Völkerrecht

1. Genese und Definition

Entstehung, Inhalt und Gebrauch des Begriffs

Der Begriff wurzelt im ius gentium des Römischen Rechts, das jedoch die allen Völkern gemeinsamen Rechtsregeln bedeutete. Völkerrecht im modernen Sinn bezeichnet demgegenüber ein Recht, welches vor allem das Verhalten von Staaten und internationalen (zwischenstaatlichen) Organisationen sowie die Beziehungen zwischen ihnen regelt. Beschränkt auf Teilbereiche der internationalen Rechtsordnung, vor allem die Menschen- und die Minderheitenrechte sowie das Völkerdelikts- und Völkerstrafrecht, sind seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch Individuen und Nichtregierungsorganisationen (NGO) als (partielle) Subjekte des Völkerrechts anerkannt. Entgegen dem durch seinen Begriff in deutscher Sprache nahegelegten Schluss regelt das Völkerrecht also nicht eigentlich die Rechtsbeziehungen zwischen den „Völkern“, sondern vor allem die Rechtsbeziehungen zwischen den die Völker beziehungsweise Nationen repräsentierenden Staaten und Staatenzusammenschlüssen.

Fremdsprachige Entsprechungen

engl.: public international law; franz.: droit international public; russ.: международное право (meždunarodnoe pravo); poln.: prawo międzynarodowe; tsch.: mezinárodní právo; span.: derecho international público

2. Historischer Abriss

Das „klassische Völkerrecht“ (nach 1648)

Das „klassische“ Völkerrecht entstand in Europa am Ende von Reformation, Gegenreformation und Konfessionskriegen mit dem „Westfälischen Frieden“ von Münster und Osnabrück (1648). Durch ihn wurden die Souveränität und die Gleichheit der am Friedensschluss beteiligten Staaten vorbehaltlos anerkannt und dadurch dem in der mittelalterlichen Vorstellung vom Universalreich wurzelnden Rang- und Machtanspruch des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation ein Ende gesetzt. Wesentliches Element der Souveränität war die Anerkennung des Rechts der Staaten, frei über Krieg und Frieden zu entscheiden (ius ad bellum). Es entstand eine spannungsreiche gesamteuropäische Staatenordnung, die durch völkerrechtliche Verträge und das sogenannte „Konzert“ der europäischen Großmächte im Gleichgewicht gehalten wurde.

Das „moderne Völkerrecht“ (seit 1945)

Die Epoche des klassischen wurde durch die des modernen Völkerrechts abgelöst. Ihr Symbol ist die Gründung der Vereinten Nationen (1945). Das moderne Völkerrecht ist maßgebend durch das Verbot, nach Belieben Krieg zu führen, gekennzeichnet. Es wurde erstmals durch den Briand-Kellogg-Pakt (1928) zu einem Grundsatz des Völkerrechts erhoben und erlangte durch das allgemeine Gewaltverbot der UNO-Charta (Art. 2 Nr. 4) universelle Gültigkeit.

Tendenzen zur „Konstitutionalisierung“ im Völkerrecht

Der Zusammenbruch der Sowjetunion, die Auflösung ihres Hegemonialsystems und das Ende des Ost-West-Konflikts durch die freiheitlichen Revolutionen im östlichen Europa (1989–1991) haben eine neue Entwicklungsstufe des Völkerrechts eingeleitet. Ihr Kennzeichen ist, dass – trotz vieler Widersprüchlichkeiten und Einschränkungen – die Bindung der Staaten an die Menschenrechte und die Standards des humanitären Völkerrechts im Ergebnis stärker als zuvor eingefordert wird. Sprunghaft angestiegene humanitäre Interventionen (mit oder ohne UNO-Mandat) bei Staatszerfall, Völkermord und Massenverbrechen gegen die Menschlichkeit und ferner die Gründung eines Ständigen Internationalen Strafgerichtshofes mit Sitz in Den Haag (1998/2003) liefern dafür Belege. Die Weltgemeinschaft aus Staaten, internationalen Organisationen, Nichtregierungsorganisationen (NGO), Wirtschaftsunternehmen und Individuen befindet sich daher in einem sich beschleunigenden Prozess der Verdichtung und Verrechtlichung. Er hat dazu geführt, die Entwicklung der Völkerrechtsordnung in Anlehnung an innerstaatliche und supranationale Verhältnisse als einen Vorgang der „Konstitutionalisierung“ zu deuten.

3. Grundzüge der geltenden Völkerrechtsordnung

Quellen des Völkerrechts

Die Quellen des Völkerrechts sind gemäß Art. 38 des Statuts des Internationalen Gerichtshofes der Vereinten Nationen (IGH) das Völkervertragsrecht, das Völkergewohnheitsrecht und „die von den Kulturvölkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze“. Die Anerkennung einer Norm kraft Gewohnheit setzt hinreichende Belege für eine Staatenpraxis voraus, die von allgemeiner Rechtsüberzeugung und einem entsprechenden Rechtsbindungswillen getragen sein muss. Verträge, Resolutionen und Deklarationen internationaler Gremien und nationaler Organe, Verfassungstexte, Entscheidungen internationaler und nationaler Gerichte, weit verbreitete Lehrmeinungen anerkannter Autoritäten des Völkerrechts können dafür Indizien liefern.

Die Völkerrechtsordnung und ihre Normen weisen mehrere Dimensionen und Schichten auf: Das universelle Völkerrecht bildet die höchste Ebene. Es äußert sich in von der UNO initiierten völkerrechtlichen Verträgen, insbesondere zu den Menschenrechten, und ferner in einem weltweit geltenden Völkergewohnheitsrecht. Unterhalb davon erstreckt sich die Ebene des regionalen Völkerrechts (Art. 52 UNO-Charta), nämlich Europas unter der Ägide des Europarats (1949), Amerikas in Gestalt der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS, 1948), Afrikas in Gestalt der Afrikanischen Union (AU, 2000) und von Teilen Asiens (Arabische Liga, 1945; ASEAN, 1967; GUS, 1991).

Eigenart der Völkerrechtsordnung

Die Eigenart der Völkerrechtsordnung besteht darin, dass ihre Hauptsubjekte, die Staaten, wegen ihrer souveränen Gleichheit (Art. 2 Nr. 1 UNO-Charta) miteinander nicht in Subordinations-, sondern in Koordinationsbeziehungen stehen und deswegen grundsätzlich nur durch Einigung im Vertragswege einen gemeinsamen Willen bilden und Entscheidungen treffen können. Das Völkerrecht kann daher im Unterschied zum Landesrecht in aller Regel nicht einseitig durchgesetzt und vollstreckt werden. Die den Staaten bei völkerrechtswidrigem Verhalten zustehenden Sanktionsmöglichkeiten (Repressalien usw.) müssen wegen des Interventionsverbotes unterhalb der Schwelle zur Gewaltanwendung bleiben.

Der Internationale Gerichtshof der Vereinten Nationen (IGH, Art. 92ff. UNO-Charta) fügt sich in dieses Bild ein, denn er entspricht eher einem Schiedsgericht zwischen Staaten als einem „Weltgerichtshof“. Nur wenn sich die ihn anrufenden Staaten, eingeschlossen auch die UNO-Mitglieder, freiwillig, durch besondere Erklärung, seiner Jurisdiktion unterworfen haben, ist die Zuständigkeit des IGH begründet.

Schlüsselposition des UN-Sicherheitsrates

Lediglich der Weltsicherheitsrat darf den Staaten unter bestimmten Voraussetzungen einseitig seinen Willen aufzwingen. Denn im Falle eines drohenden oder vollendeten Bruches des Weltfriedens (Art. 39 UNO-Charta) kann er die ihm erforderlich erscheinenden Maßnahmen zur Friedenssicherung treffen und notfalls auch Gewalt gegen Staaten anwenden oder einzelnen Staaten oder Staatengemeinschaften ein Mandat zur Gewaltanwendung erteilen (Art. 41; 42 UNO-Charta). Der Weltsicherheitsrat wird dadurch indes nicht zu einer Weltregierung. Für die Staaten gilt zwar das allgemeine Gewaltverbot, und die Ermächtigung zur Gewaltanwendung ist grundsätzlich dem Weltsicherheitsrat vorbehalten, aber die Vereinten Nationen befinden sich deswegen keineswegs im Besitz eines universellen Gewaltmonopols, denn über eigene Streitkräfte und die reale Macht, ihren Willen notfalls auch gegen Widerstände durchzusetzen, verfügen sie nicht. Die Interventionsbefugnisse der Vereinten Nationen finden ihre Schranke grundsätzlich an dem Recht der Staaten, über ihre „inneren Angelegenheiten“ (domestic affairs), freilich unter Einhaltung ihrer völkerrechtlichen Verpflichtungen etwa auf dem Gebiet der Menschenrechte, nach freiem Belieben zu entscheiden (Art. 2 Nr. 7 UNO-Charta).

Die Dispositionsfreiheit der Völkerrechtssubjekte bei dem Abschluss von völkerrechtlichen Verträgen findet ihre Schranke in völkerrechtlichen Normen zwingenden Charakters (ius cogens). Gemäß Art. 53 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge (23.05.1969) ist darunter eine Norm zu verstehen, „die von der internationalen Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit angenommen und anerkannt wird als eine Norm, von der nicht abgewichen werden darf und die nur durch eine spätere Norm des allgemeinen Völkerrechts derselben Rechtsnatur geändert werden kann“. Ein Verstoß gegen eine zwingende Völkerrechtsnorm macht den Vertrag nichtig. Zwingende Völkerrechtsnormen sind nach allgemeiner Meinung heute die Grundprinzipien der UNO-Charta (Art. 1; Art. 2), voran das Gewaltverbot unter Einschluss des Verbots der Annexion fremden Staatsgebietes, die Menschenrechte des universellen völkerrechtlichen Mindeststandards, namentlich das Folterverbot und das Verbot der Rassendiskriminierung, das Verbot des Völkermords und von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das Verbot der Sklaverei sowie das Selbstbestimmungsrecht der Völker.

Rechtliche Schranken der Souveränität der Staaten

Seit dem Millenniumsgipfel der UN-Generalversammlung im Jahr 2000 befindet sich das Prinzip der nationalen Souveränität (Art. 2 Nr. 1 UNO-Charta) in einem Prozess der juristischen Re-Interpretation. Souveränität gilt nicht mehr als Ermächtigung des Staates zu einem beliebigen politischen Handeln im Innern. Den normativen Kern des Prinzips bildet nach heutigem Verständnis vielmehr die Verantwortung des Staates, Leben, Freiheit, Eigentum und Vermögen seiner Bürger zu schützen, die sogenannte responsibility to protect. Verletzt er diese völkerrechtliche Verpflichtung in schwerwiegender Weise, soll die internationale Staatengemeinschaft berechtigt sein, mit Sanktionen gegen den betreffenden Staat vorzugehen. Umstritten bleibt jedoch, ob allein der Weltsicherheitsrat befugt ist, die Erfüllung der responsibility to protect notfalls auch gewaltsam durchzusetzen.

4. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Knut Ipsen: Völkerrecht. Ein Studienbuch, 6., völlig neu bearb. Aufl. München 2014.
  • Juliane Kokott, Karl Doehring, Thomas Buergenthal: Grundzüge des Völkerrechts. 3., neu bearb. Aufl. Heidelberg 2003.
  • Otto Luchterhandt: Völkerrecht versus Völkermord: bedeutende Fortschritte – ungelöste Probleme. In: Zeitschrift für Genozidforschung 9 (2008), Heft 2, S. 10–67.
  • Ignaz Seidl-Hohenfeldern, Torsten Stein: Völkerrecht. 10., neubearb. Aufl. Köln u. a. 2000 (Academia iuris).
  • Theodor Schweisfurth: Völkerrecht. Tübingen 2006.
  • Karl-Heinz Ziegler: Völkerrechtsgeschichte. Ein Studienbuch. 2., durchges. u. erg. Aufl. München 2007.

Weblinks

www.unric.org/de/voelkerrecht (Informationsangebot des Regionalen Informationszentrums der Vereinten Nationen für Westeuropa)

Zitation

Otto Luchterhandt: Völkerrecht. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2014. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32697 (Stand 17.09.2021).

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(Stand: 19.01.2024)  | 
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