Aussiedler/Spätaussiedler

1. Begriff

Als „Aussiedler“ beziehungsweise „Spätaussiedler“ werden Personen bezeichnet, die seit dem Jahr 1950 als „deutsche Volkszugehörige“ (s. u.) aus den (ehemals) kommunistischen Staaten Ostmittel-, Südost- und Osteuropas in die Bundesrepublik Deutschland emigriert sind. Als Rechtsbegriff wurde „Aussiedler“ durch § 1 Abs. 2 Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) von 1953 als Unterkategorie des in § 1 definierten „Vertriebenen“ eingeführt. Personen, die nach der Reform des BVFG Ende 1992 in die Bundesrepublik übergesiedelt sind, werden qua Gesetz als „Spätaussiedler“ bezeichnet. Im öffentlichen Diskurs wurde dieser Begriff bereits seit den 1950er Jahren synonym mit „Aussiedler“ verwendet.

In der DDR existierte keine gesonderte Rechtskategorie des „Aussiedlers“. Allerdings gab es auch hier in gewissem Umfang Zuzug von als „deutsch“ identifizierten Personen aus osteuropäischen Staaten, vor allem aus Polen und der Sowjetunion. Sie wurden im offiziellen Sprachgebrauch als „Übersiedler“ bezeichnet.[1]

 

Zur Verwendung des Begriffs „Spätaussiedler“ als Synonym für „Aussiedler“ vergleiche exemplarisch das Titelblatt der vom Arbeits- und Sozialminister des Landes Nordrhein-Westfalen herausgegebenen Publikation: Das dritte Problem. Betrachtungen zur Aufnahme der Spätaussiedler aus dem Osten. 2. Aufl. Troisdorf 1958 (Schriftenreihe für die Ost-West-Begegnung: Kulturheft 29).

2. Historischer Abriss

Ursprünglich erfasste die Rechtskategorie des „Aussiedlers“ die Nachzügler der massenhaften Flucht und Nachkriegsvertreibung der deutschen Bevölkerung aus Ostmittel-, Südost- und Osteuropa, die ab den frühen 1950er Jahren im Rahmen von humanitärer Familienzusammenführung in die Bundesrepublik übersiedeln durften. Durch eine expansive Auslegung der vorhandenen Gesetze und Richtlinien wurden im Laufe der Zeit auch die nach den „allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen“ geborenen Generationen in diese Kategorie einbezogen, sodass sich Aussiedlermigration bis in die 1990er Jahre und in geringem Umfang bis in die Gegenwart fortsetzen konnte. Insgesamt haben bis 2012 ca. 4,5 Millionen Menschen Aufnahme in der Bundesrepublik als „Aussiedler“ beziehungsweise „Spätaussiedler“ gefunden. Ca. 1,3 Millionen von ihnen kamen im Zeitraum von 1950 bis zur Lockerung der Ausreiseregime 1987.[2] Im gleichen Zeitraum nahm die DDR 125.000–150.000 Übersiedler auf.[3]

Die Geschichte der Aussiedlermigration lässt sich in vier Phasen einteilen, die sich hinsichtlich der betroffenen Personengruppen sowie der Aus- und Einreiseregime der beteiligten Staaten unterscheiden. Die erste Phase umfasst den Zeitraum von 1950 bis Ende der 1960er Jahre. Die damaligen Aussiedler gehörten überwiegend der Generation an, die Krieg, Flucht und Vertreibung erlebt hatte und von deren Folgen unmittelbar betroffen war. Obwohl die Bundesrepublik schon zu dieser Zeit den Großteil der Aussiedler aufnahm (über 600.000), war auch die Zahl der Übersiedler in die DDR – vor allem aus Polen – signifikant (über 100.000). Die zweite Phase (ca. 1970 bis 1987) war durch generationellen Wandel gekennzeichnet: Viele der Personen, die sich nun um Aussiedlung bemühten, waren nach dem Krieg geboren und konnten nicht problemlos als „Nachzügler“ der Vertreibung begriffen werden. Die Bundesrepublik bezog jedoch auch diese neue Generation von Aussiedlern in das BVFG ein und setzte sich im Kontext der sozialliberalen Neuen Ostpolitik sowie des KSZE-Prozesses mit Erfolg für ihre erleichterte Ausreise aus den Ostblockstaaten ein. Der Aussiedlerzustrom in diesem Zeitraum war nicht stetig, brachte aber im Schnitt über 40.000 Personen pro Jahr in die Bundesrepublik. Aussiedlung in die DDR fand hingegen kaum noch statt. Die Ausreiseregime der Herkunftsländer (mit Ausnahme Jugoslawiens) waren während beider Phasen grundsätzlich restriktiv und erlaubten Aussiedlung nur in – zu unterschiedlichen Zeiten mehr oder weniger zahlreichen – Ausnahmefällen.

Die dritte Phase (1987–1992) unterschied sich von den beiden vorherigen durch den radikalen Wandel der Ausreiseregime der Herkunftsländer. Da die Ostblockstaaten die Ausreise fast vollständig liberalisierten und die Bundesrepublik ihrerseits noch keine Einreisebeschränkungen implementierte, fand Aussiedlermigration in dieser Phase weitgehend unkontrolliert statt. Das Ergebnis war ein sprunghafter Anstieg der Aussiedlerzahlen, unter anderem befördert durch die „Sogwirkung“ der Massenausreise aus bestimmten Regionen, den fortschreitenden wirtschaftlichen Zusammenbruch der Herkunftsländer und generell unsichere Zukunftsperspektiven. In diesem kurzen Zeitraum kamen mit ca. 1,5 Millionen Personen aus Polen, der Sowjetunion und Rumänien mehr Aussiedler nach Deutschland als in den vorherigen fast vier Jahrzehnten zusammen. Die Bundesrepublik reagierte mit einer sukzessiven Verschärfung des bis dahin nahezu vollständig liberalen Einreiseregimes, die mit der Reform des BVFG durch das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz (KfbG) vom 21. Dezember 1992 ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte. Dieses Gesetz markiert somit den Beginn der bis heute andauernden vierten Phase, die zunächst durch eine Verstetigung und dann eine kontinuierliche Begrenzung der Aussiedlerzuwanderung gekennzeichnet war. Bis 1995 kamen entsprechend dem durch das KfbG festgelegten Jahreskontingent noch immer über 200.000 Spätaussiedler pro Jahr nach Deutschland; die 1996 eingeführten Sprachtests begrenzten diesen Zustrom, sodass die Zahlen bis ins neue Jahrtausend unter 100.000 jährlich fielen. Bis 2012 kamen so noch einmal über 1,6 Millionen Personen in die Bundesrepublik, seit 2006 allerdings nur noch wenige Tausend pro Jahr.

3. Herkunft

Im Verlauf der Nachkriegsjahrzehnte rekrutierten sich die Aussiedler zu verschiedenen Zeiten schwerpunktmäßig aus verschiedenen Ländern und historischen deutschen beziehungsweise deutschsprachigen Bevölkerungsgruppen. Bis Ende der 1980er Jahre waren Polen (durchgehend) und Rumänien (seit den 1970er Jahren) die wichtigsten Herkunftsländer. Seit den 1990er Jahren kommen (Spät-)Aussiedler fast ausschließlich aus der ehemaligen Sowjetunion, die zuvor nur wenig Emigration von Deutschen zuließ. Während der ersten zwei Nachkriegsjahrzehnte übersiedelten zudem mehrere zehntausend Deutsche aus Jugoslawien und der Tschechoslowakei. Ungarn spielte als Aussiedlungsland während des gesamten Zeitraums kaum eine Rolle.

Die betroffenen Bevölkerungsgruppen waren sehr heterogen und hatten hauptsächlich gemeinsam, dass sie aufgrund ihrer Staatsbürgerschaft oder ihrer vor allem über die Sprache definierten „Volkszugehörigkeit“ als deutsch identifiziert wurden oder werden konnten. Aussiedler aus Polen waren vor allem sogenannte „Autochthone“ aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten (z. B. dem Oppelner Schlesien und dem Ermland/Masuren) und aus während des Zweiten Weltkriegs von Deutschland annektierten Territorien (z. B. Ost-Oberschlesien). Erstere waren vor dem Krieg Bürger des Deutschen Reiches gewesen und blieben es nach bundesdeutscher Auffassung auch; letztere wurden in vielen Fällen während des Krieges über die „Deutsche Volksliste“ in das Deutsche Reich eingebürgert. Nach dem Krieg wurden die „Autochthonen“ von den polnischen Behörden als Polen „verifiziert“, bemühten sich in späteren Jahren und Jahrzehnten aber vielfach um Ausreise aus Polen, die ihnen und ihren Nachkommen zu verschiedenen Zeitpunkten in beide deutsche Staaten gewährt wurde (schwerpunktmäßig 1956–59, 1971–72, 1976–81, speziell in die DDR außerdem 1964–71). Während der ersten beiden Phasen kamen so ca. 800.000 Aussiedler aus Polen in die Bundesrepublik, in der dritten Phase noch einmal über 600.000. Aus Rumänien immigrierten Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen, die in ihrer großen Mehrheit nach dem Krieg in ihren ursprünglichen Siedlungsgebieten verblieben oder nach ihrer Verschleppung in die Sowjetunion dorthin zurückgekehrt waren. Ab Mitte der 1970er Jahre wurden jährlich über 10.000 von ihnen von der Bundesregierung „freigekauft“; nach dem Sturz Ceauşescus 1989 siedelten die Verbliebenen beinahe vollständig aus (im Jahr 1990 allein über 100.000). Deutsche Aussiedler aus Jugoslawien waren überwiegend Donauschwaben, die nach Kriegsende nicht vertrieben, sondern interniert worden waren und ab 1951 relativ frei ausreisen konnten. Ihre Aussiedlung war bis Ende der 1960er Jahre weitgehend abgeschlossen (ca. 80.000 Personen). Über Aussiedler aus der Tschechoslowakei, welche in größerer Zahl zuletzt während der Jahre 1967–1969 in die Bundesrepublik übersiedelten (ca. 40.000 von insgesamt fast 100.000 während des gesamten Zeitraumes), ist wenig bekannt.

Aussiedler aus der Sowjetunion waren in den 1950er und 1960er Jahren vor allem dort verbliebene Bewohner der sowjetischen Hälfte Ostpreußens („Reichsdeutsche“) sowie „Vertragsumsiedler“ aus dem Baltikum, Wolhynien, Bessarabien und der Bukowina, die im Zuge der Umsiedlungsverträge zwischen NS-Deutschland und der Sowjetunion zwischen 1939 und 1941 die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten hatten. Ab den 1970er Jahren übersiedelten vermehrt ehemalige Ukraine- und Schwarzmeerdeutsche, von denen viele während des Krieges als „Administrativumsiedler“ in Deutschland gewesen waren und dort Verwandte hatten, die als Anlaufpunkt für eine Familienzusammenführung dienen konnten. In der Sowjetunion lebten sie seit ihrer Zwangsrepatriierung nach dem Krieg überwiegend in Sibirien und Mittelasien, wohin 1941 bereits die Wolgadeutschen deportiert worden waren. Diese erst durch Deportation und Exil aus den Nachfahren der vormals isoliert voneinander lebenden Kolonisten geformte Gruppe der Russlanddeutschen stellte schließlich die große Masse der Spätaussiedler in der dritten und vierten Aussiedlungsphase (ca. 2 Mio.).

Eine besondere – wenn auch nicht gesondert registrierte – Aussiedlergruppe waren deutschsprachige Juden, die während der Nachkriegsjahrzehnte in die Bundesrepublik immigrierten und dort den Aussiedlerstatus erlangten. Es handelte sich um einige tausend Personen aus historischen Regionen Ostmittel-, Südost- und Osteuropas wie Siebenbürgen, Galizien, der Bukowina und dem Baltikum, in denen Deutsch nicht zuletzt für die jüdische Bevölkerung die lingua franca gewesen war. Viele von ihnen waren aus ihren Heimatländern nach Israel emigriert und wanderten von dort nach Deutschland weiter, wo sie ihre Anerkennung als deutsche Aussiedler betrieben. Diese verlief oft konfliktreich, da die Verwaltung sie in vielen Fällen trotz ihrer Zugehörigkeit zum „deutschen Sprach- und Kulturkreis“ aufgrund ihrer jüdischen Religion auch im ethno-nationalen Sinne als Juden – und somit nicht als Deutsche – betrachtete. Die Einführung der Kategorie des „jüdischen Kontingentflüchtlings“ im Jahr 1990/1991 ermöglichte schließlich die Zuwanderung größerer Zahlen russischsprachiger Juden, die für ihre Aufnahme nunmehr ihr „Judentum“ statt ihres „Deutschtums“ nachweisen mussten.

4. Rechtliche Aspekte

Gemäß BVFG waren Aussiedler durch ihre geographische Herkunft und (ethno-)nationale Zugehörigkeit charakterisiert. Ein Aussiedler musste aus den nach politischen Kriterien definierten sogenannten „Vertreibungsgebieten“ stammen – das heißt aus dem kommunistisch regierten Ostmittel-, Südost- und Osteuropa (einschließlich Albaniens, wo es nie eine deutsche Minderheit gegeben hatte) – und entweder deutscher Staatsangehöriger oder „deutscher Volkszugehöriger“ gemäß § 6 BVFG sein. „Deutsche Volkszugehörigkeit“ setzte zentral ein „Bekenntnis zum deutschen Volkstum“ voraus, welches durch „bestimmte Merkmale wie Sprache, Abstammung, Erziehung, Kultur“ bestätigt werden musste. Diese Definiton ging auf ein Rundschreiben des NS-Reichsinnenministeriums vom März 1939 zurück, mit dem die Staatsangehörigkeit der Bevölkerung der annektierten beziehungsweise okkupierten Teile der Tschechoslowakei geregelt worden war.

Ein anerkannter Aussiedler fremder Staatsangehörigkeit galt gemäß Art. 116 Abs. 1 Grundgesetz als Deutscher („Statusdeutscher“) und hatte laut § 6 des Ersten Staatsangehörigkeitsregelungsgesetzes (1. StAngRegG) von 1955 Anspruch auf Einbürgerung. Das 1. StAngRegG erkannte außerdem die während des Krieges durch die NS-Behörden vollzogenen Einbürgerungen, beispielsweise durch die „Deutsche Volksliste“ in Polen und der Ukraine, als rechtmäßig an. Oberschlesische „Autochthone“ oder Ukrainedeutsche, die einen Volkslisteneintrag nachweisen konnten, sowie deren Nachfahren galten aus bundesdeutscher Sicht daher als deutsche Staatsangehörige und hatten somit einen Anspruch auf Einreise in die Bundesrepublik.

Seit der BVFG-Reform Ende 1992 kommen Spätaussiedler gemäß § 4 Abs. 1 „in der Regel“ nur noch aus der ehemaligen Sowjetunion. Deutsche aus den Staaten Ostmittel- und Südosteuropas können nur bei Nachweis von individuellen Benachteiligungen aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit noch Anerkennung als Spätaussiedler finden. Die Definition der „deutschen Volkszugehörigkeit“ wurde seitdem mehrfach angepasst, insbesondere im Hinblick auf die Bedeutung deutscher Sprachkenntnisse. Die seit 1996 durchgeführten Sprachtests verlangten durch „familiäre Vermittlung“ erworbene Deutschkenntnisse. Seit 2013 sind auch anderweitig erworbene Kenntnisse zulässig, was den Kreis der potenziellen Spätaussiedler wieder wachsen lässt.

5. Kontroversen um Aussiedlerzuwanderung

Im Zeitraum bis 1987 war Aussiedlerzuwanderung in der bundesdeutschen Politik und Öffentlichkeit weitgehend unumstritten, zumindest solange sich die Zahl der Neuankömmlinge in engen Grenzen hielt. Kritische Diskussionen innerhalb des Staatsapparats gab es im Fall der jugoslawiendeutschen Aussiedlung der 1960er Jahre, angestoßen durch die hohe Zahl von Mischehen und die mangelnden Deutschkenntnisse der Aussiedler. Solche internen Kontroversen blieben zu diesem Zeitpunkt jedoch ohne Folgen für die Aussiedlerpolitik. Es gibt außerdem Hinweise für eine zunehmend negative öffentliche Wahrnehmung der Aussiedler während des verstärkten Zuzugs aus Polen in den 1970er Jahren, wobei systematische Erkenntnisse hierzu fehlen. Zum Beispiel ermahnte Bundespräsident Walter Scheel in seiner Weihnachtsansprache 1976 (dem Jahr mit dem stärksten Zuzug seit der großen Aussiedlungswelle aus Polen 1958) die Bevölkerung, „die aus dem polnischen Machtbereich und aus anderen osteuropäischen Staaten in die Bundesrepublik kommenden Deutschen nicht als Ausländer zu betrachten, weil viele von ihnen die deutsche Sprache nicht beherrschten.“[4] Der nordrhein-westfälische Ministerialbeamte Guido Zurhausen beklagte im Jahr 1983 ebenfalls, dass „das deutsche Publikum […] nicht mehr scharf genug [unterscheide], daß ein Aussiedler eben kein Ausländer ist“, hielt dieser Tendenz aber die „offizielle Verwaltungspraxis“ entgegen, welche „konsequent daran fest[halte], das Geschick der Aussiedler von dem der ausländischen Zuwanderer getrennt zu bewerten und zu regeln.“[5]

Im Zuge des Anstiegs der Aussiedlerzahlen nach 1987 und den damit verbundenen Schwierigkeiten bei Aufnahme und Unterbringung wurde die Thematik in Politik, Öffentlichkeit und Wissenschaft in stärkerem Maße als zuvor kontrovers diskutiert. Aussiedler wurden in weiten Teilen der Öffentlichkeit als eine Zuwanderergruppe unter vielen („Gastarbeiter“, Asylbewerber) betrachtet und kritisch gesehen. Die Bundesregierung betonte dagegen zwar einerseits, dass das „Tor offen“ bleibe und dass Aussiedler „ein Gewinn für unser Land“ seien, bemühte sich aber andererseits um eine Regulierung und Eindämmung des Zustroms, zum Beispiel durch das die Freizügigkeit der Aussiedler beschränkende Wohnortszuweisungsgesetz (1989) und das Aussiedleraufnahmegesetz (1990), welches Aussiedlungswillige zum Verbleib im Heimatland bis zur Gewährung  ihrer Einreise zwang. Von Seiten der Opposition wurde vor allem der Umstand kritisiert, dass Aussiedler aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit und unter positiver Bezugnahme auf gesetzliche Regelungen aus der NS-Zeit privilegierten Zugang zur deutschen Staatsangehörigkeit bekamen, der bereits seit Jahrzehnten im Land wohnenden „Gastarbeitern“ und ihren Nachkommen nach der damaligen Gesetzeslage verwehrt blieb. In der Gesellschaft stießen die den Neuankömmlingen gewährten Eingliederungshilfen sowie die volle Anrechnung von Arbeitsjahren im Ausland nach dem Fremdrentengesetz auf Unverständnis. Gleichzeitig wurde das „Deutschtum“ der Aussiedler aufgrund zurückgehender Sprachkenntnisse zunehmend in Zweifel gezogen.

In diesem Kontext einer aus verschiedenen Motiven kritischen Öffentlichkeit wurden staatliche Eingliederungshilfen und Rentenleistungen bereits in den Jahren 1990/1991 reduziert. Das KfbG, welches Ende 1992 als Teil eines umfassenderen migrationspolitischen Kompromisses beschlossen wurde („Asylkompromiss“) und Anfang 1993 in Kraft trat, führte ein jährliches Kontingent von max. 220.000 Personen ein und setzte der Aussiedlermigration einen perspektivischen Endpunkt, da nach 1992 geborene Personen keinen eigenständigen Spätaussiedlerstatus mehr erlangen können. In den folgenden Jahren wurden Integrationshilfen und Rechtsprivilegien für Spätaussiedler weiter reduziert.

6. Integration

Die Integration der bis 1987 zugewanderten Aussiedler gilt in der Retrospektive als weitgehend problemlos. In der – nicht systematisch erforschten – zeitgenössischen Berichterstattung sowie der seit den 1970er Jahren entstandenen wissenschaftlichen Aussiedlerforschung gibt es allerdings deutliche Hinweise auf berufliche Eingliederungsschwierigkeiten, soziokulturelle Anpassungsschwierigkeiten (insbesondere von Kindern und Jugendlichen) und negative öffentliche Wahrnehmungen der Aussiedler der zweiten Phase. So stellte die FAZ schon 1971 fest, dass es die Aussiedlerkinder aus Polen „nicht viel leichter [hätten] als ‚Gastarbeiterkinder‘“; der Spiegel vermeldete im selben Jahr bezüglich der Neuankömmlinge aus Polen: „Manche kommen durch, andere gehen kaputt.“[6] Den erhöhten Integrationsherausforderungen aufgrund des verstärkten Zustroms aus Polen ab 1976 begegnete die Bundesregierung mit einem Sonderprogramm, in dessen Mittelpunkt die Schaffung von Wohnraum, Sprachförderung, die erleichterte Anerkennung von Qualifikationen und die besondere Förderung jugendlicher Aussiedler standen. Diese Maßnahmen dürften dazu beigetragen haben, dass die Integration dieser Aussiedlerwelle mittlerweile als gelungen betrachtet wird.

Die Integration der (Spät-)Aussiedler nach 1987 gestaltete sich wesentlich problematischer als in den Jahrzehnten zuvor und erregte mehr Aufmerksamkeit in Politik, Medien und Wissenschaft. Dies galt insbesondere für die Neuankömmlinge aus der ehemaligen Sowjetunion, weniger für Aussiedler aus Polen und Rumänien, welche sich relativ geräuschlos integrierten, besonders im Fall der Rumäniendeutschen dank guter deutscher Sprachkenntnisse. Bei den Integrationsproblemen der zahlenmäßig nunmehr dominanten und als Gruppe sichtbaren Russlanddeutschen standen Phänomene von (medial z. T. skandalisierter) „Ghettobildung“, Jugendkriminalität, Arbeitslosigkeit und sozialer Deklassierung im Mittelpunkt, bedingt durch migrationsbedingte Entwurzelung, mangelnde Sprachkenntnisse und mit dem bundesdeutschen Arbeitsmarkt nicht kompatible Qualifikationen. Aus Sicht vieler Aussiedler war es wiederum belastend, in Deutschland als „Russen“ wahrgenommen zu werden, während man in Russland beziehungsweise der Sowjetunion eindeutig (und oft in diskriminierender Absicht) als „Deutsche“ identifiziert worden war. Diese Wahrnehmung als Fremde war das Ergebnis des weit verbreiteten Gebrauchs der russischen Sprache unter den russlanddeutschen Spätaussiedlern, welcher seinerseits eine Folge von durch Deportation und Exil verursachtem Sprachverlust, Assimilation an die russischsprachige Mehrheitsgesellschaft und einer steigenden Zahl von Mischehen war.

Aktuelle Studien verweisen hingegen auf einen tendenziell niedrigen räumlichen Segregationsgrad der Spätaussiedler innerhalb von Städten, rückläufige (wenn auch immer noch erhöhte) Kriminalität und Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen und eine gegenüber der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund nur leicht erhöhte Erwerbslosigkeit, welche vor allem ältere Menschen, Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung, aber auch Akademiker betrifft. Unter den Spätaussiedlern zeigt sich zudem ein alles in allem hoher Zufriedenheitsgrad bezüglich ihrer Lebenssituation und Integration. Systematische Erkenntnisse zur ersten im Lande geborenen Generation aus Spätaussiedlerfamilien fehlen bisher, qualitative Studien verweisen allerdings auf zunehmende Bildungserfolge und eine starke Aufstiegsorientierung. Trotz weiter bestehender Probleme etwa hinsichtlich des Armutsrisikos vor allem älterer Aussiedler sind insgesamt also eine Normalisierung der Integrationssituation und eine entdramatisierte gesellschaftliche Wahrnehmung des Integrationsgeschehens festzustellen.

Gleichzeitig ist insbesondere unter den Russlanddeutschen in verschiedenen Bereichen eine fortdauernde Eigengruppenorientierung zu beobachten. Dies gilt sowohl für soziale Netzwerke wie auch für das nach wie vor überwiegend homogam orientierte Heiratsverhalten. Auffällig ist weiterhin die Entstehung beziehungsweise das Fortbestehen russlanddeutscher freikirchlicher Strukturen, welche zum Teil auf untergrundkirchliche Traditionen in der Sowjetunion zurückgehen, aber auch eine für Migranten typische Organisationsform darstellen, welche segregativ wirken sowie eine „segmentierte“ Integration begünstigen kann. Verstärkte Aufmerksamkeit wird in der Forschung inzwischen auch der transnationalen Dimension der Existenz von Spätaussiedlern geschenkt, welche klassische Fragen von Integration, Assimilation und nationaler Zugehörigkeit relativiert und den Blick auf hybride Zwischenräume und zirkuläre Migrationen lenkt. Gleichzeitig ist festzuhalten, dass die übergroße Mehrzahl der Spätaussiedler ihren dauerhaften Lebensmittelpunkt in Deutschland sieht und permanente Rückwanderung nur in zahlenmäßig relativ geringem Umfang stattfindet.[7]

7. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Klaus J. Bade, Jochen Oltmer (Hg.): Aussiedler: deutsche Einwanderer aus Osteuropa. Osnabrück 1999 (IMIS-Schriften 8).
  • Christoph Bergner, Matthias Weber (Hg.): Aussiedler- und Minderheitenpolitik in Deutschland : Bilanz und Perspektiven. München 2009 (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im Östlichen Europa 38).
  • Barbara Dietz: Aussiedler/Spätaussiedler in Deutschland seit 1950. In: Klaus J. Bade, Pieter C. Emmer, Leo Lucassen, Jochen Oltmer (Hg.): Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. 3., durchges. Aufl. Paderborn u. a. 2010, S. 397–404.
  • Sabine Ipsen-Peitzmeier, Markus Kaiser (Hg.): Zuhause fremd – Russlanddeutsche zwischen Russland und Deutschland. Bielefeld 2006 (Bibliotheca Eurasica 3), Open Access PDF unter: www.transcript-verlag.de/978-3-89942-308-2/zuhause-fremd/.
  • Markus Kaiser, Michael Schönhuth (Hg.): Zuhause? Fremd? Migrations- und Beheimatungsstrategien zwischen Deutschland und Eurasien. Bielefeld 2015 (Bibliotheca Eurasica 8).
  • Rainer Münz, Rainer Ohliger (Hg.): Diasporas and Ethnic Migrants. Germany, Israel and Post-Soviet Successor States in Comparative Perspective. London 2003.
  • Marius Otto: Zwischen lokaler Integration und regionaler Zugehörigkeit. Transnationale Sozialräume oberschlesienstämmiger Aussiedler in Nordrhein-Westfalen. Bielefeld 2015.
  • Jannis Panagiotidis: What is the German’s Fatherland? The GDR and the Resettlement of Ethnic Germans from Socialist Countries (1949–1989). In: East European Politics & Societies and Cultures 29 (2015), H. 1, S. 120–146.
  • Waldemar Vogelgesang: Jugendliche Aussiedler. Zwischen Entwurzelung, Ausgrenzung und Integration. Weinheim 2008.
  • Lothar Weiß (Hg.): Russlanddeutsche Migration und evangelische Kirchen. Göttingen 2013 (Bensheimer Hefte 115).
  • Susanne Worbs, Eva Bund, Martin Kohls, Christian Babka von Gostomski: (Spät-)Aussiedler in Deutschland. Eine Analyse aktueller Daten und Forschungsergebnisse. Nürnberg 2013 (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Forschungsbericht 20).

Weblinks

  • Bundesverwaltungsamt: www.bva.bund.de/DE/Home/home_node.html (Das Bundesverwaltungsamt ist für die Durchführung des Aussiedleraufnahmeverfahrens verantwortlich. Auf der Seite finden sich entsprechende Erläuterungen, Formulare und Statistiken.)
  • Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten: www.aussiedlerbeauftragter.de/AUSB/DE/Home/startseite_node.html (Das Amt des Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung wurde 1988 zu Beginn der großen Aussiedlungswelle aus Osteuropa geschaffen, um deren Integration zu koordinieren. Inzwischen gehören auch deutsche Minderheiten in Europa und nationale Minderheiten in Deutschland zu seinem Aufgabengebiet.)
  • Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: www.bamf.de (Das seit 2005 so bezeichnete Bundesamt für Migration und Flüchtlinge befasst sich mit allen Arten der Zuwanderung nach Deutschland, darunter auch von Spätaussiedlern sowie Juden aus der ehemaligen Sowjetunion.)

 

Anmerkungen

[1] Claudia Schneider: Als Deutsche unter Deutschen? „Übersiedler aus der VR Polen“ in der DDR ab 1964. In: Kim Christian Priemel (Hg.): Transit – Transfer: Politik und Praxis der Einwanderung in der DDR 1945–1990. Berlin 2001, S. 51–74.

[2] Diese und die folgenden Zahlenangaben zur Bundesrepublik sind entnommen aus: Worbs u. a.: (Spät-)Aussiedler in Deutschland, S. 31–33.

[3] Panagiotidis: „What is the German’s Fatherland“, S. 122.

[4] Scheel fordert zu größerem Verständnis für Umsiedler auf. In: Die Welt, 24.12.1976.

[5] Guido Zurhausen: Aufgabe und Verantwortung von Bund, Ländern und Gemeinden für die Aufnahme und Eingliederung der Aussiedler. In: Hans Harmsen (Hg.): Die Aussiedler in der Bundesrepublik Deutschland: Forschungen der AWR, Deutsche Sektion; 2. Ergebnisbericht: Anpassung, Umstellung, Eingliederung, Wien 1983, S. 13–25, hier S. 24.

[6] Key L. Ulrich: Die Deutschen aus Polen. In: FAZ, 30.4./1.5.1971; „Manche kommen durch, andere gehen kaputt“ – Spiegel-Report über Aussiedler aus dem Osten und ihre Einbürgerung im Westen. In: Der Spiegel, Nr. 50/1971.

[7] Worbs u. a.: (Spät-)Aussiedler in Deutschland, S. 197–198.

Zitation

Jannis Panagiotidis: Aussiedler/Spätaussiedler. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2015. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32717 (Stand 31.08.2020).

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