polen, Jugoslawien oder der Ukraine, die zu Schauplätzen von Völkermorden wurden.

Bevölkerung

1939 lebten 7,38 Mio. Einwohner im Protektorat. Infolge des Münchner Abkommens waren die meisten Einwohner des neuen Gebildes Tschechen. Nur 240.000 Menschen (3,25 Prozent) gehörten zur deutschsprachigen Minderheit. Die meisten deutschsprachiger Protektoratsbürger wohnten in den größeren städtischen Zentren (besonders in Prag, Brünn, Iglau/Jihlava, Olmütz/Olomouc), auf dem Lande besonders in der Gegend um Iglau.

Zur deutschen Minderheit wurden bis zum Erlass einer Serie von Vorschriften des Reichsprotektors vom 21. Juni 1939 auch die deutschsprachigen Juden gezählt. Nach amtlichen deutschen Angaben und Definition der Nürnberger Gesetze lebten im Protektorat insgesamt 118.310 Juden (davon 88 Prozent praktizierende). Nur etwa 30.000 gelang bis Ende 1940 die legale oder illegale Ausreise.

Wirtschaft

Die böhmisch-deutschen Wirtschaftsverflechtungen waren traditionell eng. Nach der Besatzung vergrößerte sich die deutsche Rolle in der Ökonomie des Protektorats wesentlich. Deutsche Banken und die Großindustrie, allerdings auch kleinere von Nationalsozialisten geführte Unternehmen profitierten von der „Arisierung“ jüdischen Eigentums und übernahmen Betriebe von Emigranten oder von wegen Untergrundarbeit verhafteten Bürgern. Seit September 1940 gehörte das Protektorat zum Zollgebiet des Deutschen Reiches. Nach Schätzungen verzehnfachte sich der deutsche Kapitalanteil im Protektorat zwischen 1939 und 1945.

Seit März 1939 wurden in vielen Betrieben deutsche Treuhänder eingesetzt. Die wichtigsten Firmen der Schwer- und Rüstungsindustrie (z. B. die Eisenwerke Vitkovitz und Poldi Kladno, die Pilsener Škoda-Werke und die Waffenfabrik Zbrojovka Brno) standen unter Reichskontrolle. Viele große Firmen blieben zwar formell selbständig, hatten aber durch Reichsbeteiligungen und die Eingliederung in Rüstungsprojekte jegliche Entscheidungsfreiheit verloren. Eine Zwangskonzentration der Leicht- und Lebensmittelindustrie ermöglichte es, viele tschechische Betriebe in Nebenbetriebe kriegswichtiger Rüstungskonzerne umzuwandeln. Der erste Schritt in diese Richtung erfolgte Anfang 1942 noch unter Heydrich, der zweite nach Erklärung des ‚totalen Krieges‘ 1943.

Seit Kriegsbeginn musste das Protektorat eine „Kriegssteuer“ an das Deutsche Reich zahlen – sie belief sich anfangs auf drei Milliarden Protektoratskronen jährlich, 1944 bereits auf 12 Milliarden.

Militärgeschichte

Die Armee der ehemaligen Tschechoslowakei wurde nach der Besatzung aufgelöst. Ihre Waffen und Magazine übernahm die deutsche Wehrmacht. Die Protektoratsregierung behielt eine Regierungstruppe (Vládní vojsko) mit 6.000 Soldaten und Offizieren aus den Reihen ehemaliger Berufssoldaten. Aufgabe der schwach ausgerüsteten Regierungstruppe war offiziell die Sicherung der inneren Ordnung im Protektorat. Angesichts der Unberechenbarkeit und Kooperationsunwilligkeit dieser Truppe wurden 5.000 Soldaten und Offiziere auf Initiative Franks im Mai 1944 zum Wachdienst und Kampf gegen Partisanen nach Norditalien geschickt. Dort desertierten 800 Soldaten, die übrigen wurden im Oktober 1944 entwaffnet und zum Arbeitseinsatz in die Alpen verbracht. Das in Prag belassene Bataillon der Burgwache kämpfte im Prager Aufstand auf Seiten der Aufständischen.

Militärisch ungleich wichtiger waren die tschechoslowakischen Exilarmeen in Großbritannien und in der Sowjetunion. Seit 1944 entstanden im Protektoratsgebiet auch größere Partisanengruppen und -verbände. Schon bei Besatzungsbeginn hatten sich mehrere – politisch differenzierte – Untergrundorganisationen formiert. Sie hatten politische, nachrichtendienstliche und auf Sabotage ausgerichtete Ziele, zu denen in der letzten Kriegsphase auch die Vorbereitung eines größeren Aufstandes gehörte. Die erste derartige Organisation, die „Politische Zentrale“ (Politické ústředí), entstand bereits nach dem Münchner Abkommen und wurde schon 1940 durch die Gestapo vollständig vernichtet. Der „Petitionsausschuss - Wir bleiben treu“ (Petiční výbor věrni zůstaneme, PVVZ) war sozialistisch orientiert, die Obrana národa (Nationalverteidigung) vereinigte ehemalige Berufssoldaten. Zu Jahresbeginn 1940 entstand das Ústřední vedení odboje domácího (UVOD, Zentralleitung des Heimatwiderstandes) als Koordinierungsorgan des westlich orientierten Widerstandes. Ein weiteres Netzwerk des kommunistischen Widerstandes konstituierte sich seit dem deutschen Überfall auf die UdSSR. Ein Problem war die nur begrenzte Fähigkeit dieser und vieler weiterer kleinerer Gruppen, eine wirksame Abwehraufklärung zu betreiben, so dass die Gestapo gegen sie vorgehen konnte.

Gesellschaft

Sämtliche politischen Parteien wurden nach der Besetzung aufgelöst. Auf Initiative des Staatspräsidenten entstand am 6. April 1939 die ausschließlich Männern vorbehaltene Einheitspartei „Nationale Gemeinschaft“ (Národní souručenství) als einzige erlaubte Partei, in der über 97 Prozent der erwachsenen Männer zusammengeschlossen wurden. Ihre Aufgabe war lediglich die Unterstützung des Präsidenten und der Protektoratsregierung. Nach anfänglichen Versuchen, diese Organisation als Basis für den Widerstand zu nutzen, ersetzten die Besatzer 1941 die gesamte Leitung durch Kollaborateure. Die Partei, der auch die Presse unterstellt wurde, wurde am 15. Januar 1943 aufgelöst bzw. weiter in eine kulturelle Propaganda-Organisation umgewandelt. Die Kollaboration mit dem NS-Regime war ähnlich wie in westeuropäischen Ländern: Nach Kriegsende fanden etwa 10.000 Gerichtsprozesse gegen Bürger auf der Basis der Dekrete des tschechoslowakischen Exil-Präsidenten Edvard Beneš statt. 740 Kollaborateure wurden hingerichtet; dies ist im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung die höchste Quote in Europa.

Die Gesellschaft hatte mit der kriegsüblichen Not zu kämpfen. Bereits im September 1939 wurden Lebensmittelrationen eingeführt: Lebensmittelkarten mit der Bezeichnung „D“ garantierten den Deutschen die höchsten Zuteilungen. Die Nahrungsrationen, zu deren Bezug die mit „T“ für Tschechen gekennzeichneten Karten berechtigten, lagen deutlich niedriger. Die geringste Zuteilung erhielten die Juden, deren Karten mit „J“ markiert waren. Dass die D- und T-Karten 1941 vereinigt wurden, war Bestandteil von Heydrichs Werbung für eine Erhöhung der Arbeitsleistung unter der tschechischen Bevölkerung. Weitere Karten gab es seit Ende 1939 für Bekleidung. Die Landwirte bekamen gekürzte Rationen und mussten vorgeschriebene Produktabgaben für festgelegte Preise liefern. Eine Konsequenz dieser Maßnahmen war die Entstehung eines zwar drakonisch verfolgten, aber dennoch florierenden Schwarzmarktes.

Unter schlimmsten Umständen lebten die Juden, die seit dem Münchner Abkommen von 1938 Schritt für Schritt aus der Mehrheitsgesellschaft ausgegrenzt wurden. Die Ausschließung der Juden aus dem öffentlichen Raum und Leben verschärfte sich radikal nach Heydrichs Antritt. Vielen Tschechen, die trotz aller Erlasse weiter mit Juden kommunizierten, bei ihnen einkauften oder sich von jüdischen Ärzten behandeln ließen, drohten hohe Strafen.

In der tschechischen Gesellschaft verschärfte sich besonders die Lage der jungen Bildungsschichten: Auf Initiative des Reichsprotektors wurde seit 1942 die Zahl der tschechischen Mittelschulen systematisch reduziert. Dies hatte zur Folge, dass die Zahl von 85.000 Mittelschülern im Jahr 1939 auf 35.000 im Jahr 1944 zurückging. Die Schließung der Hochschulen ging mit der Zuweisung Tausender Abiturienten in die Industrie oder in den „Totaleinsatz“ im Deutschen Reich einher.

Religions- und Kirchengeschichte

Die dominierende Konfession im Protektorat war die katholische, obwohl sich auch die früher Tschechoslowakische (Církev československá), im Protektorat dann sich Böhmisch-mährisch (Církev českomoravská) nennende protestantische Kirche mit etwa 800.000 Mitgliedern behauptete. Als Hauptaufgabe wies das NS-Regime den christlichen Kirchen die Ausstellung der Ariernachweise bzw. der Nachweise verschiedener Grade jüdischer Abstammung entsprechend der Nürnberger Rassegesetze zu, die sich auf die Angaben der Kirchenmatrikel stützten. Diskriminiert und in späteren Phasen der Verfolgung in die Lager deportiert wurden auch die nach den Nürnberger Gesetzen als ‚Mischlinge’ Bezeichneten sowie die christlichen Ehepartner der als jüdisch eingestuften Bürger, die sich nicht scheiden ließen.

Reichsprotektor Heydrich ließ am 29. September 1941 alle Synagogen und jüdischen Gebetsräume als „Versammlungsstellen der destruktiven Kräfte“ schließen. Die jüdischen Gemeinden wurden nach und nach aufgelöst, die meisten der 88.000 registrierten Juden, denen eine Ausreise nicht gelungen war, schrittweise in Prag konzentriert und dann seit dem 16. Oktober 1941 in Transporten entweder direkt in die Vernichtungslager im Osten oder seit 1942 nach Theresienstadt als Zwischenstation deportiert. Das Eigentum der Gemeinden wurde konfisziert und in den vom Reichsprotektor gegründeten Auswanderungsfonds für Böhmen und Mähren überführt. Die historisch oder kunsthistorisch wertvollen Gegenstände (Bücher, Devotionalien usw.) wurden im Prager Jüdischen Museum deponiert und katalogisiert, als Exponate für ein künftiges „Museum einer ausgestorbenen Rasse“.

Kultur

Die Kultur gewann im Protektorat symbolische Bedeutung, als letzte Bastion der tschechischen Nation. Das nationalsozialistische Protektoratsregime eliminierte in hohem Maße – wenn auch wenigerkonsequent als in Deutschland – avantgardistische Kultur, die in der Zwischenkriegszeit in der Tschechoslowakei floriert hatte. Die Gesellschaft wandte sich während der Zeit der deutschen Fremdherrschaft massenhaft und demonstrativ den romantischen und realistischen Autoren und Werken der Zeit der „nationalen Wiedergeburt“ der Tschechen im 19. Jahrhundert zu. Die deutsch-tschechische Konkurrenz auf dem Feld der Massenkultur wurde mindestens bis zum Beginn des ‚totalen Krieges‘ im Sommer 1943 und der damit verbundenen amtlichen Eliminierung der meisten Kulturaktivitäten eines der wichtigsten und von beiden Seiten auch so bewerteten Gebiete der Resistenz, da sie tschechische Aktivitäten in der Besatzungssituation in besonderer Weise stimulierte.

4. Diskussionen/Kontroversen

Nach wie vor gibt es in Tschechien kaum Diskussionen über die Protektoratszeit. Nach der langjährigen kommunistischen Vorgabe, nach der „das ganze Volk im Widerstand“ war, wurde nach 1989 die Frage der tschechischen Kollaboration mit dem NS-Regime gestellt. Teilweise fiel die Beurteilung eher versöhnlich aus und war auf eine Teilrehabilitierung der tschechischen Repräsentanten des Protektorates (Eliáš, Hácha) ausgerichtet, die nach dem Krieg und besonders nach der kommunistischen Machtübernahme von 1948 geächtet worden waren. Positiv hervorgehoben wurden darüberhinaus die bislang verschwiegenen oder diffamierten Protagonisten des nichtkommunistischen Widerstandes. Bei der notwendigen Debatte über antisemitisches und rassistisches Verhalten eines größeren Teiles der Protektoratsgesellschaft gegenüber Juden und Roma droht immer wieder die Relativierung dieser Erscheinungen durch den Verweis auf den Holocaust und den Terror gegen die Gesamtgesellschaft. International vergleichende Debatten finden bislang kaum statt.

5. Bibliographische Hinweise

Literatur

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  • Drahomír Jančík, Eduard Kubů: „Arizace" a arizátoři: drobný a střední židovský majetek v úvěrech Kreditanstalt der Deutschen 1939–45 [Arisierung und Arisierer: das kleine und das mittlere jüdische Eigentum in den Krediten der Kreditanstalt der Deutschen 1939–45]. Praha 2005.
  • Miroslav Kárný, Jaroslava Milotová, Margita Kárná: Deutsche Politik im Protektorat Böhmen und Mähren unter Reinhard Heydrich 1941–1942. Berlin 1997 (Nationalsozialistische Besatzungpolitik in Europa 1939–1945 2).
  • Stanislav Kokoška: Prag im Mai 1945. Die Geschichte eines Aufstandes. Göttingen 2009 (Berichte und Studien 55).
  • Helena Krejčová: Židé v Protektorátu. Hlášení Židovské náboženské obce v roce 1942. Dokumenty [Die Juden im Protektorat Böhmen und Mähren. Berichte der Jüdischen Kultusgemeinde im Jahre 1942. Dokumente]. Praha 1997 (Historia Nova 11).
  • René Küpper: Karl Hermann Frank (1898-1946). Politische Biographie eines sudetendeutschen Nationalsozialisten. München 2010 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 119).
  • Andrea Löw (Bearb.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. Bd. 3: Deutsches Reich und Protektorat Böhmen und Mähren. September 1939–September 1941. München 2012.
  • Pavel Maršálek: Pod ochranou hákového kříže. Nacistický okupační režim v českých zemích 1939–1945 [Unter dem Protektorat des Hakenkreuzes. Die nationalsozialistische Besatzung Tschechiens 1939–1945]. Praha 2012.
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  • Livia Rothkirchen: The Jews of Bohemia and Moravia. Facing the Holocaust. Lincoln, Jerusalem 2006.
  • Vojtěch Šustek: Atentát na Reinharda Heydricha a druhé stanné právo na území tzv. protektorátu Čechy a Morava: edice historických dokumentů [Attentat auf Reinhard Heydrich und das zweite Standrecht auf dem Gebiet des so genannten Protektorats Böhmen und Mähren. Editon historischer Dokumente], 2 Bde. Praha 2012/2014 (Documenta Pragensia: Monographia 26).

Weblink

Zitation

Jiří Pešek: Protektorat Böhmen und Mähren. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2018. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32580 (Stand 02.10.2023).

 

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(Stand: 19.01.2024)  | 
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