Volk

1. Genese

Begriff

Der Begriff „Volk“ leitet sich vermutlich vom germanischen Wort „fulka“ („Volk, Kriegsvolk“) ab.[1] Ursprünglich wurde mit ihm ausschließlich eine konkrete Menschenmenge bezeichnet, die zu einem bestimmten Anlass oder Zweck zusammenkam. So erwähnt das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm „geschlossene abtheilung von kriegern, heerhaufe[n]“ als die eigentliche Bedeutung von „Volk“.[2] Aber auch als pejorativer Ausdruck zur Benennung von Angehörigen der „unteren Schichten“ wurde der Begriff früh genutzt. Ab dem 17. Jahrhundert trat dann die staatsrechtstheoretische Verwendungsweise des Terminus im Sinne von „Staatsvolk“ hinzu. In der Folgezeit differenzierte sich der Begriff weiter aus und erlangte ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts seine ihm bis heute inhärenten unterschiedlichen Bedeutungen. Der Begriff dient seither nun zunehmend als abstrakte Bezeichnung eines aufgrund unterschiedlicher Kriterien zusammengehörenden Personenkreises.

Der (vermutlich Anfang des 20. Jahrhunderts angelegte) Eintrag zum Lemma „Volk“ im grimmschen Wörterbuch führt nicht weniger als 15 Haupt- und neun Unterbedeutungen des Begriffs auf.[3] Diese lassen sich zusammenfassen in:

  • „Volk“ als eine große Menschenmenge;
  • „Volk“ als situativ oder zweckgebunden zusammengehörender Personenkreis;
  • „Volk“ als die „unteren Schichten“;
  • „Volk“ als die Masse der Regierten in Abgrenzung zu den Herrschenden;
  • „Volk“ als die durch Abstammung, Sprache, Religion oder Ähnliches miteinander verbundenen Bewohner eines Landes;
  • „Volk“ als die gleichberechtigten Staatsbürger in einer Demokratie sowie
  • „Volk“ als Fachbegriff in der Jägersprache und Zoologie für eine Tiermenge.

Träger, Gebrauch

Das Wort „Volk“ war lange Zeit einer der am häufigsten verwendeten Begriffe der politischen Sprache in Deutschland. Im 19. Jahrhundert wurde es von der Demokratie- und Nationalstaatsbewegung in Abgrenzung zu der bestehenden politischen Ordnung und den Herrschenden gebraucht. Erstere verband mit ihm die Forderung nach einer parlamentarisch-demokratischen Herrschaft des Volkes, Letztere reklamierte mit ihm die Zusammengehörigkeit aller (wie auch immer definierten) Deutschen zu einem Staatsvolk. Der Verheißungscharakter und die verschiedenen Bedeutungen des Wortes boten Anknüpfungspunkte für sehr unterschiedliche politische Strömungen.

Im Nationalsozialismus war der Begriff „Volk“ – ebenso wie seine Ableitungen und Komposita (etwa „Volksempfänger“, „Volksgemeinschaft“, „Volkstum“) – von großer ideologischer und propagandistischer Bedeutung. Unter anderem mit seiner Hilfe wurden die diktatorische Herrschaft, die gewaltsame territoriale Expansion und die rassistische Politik des Regimes legitimiert. Aber auch in der DDR fand der Begriff – beispielsweise in Zusammensetzungen wie „Volkskammer“, „Volkseigentum“ oder „Volkspolizei“ – Verwendung; er verlieh dem von der SED vertretenen Anspruch Ausdruck, die vormals regierten „unteren Schichten“ seien im Arbeiter- und Bauernstaat endlich zur Herrschaft gelangt.

Auch wenn die Häufigkeit seiner Verwendung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückgegangen ist, wird der Volksbegriff in seinen unterschiedlichen Bedeutungen auch heute noch gebraucht. Während mit ihm im national-konservativen und rechtsextremen Lager vielfach eine auf Abstammung, Sprache, Religion oder gar „Rasse“ basierende Gemeinschaft („ethnos“) bezeichnet wird, findet er im linken Lager bisweilen im Sinne von „die Masse der Regierten“ beziehungsweise „die unteren Schichten“ („plebs“) Verwendung. Darüber hinaus dient der Volksbegriff allgemein in der politischen und juristischen Sprache zur Bezeichnung der gleichberechtigten Staatsbürger („demos“).

In der Diskussion über Grenzen sowie über nationale Minderheiten und deren staatliche Zugehörigkeit wurde – und wird mitunter bis heute – immer wieder auf den Volksbegriff rekurriert. Die Zusammengehörigkeit eines „Volkes“ wird hier zumeist unter Verweis auf eine (angebliche) gemeinsame Abstammung, Religion, Sprache, Kultur oder Ähnliches postuliert. Dabei ist die Vorstellung vom „Volk“ und dessen ethnischer Homogenität in hohem Maße konstruiert. Ähnlich wie auch die argumentative Verwendung des Terminus „Volkstum“ kann der Gebrauch des normativ aufgeladenen Begriffs „Volk“ mit Mechanismen der Inklusion und Exklusion sowie mit einer Hierarchisierung in Bezug auf andere Völker einhergehen.

Fremdsprachige Entsprechungen, Übersetzungen, Übernahmen

Seine verschiedenen Bedeutungen und Aufladungen machen den Volksbegriff zu einem Wort, das schwer beziehungsweise nur abhängig vom jeweiligen Kontext übersetzt werden kann. Im Englischen wird der Terminus etwa mit „nation“, „people“ oder „masses“ und im Französischen mit „nation“, „peuple“, „faune“ oder „populo“ übersetzt, wobei auch Begriffe wie „citizen“, „ethnic group“ beziehungsweise „citoyen(ne)“, „ethnie“ je nach Originalbedeutung infrage kommen. Im Tschechischen wird der Begriff kontextabhängig mit „národ“ oder „lid“ übersetzt. Bei „národ“ besteht eine enge semantische Verbindung zum Begriff „Nation“. Ähnlich verhält es sich im Polnischen („naród“, „lud“). Bisweilen – insbesondere bei Komposita mit „Volk“ – wird der deutsche Begriff auch als Terminus technicus ohne Übersetzung in fremdsprachige Texte übernommen.

2. Definition

Der Begriff „Volk“ bezeichnet zumeist eine aufgrund unterschiedlicher Kriterien zusammengehörende beziehungsweise als zusammengehörend imaginierte Großgruppe von Menschen. In der heutigen politischen Sprache bezeichnet das Wort insbesondere a) die „unteren Schichten“ („plebs“) in Abgrenzung zu den Herrschenden, b) die gleichberechtigten Staatsbürger („demos“) in der Demokratie sowie c) die Angehörigen einer aufgrund von Abstammung, Sprache, Religion, Kultur, „Rasse“ oder ähnlichen Kategorien zusammengehörenden beziehungsweise zusammengedachten Gemeinschaft („ethnos“).

3. Historischer Abriss

Der Volksbegriff im 18. und „langen“ 19. Jahrhundert

Der Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert brachte – um es mit dem grimmschen Wörterbuch zu formulieren – eine „besonders bedeutsame wandlung“[4] des Volksbegriffs mit sich. Auch Reinhart Koselleck konstatiert eine „kopernikanische Wende in der semantischen Entwicklung des Volksbegriffs“, die ab der Mitte des 18. Jahrhunderts und im 19. Jahrhundert stattgefunden habe.[5] Die Romantik und die Aufklärung, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, die Französische Revolution und der Kampf gegen die napoleonische Besatzung hatten das „Volk“ zu einem zentralen politischen Faktor werden lassen. Bei Literaten und Denkern wie Johann Gottfried Herder (1744–1803) herrschte die Vorstellung vor, durch die Erforschung der als naturhaft verklärten „unteren Schichten“ und deren Sprache, Brauchtum und Überlieferung der „Seele des Volkes“ auf die Spur zu kommen. Zugleich führten die weltgeschichtlichen Ereignisse in den USA und in Frankreich – in beiden Ländern war das „Volk“ als Souverän an die Stelle des Monarchen getreten – zu einer politischen Aufladung des Begriffs.

Sowohl die romantischen als auch die – vom Gedankengut der Aufklärung beeinflussten – revolutionär-politischen Volksvorstellungen knüpften an den „unteren Schichten“ an und werteten diese auf. Darüber hinaus wohnten beiden Konzeptionen Ideen von Gemeinsamkeit und (nationaler) Einheit inne. Zugleich unterschied sich jedoch das romantische vom aufklärerischen Volksverständnis durch seinen irrationalen Impetus. Im ausgehenden 18. Jahrhundert und während des 19. Jahrhunderts herrschte in Deutschland zumeist das romantische Konzept von „Volk“ als einer „natürlich gewachsenen Ordnung“ und einem „lebendigen sozialen Organismus“ vor, auf das sich auch konservative Kräfte zur Begründung ihrer antiaufklärerischen und antirevolutionären Haltung berufen konnten.

An diesem Verständnis änderte auch die Mobilisierung des Volkes im Zuge der napoleonischen Kriege wenig – der militärische Erfolg in der „Völkerschlacht“ von Leipzig 1813 trug vielmehr dazu bei, dass sich romantische Ideen wie die vom deutschen Volk als einer natürlichen, vorpolitischen Einheit, die unabhängig von den Einzelstaaten und ihren Monarchen bestehe, verfestigten. In Ermangelung eines deutschen Nationalstaates wurden neben der „Herkunft“ die Faktoren „Kultur“ und „Sprache“ als konstitutiv für ein „Volk“ betont. Das Konzept der „deutschen Kulturnation“, dessen Propagierung häufig mit einem Sendungsbewusstsein gegenüber anderen Völkern einherging, bildete bis 1871 den Ersatz für die nicht existierende „deutsche Staatsnation“.

Statt eines – wie etwa in Frankreich vorherrschenden – Volks- und Nationsbegriffs, der an den Willen des Einzelnen, zu einer Gemeinschaft zu gehören, geknüpft war, setzte sich in Deutschland ein Konzept durch, das die Verbindung der Staatsbürger auf als naturgegeben angesehene ethnische Kriterien wie Sprache, Herkunft oder Kultur zurückführte. Nur vordergründig objektiv, war die Definition dieser Merkmale in hohem Maße subjektiv und der Einschätzung der Sprechenden und Rezipierenden überlassen. Diese fehlende Eindeutigkeit verhinderte allerdings nicht, dass „Volk“ und „Nation“ im 19. Jahrhundert zu zentralen politischen Begriffen avancierten und vielfach „die oberste Position in der Hierarchie der politisch-moralischen Werte“ einnahmen.[6]

Radikale Nationalisten bezeichneten sich ab dem späten 19. Jahrhundert als „Völkische“ und nutzten so eine Variante des Volksbegriffs zur Selbstbenennung und Kennzeichnung ihrer Ideologie. Mit ihren Zielen gingen die „Völkischen“ weit über die Gegebenheiten des kleindeutschen bismarckschen Kaiserreichs hinaus. Sie wollten den realen Zusammenschluss des „Volkes“ als einer „biologisch-geschichtlichen ‚Ganzheit‘“[7] jenseits aller bestehenden Staatsgrenzen erreichen. Damit propagierten sie offen eine Expansionspolitik sowie eine „völkische Feldbereinigung“,[8] wie es der Vorsitzende des Alldeutschen Verbands (ADV), Heinrich Claß (1868–1953), nach Beginn des Ersten Weltkriegs formulierte. In ihren Forderungen vermischte sich irrational-romantisches, konservatives und rassistisch-exkludierendes Gedankengut. „Volk“ galt ihnen entweder als eine durch die „Rasse“ definierte Gemeinschaft oder als ein organisches Wesen mit ausgeprägten Eigenschaften und einer eigenen Persönlichkeit – zwei unterschiedliche Konzepte, die sich nicht gänzlich widerspruchsfrei miteinander vereinen ließen.

Die Vorstellung einer allgegenwärtigen Bedrohung des „deutschen Volkes“ durch seine inneren und äußeren Feinde bildete das Fundament des „völkischen“ Weltbildes, das von Rassismus, Antisemitismus, Sozialdarwinismus und der Überzeugung von der Höherwertigkeit des „deutschen Blutes“ durchdrungen war. Politische, wirtschaftliche und soziale Fragen der Gegenwart wurden von den „Völkischen“ als Entscheidungen über Existenz oder Untergang des Volkes wahrgenommen. Wenn auch die „Völkischen“ im Kaiserreich nur eine kleine Minderheit bildeten, artikulierten sie sich über mitgliederstarke Vereine wie den ADV und die Deutsche Kolonialgesellschaft doch so wirkmächtig, dass es ihnen bisweilen gelang, ihre Interessen durchzusetzen, so etwa in einigen Passagen des 1913 verabschiedeten Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes, welches ein „ius sanguinis“ kodifizierte.

Der Volksbegriff in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus

Nach dem Ende des Kaiserreichs bildete sich in der Weimarer Republik, der ersten gesamtdeutschen Demokratie, kein neues Volkskonzept heraus; ebenso wenig entwickelte sich ein gesellschaftlicher Grundkonsens über die Bedeutung des Wortes. Selbst bei den politischen Parteien der „Mitte“, die nun auf Reichsebene Regierungsverantwortung übernahmen, variierte das Verständnis dessen, was als „Volk“ begriffen wurde. Vielfach sahen auch sie im „Volk“ ein naturhaftes Wesen mit einem eigenen Willen, den es zu „erkennen“ und umzusetzen gelte. Statt des Konzepts eines vielstimmigen, pluralistischen Volkes waren romantisch inspirierte und metaphysische Vorstellungen weitverbreitet. Gleichwohl dominierte innerhalb der politischen Mitte die „demos“-Bedeutung des Begriffs, während bei der radikalen Rechten vor allem die „ethnos“-Variante anzutreffen war.

Eine Ausnahme bildete allerdings der Kampf gegen den Versailler Vertrag und den Verlust der von Deutschen besiedelten Gebiete im Osten. Hierbei wurde von fast allen politischen Lagern mithilfe eines mehr oder minder explizit ethnisch konnotierten Volksbegriffs zugunsten einer Zugehörigkeit der Territorien zum Deutschen Reich und zur Abgrenzung des „Deutschen“ gegenüber dem „Fremden“ argumentiert. Die Tatsache, dass keineswegs alle beanspruchten Gebiete eine mehrheitlich deutschsprachige Bevölkerung aufwiesen, stellte eine argumentativ zu lösende Herausforderung dar. Teilweise wurde daher auf die angebliche deutsche kulturelle und sittliche Prägung der nicht-deutschsprachigen Bewohner verwiesen. Der Berliner Geograf Albrecht Penck (1858–1945) unterschied zwischen einem „deutschen Volksboden“ und einem „deutschen Kulturboden“. „Wo deutsches Volk siedelt“, so Penck 1925, „ist deutscher Volksboden, da hört man deutsche Sprache und sieht man deutsche Arbeit.“ Der „deutsche Kulturboden“, der sich „durch eine äußerst sorgfältige Bebauung, welche nicht gleich halt macht dort, wo sie schwierig wird“, auszeichne, reichte nach seiner Auffassung bis weit jenseits der Sprachgrenze.[9] Mithilfe dieses – ab der Mitte der 1920er Jahre verbreiteten – Konzepts und der vagen Definition von „Kulturboden“ ließen sich diverse Gebiete als „deutsch“ reklamieren. Zugleich gestand Penck mit seiner Theorie aber auch indirekt ein, dass sich ein enger, anhand des Kriteriums „Sprache“ definierter Volksbegriff allein zur Begründung weitreichender Gebietsforderungen nicht eignete. Andere zeitgenössische Wissenschaftler verwendeten „Volk“ dagegen in einem weiteren Sinne. So begriff etwa der Geograf Otto Maull (1887–1957) dieses als „eine durch ethnische Gleichartigkeit, durch gleichen stofflichen und geistigen Kulturbesitz, zusammengeschlossene Menschengruppe; es ist das Produkt der Wirkungen von Raum und Rasse“.[10] Ähnlich argumentierte auch der Volkstumsforscher Max Hildebert Boehm (1891–1968), der in seinem 1932 publizierten Werk „Das eigenständige Volk“ die Verbindung von „Lebensraum“, „Volk“ und „Volkstum“ betonte.

Noch stärker von ethnisch-rassistischen Denkweisen durchdrungen war die Begriffsverwendung bei den Nationalsozialisten, die in der Tradition der „Völkischen“ standen. „Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksichtnahme auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein“, lautete ein Passus des NSDAP-Parteiprogramms von 1920.[11] Das „Volk“ wurde von den Nationalsozialisten somit als „Blutsgemeinschaft“ begriffen. Die Zugehörigkeit lag nicht in der Entscheidung des Einzelnen, sondern war eine Frage der Abstammung. Ausgeschlossen wurden all jene, die in den Augen der Nationalsozialisten nicht „arischen Blutes“ waren – vor allem Juden, aber auch Sinti und Roma, Slawen und andere.

Als zentraler ideologisch-propagandistischer Begriff war der Volksbegriff der Nationalsozialisten also in hohem Maße mit rassistischen und antisemitischen Konzepten, aber darüber hinaus auch mit organisch-metaphysischen Vorstellungen aufgeladen. Während der nationalsozialistischen Diktatur waren das Wort „Volk“ und Komposita wie „Volksdeutsche“, „Volksempfänger“, „Volksgemeinschaft“, „Volksschädling“ oder „Volkstum“ allgegenwärtig und in hohem Maße normativ aufgeladen. In Parolen wie „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“ oder „Du bist nichts, dein Volk ist alles“ sowie in der Wendung vom „Volk ohne Raum“ kamen zudem zentrale Prinzipien und Ideologeme des NS-Regimes wie „Führerherrschaft“, „Rassengemeinschaft“, „Opferkult“ oder die Forderung nach „Lebensraum“ zum Ausdruck. Nach dem Willen der Nationalsozialisten sollte der Volksbegriff nur noch auf das deutsche Volk bezogen verwendet werden, daher wurden Bezeichnungen wie „katholisches Volk“, „sowjetisches Volk“ oder „Künstlervölkchen“ per Presseanweisung untersagt, was aufgrund der langen Verwendungsgeschichte des Ausdrucks jedoch wenig erfolgreich war.[12]

Der Volksbegriff nach 1945

Auch wenn es bislang noch an Forschungen zum Wortgebrauch nach 1945 mangelt, ist festzustellen, dass sich die Verwendungshäufigkeit sowie die vorherrschenden Bedeutungen des Volksbegriffs mit dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur veränderten.

In der Bundesrepublik wurde das Wort zwar weit seltener als zuvor benutzt, blieb aber gleichwohl in der politischen Sprache erhalten und diente zumeist zur Bezeichnung des pluralistischen „demos“. Dass holistisch-metaphysische Konzepte in der allgemeinen politischen Sprache kaum mehr vertreten wurden, mag mit der zunehmenden Akzeptanz des westlichen Demokratiemodells zusammenhängen, aber wohl auch mit einer Veränderung des Sprachduktus. Die vormals häufig von Pathos und Kategorien des Existenziellen durchzogene Semantik kam in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus der Mode. Zudem ersetzten andere Begriffe wie „Nation“, „Bevölkerung“ oder „(Bürgerinnen und) Bürger“ mehr und mehr das nicht selten als altertümlich und NS-belastet angesehene Wort „Volk“. Ein Feld, auf dem der Volksbegriff auch nach 1945 vielfach noch in seiner „ethnos“-Bedeutung gebraucht wurde, bildete hingegen der Diskurs über die ehemals von Deutschen besiedelten Ostgebiete. Das Wort „Volk“ und Komposita wie „Volksgruppe“ wurden beispielsweise verwendet, um ein Rückkehrrecht der Vertriebenen sowie – in Bezug auf deutsche Minderheiten im Ausland – ein Recht auf Autonomie und nationale Selbstbestimmung zu fordern.

Von zentraler Bedeutung war der Volksbegriff in der SBZ/DDR. Davon zeugen Komposita wie „Volkskammer“, „Volkspolizei“, „Volksarmee“ oder „volkseigener Betrieb“, aber auch die Rede vom „werktätigen Volk“, das primär als nun zur Macht gekommene vormals rechtlose „plebs“ – weniger als „ethnos“ oder „demos“ – verstanden wurde. 1976 definierte das in Ostberlin publizierte Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache „Volk“ in diesem Sinne als die „Gesamtheit der den werktätigen Teil der Gesellschaft umfassenden Klassen und sozialen Schichten“ und hob hervor, dass der Begriff „unter soz[ialistischen] Verhältnissen die Gesamtheit der Angehörigen eines Staates“ bezeichne, „aber auch unter bürgerl[ichen] Verhältnissen zur Verschleierung der Klassengegensätze verwendet“ werde.[13] Hinter der Verwendung des Wortes und seiner Komposita zur Bezeichnung von Institutionen des SED-Staates stand somit der Leitgedanke, dass die Klassengegensätze im „real-existierenden Sozialismus“ überwunden seien. Entsprechend bildete der Begriff eine wichtige Vokabel der ideologisch-propagandistischen Sprache der DDR und wurde in Politik, Medien und Publizistik häufig verwendet. Hieran knüpfte im Herbst und Winter 1989/90 die aufkeimende Oppositionsbewegung in der DDR an. Mit Parolen wie „Wir sind das Volk!“ drückten die Bürgerinnen und Bürger bei Demonstrationen ihre Unzufriedenheit mit dem herrschenden Regime aus, wiesen auf den Bias zwischen propagandistischem Anspruch und politischer Realität hin und reklamierten für sich, der mündige „demos“ und nicht länger die von der SED regierte machtlose „plebs“ zu sein.

In der gegenwärtigen politischen Sprache in Deutschland wird „Volk“ nur noch selten verwendet, doch zeigt der Blick auf das rechtspopulistische und rechtsextreme Lager, dass das Wort auch noch im 21. Jahrhundert als politischer Kampfbegriff fungiert. Die Vieldeutigkeit, die Inklusions- und Exklusionspotenziale sowie die nationalsozialistische Imprägnierung des Volksbegriffs werden in diesem Lager nicht nur in Kauf genommen, sondern mitunter bewusst eingesetzt, um mediale Aufmerksamkeit zu erregen und so mögliche neue Sympathisanten zu erreichen. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Begriff hingegen kaum noch und wenn, dann zumeist im Sinne von „demos“ verwendet. An seine Stelle ist vielfach der Begriff „Bevölkerung“ getreten, der neben Deutschen auch lange in Deutschland lebende nicht-deutsche Staatsangehörige einschließt.

4. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Fritz Geschnitzer u. a.: Volk, Nation, Nationalismus, Masse. In: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 7: Verw–Z. Stuttgart 1992, S. 141–431.
  • Lutz Hoffmann: Das deutsche Volk und seine Feinde. Die völkische Droge. Köln 1994.
  • Jörn Retterath: „Was ist das Volk?“. Volks- und Gemeinschaftskonzepte der politischen Mitte in Deutschland 1917–1924. Berlin, Boston 2016.
  • Peter Walkenhorst: Nation – Volk – Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890–1914. Göttingen 2007.
  • Michael Wildt: Volk, Volksgemeinschaft, AfD. Hamburg 2017.

Weblink

Anmerkungen

[1]Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin 2011, S. 962.

[2] Volk. In: Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Hg.): Deutsches Wörterbuch. Bd. 12/2: Vesche–Vulkanisch. Leipzig 1951, Sp. 453–470, hier Sp. 454.

[3] Vgl. ebd., Sp. 453–470.

[4 ] Ebd., Sp. 454.

[5] Fritz Geschnitzer u. a.: Volk, Nation, Nationalismus, Masse. In: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 7: Verw–Z. Stuttgart 1992, S. 141–431, hier S. 283.

[6] Ebd., S. 284.

[7] Wolfgang Tilgner: Volk, Nation und Vaterland im protestantischen Denken zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus (ca. 1870–1933). In: Horst Zilleßen (Hg.): Volk, Nation, Vaterland. Der deutsche Protestantismus und der Nationalismus. Gütersloh 1970, S. 135–171, hier S. 147.

[8] Heinrich Claß: Denkschrift betreffend die national-, wirtschafts- und sozialpolitischen Ziele des deutschen Volkes im gegenwärtigen Kriege. o. O. o. J. [München 1914], S. 45.

[9] Albrecht Penck: Deutscher Volks- und Kulturboden. In: Karl Christian von Loesch (Hg.): Volk unter Völkern. Breslau 1925, S. 62–73 (Zitate: S. 62, 64).

[10] Otto Maull: Politische Geographie. Berlin 1925, S. 380.

[11] Programm der NSDAP vom 24.02.1920, zit. nach Wilhelm Mommsen, Günther Franz (Hg.): Die deutschen Parteiprogramme 1918–1930. Leipzig, Berlin 1931, S. 91–93, hier S. 91.

[12] Vgl. Volk. In: Cornelia Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus. 2. durchges. u. überarb. Aufl. Berlin, New York 2007, S. 642–644, hier S. 644.

[13] Volk. In: Ruth Klappenbach, Wolfgang Steinitz (Hg.): Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Bd. 6: Väterlich–Zytologie. Berlin [Ost] 1976, S. 4164–4166, hier S. 4165.

Zitation

Jörn Retterath: Volk. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2022. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/32698.html (Stand 11.10.2022).

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