Ethnizität

1. Begriff

Etymologie

Abgeleitet von „Ethnie“ (griech. ethnos, „Volk“) bezeichnet „Ethnizität“ Konzepte der Selbst- und  Fremdzuschreibung für Gruppen von Menschen auf der Grundlage soziokultureller Merkmale. Das Ergebnis der Zuschreibung wird bezeichnet als „ethnische Gruppe“, bzw. im älteren Sprachgebrauch als „Volksgruppe“, teilweise auch „Stamm“ oder „Volk“.

Träger, Gebrauch

Vorläufer des Konzepts der „Ethnizität“ sind bereits in den community studies der Chicagoer Schule seit den 1920er Jahren zu finden. Ein größeres Gewicht erfuhr es in der amerikanischen Soziologie zur Beschreibung kultureller Rückbesinnungen und so genannter Revivalphänomene, nachdem die gesellschaftliche Realität die Idee des melting pot – also eines Schmelztiegels heterogener kultureller Traditionen – endgültig widerlegt hatte. Doch erst in den 1980er Jahren ersetzte der Begriff „Ethnizität“ im britischen und im amerikanischen sozialwissenschaftlichen Diskurs die Kategorie „Rasse“ als Modus zur Beschreibung kultureller Vielfalt.

In der Europäischen Ethnologie/Volkskunde wurde Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre die Untersuchung „kultureller Inseln“ (sogenannter „Sprachinseln“) durch eine neue Art der Ethnizitätsforschung abgelöst, wobei sich die Forschung hier einerseits auf den Kontext des Regionalismus, der Migration und Politik, andererseits auf die Alltäglichkeit und interkulturelle Kommunikation fokussierte.

„Ethnizität“ ist ein analytisches Konzept der Sozial- und Kulturwissenschaften, das verschiedene methodologische und theoretische Richtungen aufweist und sich auf die soziale Organisation kultureller Diversität bezieht. Der Begriff avancierte in den letzten Jahren ähnlich wie „Klasse“, „Schicht“ oder „Gender“ zu einer zentralen soziokulturellen Kategorie. Ihre Anwendung als analytische Kategorie führt allerdings zur zunehmenden Präsenz bzw. politischen Instrumentalisierung von „Ethnos“ im Sinne eines statischen, essentialisierenden Kultur- und Gruppenbegriffs. 

Fremdsprachige Entsprechungen, Übersetzungen, Übernahmen

engl. ethnicity; franz. ethnicité; poln. etniczność; tschech. etnicita; russ. ėtničnost‘.

2. Definition

Ethnizität wird heute als eine besondere Dimension sozio-kultureller Unterschiede betrachtet, wobei sie sowohl als strukturelles als auch als symbolisch-kulturelles Phänomen beschreibbar ist. Sie konstituiert sich durch Selbst- und  Fremdzuschreibungen soziokultureller Merkmale und wird verstanden als Ausprägung sozialer Interessen, als symbolische Ressource, die für die Interessen der politischen Führung oder bestimmter politischer Eliten im Kampf um Einfluss oder Macht genutzt werden kann.

3. Konzepte von „Ethnizität“

Die konzeptuellen Debatten innerhalb der Ethnizitätsforschung verlaufen zwischen den sog. Primordialisten oder Essentialisten einerseits sowie den Instrumentalisten oder Konstruktivisten andererseits. Aus Sicht der Primordialisten ist Ethnizität eine grundlegende Identität und beruht auf unveränderlichen kulturellen Ausstattungen und Identifikationen, die jedes Individuum durch Geburt und Erziehung erhält. Die Gegenposition folgt der allgemeinen Theorie des sozialen Konstruktivismus und umfasst ihrerseits zwei Versionen: Die erste konzentriert sich auf die Makroebene der sozialen Phänomene und betont den elitedominierten instrumentellen Charakter der Ethnizität, während sich die zweite Perspektive auf die Mikroebene der sozialen Prozesse bezieht und die Relationalität wie auch die Situativität der Ethnizität hervorhebt.

Des Weiteren unterscheiden sich die Ethnizitätstheorien durch die objektivistische bzw. subjektivistische Annäherung an das Thema. Aus objektivistischer Sicht wird Ethnizität von den meisten Soziologen – auf struktureller Basis – und von vielen Ethnologen – auf kultureller Basis – als ein objektives Merkmal von Gesellschaften betrachtet. Ihre Ergebnisse sind entweder Beschreibungen der vorgestellten ethnischen Charakteristika der einzelnen Gruppen oder Erklärungen der sozialen und Machtunterschiede der nebeneinander lebenden ethnischen Gruppen.

Diese Sichtweise wird hinterfragt, indem auch das geglaubte Herkunftsbewusstsein als konstitutiv für ethnischen Gruppen angesehen wird. Anfang der 1960er Jahre formulierte Michel Moerman die erste „subjektive“ Definition von Ethnizität. Dieser Ansatz wurde dahingehend weiter entwickelt, dass die Erfahrungsdimension des Ethnischen in den Mittelpunkt rückte und Ethnizität als Phänomen der Sprache, des Denkens und der sozialen Praxis – im Gegensatz zu „Ethnopolitics“ oder ethnischen Ideologien – konzeptualisiert wurde.

Nach dem norwegischen Sozialanthropologen Fredrik Barth (1928−2016) sind ethnische Gruppen das Ergebnis von sozialen Prozessen der Identifizierung und Abgrenzung zwischen Akteuren. Es gibt also keine „objektiven“ kulturellen Unterschiede, die von wissenschaftlicher Seite als primordial gegebene Kennzeichen von Ethnizität betrachtet werden können. Ethnizitätsbildend sind stattdessen nur Merkmale, die für die Akteure selbst signifikant sind.

In letzter Zeit werden verstärkt auch die Besonderheiten und Einflüsse hybrider Lebenswelten betont und Identitätsnarrative und -praxen von Individuen und Gemeinschaften untersucht, die sich in mehreren ethnischen oder nationalen Traditionen gleichzeitig verorten.

4. „Ethnizität“ im politischen Diskurs

„Ethnizität“ sowie ethnische Erscheinungsweisen können in (spät-)modernen Gesellschaften nur im Zusammenhang mit der nationalstaatlichen Logik und den Ethnisierungsstrategien betrachtet werden, die dieser Logik folgen. Diese erklärt im ethnisch begründeten Nationalstaat „anderskulturelle“ Gruppen zu ethnischen Minderheiten; dabei ist Ethnisierung ein reaktiver Prozess, der nicht nur vonseiten des Staates, sondern auch vonseiten der Einwanderer oder der Minderheiten konstruiert wird, wobei sie zumeist strategisch als Antwort auf den Mangel an Integration eingesetzt wird.

Die weitreichenden Folgen ethnischer Konzepte zeigen sich an den Minderheitendiskursen bzw. der Minderheitenpolitik nach der (Wieder-)Entstehung ethnisch begründeter Nationalstaaten im östlichen Europa nach den Weltkriegen; ethnische Minderheiten wurden als Problem angesehen, was vielfach zur rechtlichen Ungleichbehandlung dieser Gruppen (eingeschränkte Bürgerrechte, Ausweisung und Enteignung) führte.

Auf dem Prinzip einer durch Abstammung und/oder kulturelle Merkmale begründeten „Ethnizität“ beruht auch die Anerkennung von ‚ethnisch deutschen‘ (Spät-)Aussiedlern, z. B. aus Rumänien oder der ehemaligen Sowjetunion, als deutsche Staatsanghörige, wobei der situative Charakter ethnischer Zuschreibungen auch hier zum Tragen kommt, wenn für die privilegierte Einwanderung das „Bekenntnis“ zur deutschen Kultur eingefordert und von den Betreffenden erbracht wird, woraus im Integrationsprozess teilweise Selbst- und Fremdausgrenzung folgen.

5. Bibliographische Hinweise

  • Marcus Banks: Ethnicity: Anthropological constructions.  London u. a. 1969.
  • Fredrik Barth: Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organisation of Culture Difference. London, Oslo 1969.
  • Fredrik Barth: Enduring and emerging issues in the analysis of ethnicity. In: Hans Vermeulen, Cora Govers (Hg.): Anthropology and Ethnicity. Beyond Ethnic Groups and Boundaries. Amsterdam 1994, S. 11–32.
  • Rogers Brubaker: Ethnicity Without Groups. Cambridge, Mass. 2004. 
  • Rogers Brubaker, Margit Feischmidt, Jon Fox, Liana Grancea: Nationalist Politics and Everyday Ethnicity in a Transylvanian Town. Princeton 2006.
  • Thomas Hyland Eriksen: Ethnicity and Nationalism. Anthropological Perspectives. London 1993.
  • Richard Jenkins: Rethinking Ethnicity. Arguments and Explorations. London 1997.

Zitation

Margit Feischmidt: Ethnizität. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2016. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p44171 (Stand 24.08.2020).

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(Stand: 19.01.2024)  | 
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