Lebensraum

1. Genese

Der politische Begriff „Lebensraum“ geht sachlich auf Johann Gottfried Herders (1744−1803) Staatsmetaphorik des späten 18. Jahrhunderts zurück.[1]  Mit der Entstehung organizistischer Staatsauffassungen, die den Staat als einen sich nach natürlichen Gesetzmäßigkeiten entwickelnden Organismus entwarfen, erhielt die Vorstellung vom ‚Lebensraum‘ ihre ersten politischen Konturen. Nationale Einigungsbestrebungen, der Durchbruch des Industriekapitalismus sowie koloniale Expansionsinteressen gehörten fortan in Deutschland zu den entscheidenden Einflussgrößen, die die Durchsetzung des Begriffs beförderten. Die Verkoppelung von politischen Territorialitätskonzepten mit der Erfahrungskategorie eines sich durch Modernisierungs- und Industrialisierungsprozesse verringernden Raumes organisierte sich seit Ende des 19. Jahrhunderts wissenschaftlich wie semantisch alsbald um den Lebensraumbegriff. Die Vorstellung vom ‚Lebensraum‘ war dabei eng mit der Objektkonstituierung des damals noch jungen Faches Geographie sowie mit dessen Ausformung als ‚Politische Geographie‘ verbunden. Im Zuge der Biologisierung geographischer Wissensbestände wurden organizistische Staats- und Territorialitätsauffassungen mit einem physiologisch-biologischen Vokabular ausgestattet, das es erlauben sollte, imperiale Politik mithilfe von räumlichen Gesetzmäßigkeiten wissenschaftlich zu legitimieren und vor allem zu prognostizieren. Profiliertester Vertreter dieser evolutions- und migrationstheoretischen Raumkonzeption war der Geograph Friedrich Ratzel (1844−1904), der den Lebensraumbegriff wohl erstmals explizit verwendete und mit ihm die für das 19. Jahrhundert signifikanten Verdichtungsdynamiken in das politische Feld staatlicher Wandlungsprozesse transferierte.[2]

Ratzel konzipierte eine zwischen Geo- und Biowissenschaften vermittelnde ‚Biogeographie‘, mit der er ‚Lebensraum‘ nicht mehr nur als Form des Lebens verstand, sondern mit der sich der Begriff zu einer Kategorie des Lebens selbst und damit zu einer Kategorie der Substanz wandelte. Diesen Transfer vollzog Ratzel mittels einer geographisch begründeten Bewegungstheorie, in der er die Kräfte des kapitalistisch-industriellen Weltmarktes zu Dynamiken des Lebens naturalisierte und somit Weltgeschichte als Naturgeschichte zu entwerfen begann. Da mit dieser evolutionstheoretischen Raummechanik vor allem koloniale Landnahmen legitimiert werden sollten, gehörte „Lebensraum“ schon bald zum Grundwortschatz imperialer Rechtfertigungsdiskurse.

Fremdsprachige Entsprechungen

Obgleich der Begriff durch Friedrich Ratzel eine dezidiert deutsche Prägung erfuhr, kannte auch der französische Kolonialdiskurs einen espace vital. Zudem etablierte sich nach der Jahrhundertwende mit international renommierten Wissenschaftlern wie dem britischen Geographen Halford J. Mackinder (1861−1947), dem schwedischen Staatswissenschaftler Rudolf Kjellén (1864−1922) und dem US-amerikanischen Konteradmiral Alfred Thayer Mahan (1840−1914) ein globaler geopolitischer Diskurs, der zwar mit durchaus unterschiedlichen Begriffsbildungen und Rezeptionsangeboten, aber zumeist schulbildend auf Ratzels Politische Geographie Bezug nahm.[3]

2. Zwischenkriegszeit

Während international ein geostrategisches Denken in Großräumen dominierte, radikalisierte sich der politische Raumdiskurs in Deutschland und blieb fortan auf die Revision des Versailler Vertrages fixiert. Die Delegitimierung der eigenen Territorialkonzepte gehörte zu den Schlüsselerlebnissen einer sich in den 1920er Jahren formierenden Deutschtumsforschung. Nachdem nicht nur der Krieg, sondern auch der Frieden verloren war, standen Politiker und Wissenschaftler vor der Herausforderung, belastbare Konzepte der territorialen Verfasstheit zu entwickeln, mit denen sich Deutschland jenseits seiner aktuellen Grenzen konzipieren ließ. Unter dem Schlagwort „Deutscher Raum“ und mit dezidiertem Verweis auf Ratzels Schrift Der Lebensraum[4] kamen geopolitische Theorien, Konzepte und Ideen auf, die verschiedene Szenarien jenseits der seit 1919 international festgelegten Territorialordnung propagierten. Die als Fortschrittsnarrativ arrangierte Volks- und Kulturbodentheorie, wie sie unter anderem von Albrecht Penck (1858–1945) und Wilhelm Volz (1870–1958) vertreten wurde, ermöglichte es beispielsweise, relativ unabhängig von den aktuellen Besiedlungsverhältnissen räumliche Besitzansprüche zu rechtfertigen. Damit fügte sie sich in den politischen Diskurs des Grenz- und Auslandsdeutschtums ein und empfahl sich einer revisionistischen, den aktuellen politischen Kräfteverhältnissen gleichwohl angepassten Außenpolitik. Der politische Raumdiskurs der Weimarer Republik unterschied sich dadurch eklatant von den imperialen Ansprüchen des Kaiserreiches, da sich ‚Lebensraum‘ nun zu einer existentiellen Größe radikalisierte. Es herrschte die Wahrnehmung vor, Deutschland leide unter einer unerträglichen Raumenge. Dabei korrespondierten die Gebietsverluste seit 1919 mit ökonomischen Verdichtungserfahrungen und beförderten ein klaustrophobisches Lebensgefühl, das für den Raumdiskurs der 1920er und 1930er Jahre symptomatisch wurde. Hier transformierte sich ein existentielles Bedrohungsgefühl in einen ideologisierten Affekt, der sich schließlich mit der Formel „Volk ohne Raum“ zu einer Art historischem Phantomschmerz steigerte. 5]

Auch Hitlers Mein Kampf gehört in den Kontext dieses völkisch-rassischen und im geopolitischen Raumdiskurs der Weimarer Republik verankerten Transformationsprozesses. Zwar vermied Adolf Hitler (1889−1945) zunächst den Lebensraumbegriff wegen seiner geopolitisch-bürgerlichen Konnotation und propagierte stattdessen eine nationalsozialistische Bodenpolitik. An der unmittelbar nach 1933 einsetzenden rassischen Homogenisierung der Lebensraumideologie änderten diese Nuancen indes wenig. Während der Terminus „Boden“ tendenziell auf die Bedeutung einer agrarwirtschaftlichen ‚Germanisierung‘ vorhandener und später eroberter Gebiete konzentriert blieb (‚Blut-und-Boden-Ideologie‘), wandelte sich ‚Lebensraum‘ zu einem nach rassenbiologischen Kriterien homogenisierten Ordnungskonzept, das vorrangig auf die Eroberung, Besiedlung und Beherrschung von Großräumen ausgerichtet war. Statt kolonialer Eroberungen in Afrika oder Asien galt es nun, den durch kriegsbedingte Gebietsabtretungen ideologisch aufgeheizten Raumverlust durch Eroberung neuen ‚Lebensraums‘ in Osteuropa zu kompensieren. Das deutsche Gegenstück zu Indien oder Algerien war nicht Kamerun, sondern mit Verweis auf mittelalterliche Siedlungsaktivitäten richtete sich der Blick auf die nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Staaten in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa. Die für die weitere Fortentwicklung der ‚nordischen Rasse‘ vermeintlich unverzichtbaren Ressourcen sollten im Osten gewonnen und damit eine rassische Höher- und Weiterentwicklung des ‚arischen Menschen‘ garantiert werden.

3. Der Zweite Weltkrieg

Der Beginn des Zweiten Weltkrieges markierte in dieser Dynamik eine gewisse Zäsur: Mit dem Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 begann sich nicht nur der räumliche Horizont nationalsozialistischer und stalinistischer Eroberungspolitiken zu konkretisieren, ‚Lebensraum‘ kennzeichnete nun die Totalität eines Zerstörungs- und Neuordnungswillens, der die eroberten Gebiete in Ost- und Südosteuropa nicht mehr im kolonialen Sinne als ‚leer‘ phantasierte, sondern sie im Sinne rassischer Auslese zu leeren und neu zu ordnen beabsichtigte. Konkret verwirklichte sich diese Programmatik bereits bei der territorialen Einverleibung Westpolens zwischen 1939 und 1941. Allein durch Grenzziehung waren rassisch homogene Räume, wie sie die deutschen Besatzer anstrebten, nicht herstellbar. Die ins Reich eingegliederten Gebiete sollten daher umgehend durch Bevölkerungsaustausch ‚germanisiert‘ werden. Dieses territoriale Grundprinzip verkoppelte von Anbeginn an die im Hitler-Stalin-Pakt vereinbarten Umsiedlungen sogenannter ‚Volksdeutscher‘ mit den Aussiedlungs- und Vertreibungspraktiken in Westpolen. Im Spannungsfeld zwischen einem rassenbiologischen Selektionsverfahren, einer politisch-kulturellen Assimilations- und Eindeutschungspolitik gegenüber Teilen der nicht-jüdischen Bevölkerung, einer kriegsbedingten Leistungsmobilisierung sowie dem Aufbau einer völkischen Gesellschafts- und Sozialordnung vollzog sich eine auf Segregation zielende Lebensraumordnung, deren Scheitern einen der wohl folgenschwersten Schritte auf dem Weg zum Holocaust darstellte.

Mit der Umarbeitung des Völkerrechts zu einer völkischen Großraumordnung begann mit dem Zweiten Weltkrieg der semantische wie auch der faktische Übergang von einer rechtlich garantierten Territorialordnung zu einem biologisch-rassischen Lebensraumkonzept, das für die nationalsozialistische Großraumpolitik handlungsleitend war. Die Homogenisierung des vormals polnischen Staatsgebietes diente als Experimentierfeld, ab Juni 1941 übertrugen die Planungsstäbe das bisherige Prinzip der ‚Umvolkung‘ mit gewissen Modifikationen auch auf die neubesetzten ‚Ostgebiete‘. Die rassische Homogenisierung des eroberten ‚Lebensraumes‘ blieb im Kern das territoriale Leitbild der nationalsozialistischen Expansionspolitik, auch wenn die räumlichen Verhältnisse in der Sowjetunion gewisse Übergangskonzepte notwendig machten und eine rassische Selektion der ortsansässigen Bevölkerungen nicht flächendeckend durchsetzbar war. Doch trotz solcher Anpassungen blieb es für die nationalsozialistische Expansions- und Vernichtungspolitik kennzeichnend, dass die Umsiedlung, Vertreibung und Ermordung der rassisch wie politisch unerwünschten Bevölkerungsgruppen nicht Folge, sondern Zweck und Ziel der Lebensraumpolitik im eroberten Osten darstellten. Die Entscheidung zum systematischen Massenmord an den europäischen Juden fiel nicht zufälligerweise genau in dem historischen Moment, als die Besiedlungs- und Eroberungspolitik Größenordnungen von vorher unvorstellbarem Ausmaß annahmen. Der Übergang zum systematischen Massenmord war vollzogen, als alle anderen räumlichen Ordnungskonzepte scheiterten und der Völkermord als angeblich notwendige, wenn nicht sogar unvermeidliche Lösung der eigenen Lebensraumfrage an zynischer Überzeugungskraft gewann.

4. Ausblick

Nach dem Zweiten Weltkrieg galt der Lebensraumbegriff als ideologisch kontaminiert und büßte seine politische Dimension nahezu vollständig ein. Jenseits seiner Historisierung und einiger randständiger Wiederbelebungsversuche wird der Terminus seither auf seine biologisch-geographische Bedeutung reduziert und ist sachlich mit Begriffen wie „Biotop“ oder „Biosphäre“ identisch. 

5. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Irene Diekmann, Peter Krüger, Julius H. Schoeps (Hg.): Geopolitik − Grenzgänge im Zeitgeist. 2 Bde. Potsdam 2000.
  • Ulrike Jureit: Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert. Hamburg 2012.
  • Werner Köster: Die Rede über den Raum − Zur semantischen Karriere eines deutschen Konzepts. Heidelberg 2002 (Studien zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte 1).
  • Karl Lange: Der Terminus „Lebensraum“ in Hitlers „Mein Kampf“. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 13 (1965), S. 426−437.
  • Mechthild Rössler, Sabine Schleiermacher, Cordula Tollmien (Hg.): Der „Generalplan Ost“ − Hauptlinien der nationalsozialistischen Planungs- und Vernichtungspolitik. Berlin 1993 (Schriften der Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts).
  • Heinz-Dietrich Schultz: Friedrich Ratzel − Bellizistischer Raumtheoretiker mit Naturgefühl oder Vorläufer der NS-Lebensraumpolitik? In: Claus Deimel, Sebastian Lentz, Bernhard Streck (Hg.): Auf der Suche nach Vielfalt − Ethnographie und Geographie in Leipzig. Leipzig 2009, S. 125−142.
  • Rainer Sprengel: Kritik der Geopolitik − Ein deutscher Diskurs 1914−1944. Berlin 1996.

Anmerkungen

[1] Vgl. Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie zur Geschichte der Menschheit (1782-1788),Berliner Ausgabe, Berlin 2013 (1. Aufl. 1784-1791). Online: www.zeno.org/Lesesaal/N/9781482559736?page=2 (Abruf 20.12.2021).

[2] Friedrich Ratzel: Politische Geographie. 3. Aufl. München 1923 (1. Aufl. 1897).

[3] Bspw. Rudolf Kjellén: Der Staat als Lebensform (1916), deutsche Ausgabe, Berlin 1924.

[4] Friedrich Ratzel: Der Lebensraum − Eine biogeographische Studie (1901). Neudruck, Darmstadt 1966.

[5] Vgl. Hans Grimm: Volk ohne Raum, einbändige Ausgabe, München 1926.

Zitation

Ulrike Jureit: Lebensraum. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2016. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32732 (Stand 20.12.2021).

Nutzungsbedingungen für diesen Artikel

Copyright © Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (BKGE), alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk entstand im Rahmen des Projekts „Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa“ und darf vervielfältigt und veröffentlicht werden, sofern die Einwilligung der Rechteinhaber vorliegt. Bitte kontaktieren Sie: ome-lexikon@uol.de

Wenn Sie fachliche Hinweise oder Ergänzungen zum Text haben, wenden Sie sich bitte unter Angabe von Literatur- und Quellenbelegen an die Redaktion.

OME-Redaktion (Stand: 30.07.2024)  | 
Zum Seitananfang scrollen Scroll to the top of the page