Selbstbestimmungsrecht

1. Genese

Begriffsgeschichte

Die meisten Forscher sind sich einig, dass die intellektuellen und juristischen Ursprünge des Selbstbestimmungsrechtes in der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776) und in der Französischen Revolution (1789) zu finden sind. Das Konzept betraf vor allem die Volkssouveränität und die Verantwortung der Regierung gegenüber den Bürgern. Der Begriff wurde dann im 19. Jahrhundert von Revolutionären wie z. B. Giuseppe Mazzini (1805–1872) übernommen. Aber erst während des Ersten Weltkrieges und in der Zeit danach im Kontext der damit verbundenen geopolitischen und ideologischen Umwälzungen wurden die Begriffe Selbstbestimmungsprinzip und Selbstbestimmungsrecht allgemein gebräuchlich. Sowohl Lenin (1870–1924) als auch der amerikanische Präsident Woodrow Wilson (1856–1924) haben den Begriff Selbstbestimmungsrecht benutzt, jedoch auf unterschiedliche Weise. In vielerlei Hinsicht hat die Pariser Friedenskonferenz (1919) das Selbstbestimmungsprinzip offiziell legitimiert. Der Neuentwurf der Landkarte Europas nach dem Ersten Weltkrieg wurde in der Theorie gemäß dem Selbstbestimmungsrecht gestaltet - dem sogenannten "Wilsonschen System". Seit dem Ersten Weltkrieg wurde das Selbstbestimmungsrecht oft in einem ethnischen Sinne formuliert und mit dem Streben nach Eigenstaatlichkeit zunächst vor allem der Völker in Mittel- und Osteuropa gleichgesetzt.

In der Praxis, auch von einem ethnisch-nationalen Standpunkt aus, nutzten die Pariser Friedensverträge nur teilweise das Selbstbestimmungsprinzip als Legitimationsgrundlage. Obwohl die drei multinationalen Reiche (das Habsburgische, das Osmanische und das Russische Reich) zusammengebrochen waren, bildeten sich auf der neuen Karte Europas multiethnische Föderationen (Tschechoslowakei, Jugoslawien) sowie de facto multinationale Staaten, deren Eliten sie aber als Nationalstaaten verstanden (Rumänien, Polen). Darüber hinaus führte fast überall in Mittel- und Osteuropa die Anwesenheit zahlreicher ethnischer und nationaler Minderheiten, die ihre eigenen Hoffnungen auf Selbstbestimmung hegten, zu internen, aber auch zu zwischenstaatlichen Spannungen, was für die Entstehung des Zweiten Weltkrieges nicht ohne Bedeutung war.

Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Aufstieg der Sowjetunion zur Weltmacht verlagerte sich der geographische Ort der Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes von Mittel- und Osteuropa zu den europäischen Kolonialreichen in Afrika und Asien. Folglich wurde die Selbstbestimmung während des Kalten Krieges vor allem zum juristischen Mantra der Dekolonisierungsprozesse und der antikolonialistischen Bewegungen.

Nach 1989 löste der Zusammenbruch des Kommunismus den Zerfall der Staaten Sowjetunion, Tschechoslowakei und Jugoslawien aus. Noch einmal spielten das Selbstbestimmungsprinzip und Selbstbestimmungsdiskurse eine wichtige Rolle im Kontext der Sezessionen und Unabhängigkeitserklärungen in der Region. Die jüngsten von einer Mehrheit der internationalen Akteure im Namen des Selbstbestimmungsprinzips anerkannten Unabhängigkeitserklärungen sind die des Kosovo (2008) und des Südsudan (2011).

Träger, Gebrauch

Das Selbstbestimmungsprinzip und das damit verbundene Selbstbestimmungsrecht wurden mit mehreren politischen Kontexten assoziiert: Sie fungierten als Emanzipierungsinstrument der Völker in den multinationalen Staaten Europas, Werkzeug zur Lösung zwischenstaatlicher Konflikte, Voraussetzung für die anti-kolonialistische Bewegung, das demokratische Recht eines Volkes, seine eigene Regierung zu wählen, und als Instrument zur Gewährleistung von Minderheitenrechten. Darüber hinaus können eine Reihe von Entitäten als Träger eines Selbstbestimmungsrechtes betrachtet werden: Individuen, ethnische Gruppen, Minderheiten, Staaten. Sowohl das durch den 1920 entstandenen Völkerbund garantierte internationale System als auch das seines Nachfolgers, der Vereinten Nationen, haben das Selbstbestimmungsrecht zu einem ihrer Grundsätze erklärt, obwohl eine einstimmige Verständigung hinsichtlich seiner Implementierung und sogar seiner Definition fehlt.

Fremdsprachige Entsprechungen

engl. right to self-determination; franz. droit à l'autodétermination; ital. diritto all'autodeterminazione; rum. drept la autodeterminare; ung. önrendelkezési jog; russ. право на самоопределение (pravo na samoopredelenie); poln. prawo do samostanowienia

2. Definition

Laut den Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen sind "alle Völker" im Besitz des "Rechtes auf Selbstbestimmung", aber die Grenzen der Implementierung dieses Rechtes und die Grenzen des "Selbst" sind unklar. In seiner einfachsten Auslegung betrifft das Selbstbestimmungsrecht das Recht eines Volkes, sein eigenes politisches Schicksal zu entscheiden.

3. Diskurse/Kontroversen

Auf der einen Seite betreffen die umstrittenen Aspekte des Selbstbestimmungsrechtes die ethische Gültigkeit des Begriffes. Auf der anderen Seite betreffen sie die Identität des Selbst und die potentiellen Implementierungsmethoden des Rechtes. Folglich sind zwei der bedeutendsten Fragen, die mit dem Selbstbestimmungsrecht verbunden sind, die nach der Definition des Volkes, das das Selbstbestimmungsrecht genießen darf, und die nach der territorialen Einheit, innerhalb derer das Recht ausgeübt werden kann. In diesem Zusammenhang ist die Frage der internen im Vergleich zur externen Selbstbestimmung entscheidend. Die erste Variante berücksichtigt unterschiedliche Regelungen im Hinblick auf Demokratie, Autonomie und Dezentralisierung, während die zweite als Recht auf Sezession, Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit verstanden wird.

Das Hervortreten des Selbstbestimmungsrechtes in der europäischen und internationalen Geopolitik ist eng mit der Persönlichkeit des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson und mit dem Ende des Ersten Weltkrieges verbunden. Es scheint aber, dass Wilsons Auffassung von Selbstbestimmung ursprünglich nicht ethnisch oder national orientiert war, sondern eher staatsbürgerlich. Die während des Kalten Krieges stattgefundene Dekolonisierung hat als Gegenargumente zum Selbstbestimmungsprinzip auch die Prinzipien der territorialen Einheit und des sogenannten uti possidetis in den Rang eines Normbestands emporgehoben, was in vielen Fällen zu Spannungen und ethnischen Konflikten führte, wie etwa im Kongo oder in Ex-Jugoslawien.

4. Die deutschen Minderheiten in Mittel- und Osteuropa und das Selbstbestimmungsrecht

Eine Folge des Ersten Weltkrieges und der Entstehung neuer Staaten in Mittel- und Osteuropa war auch das Vorhandensein der deutschen Minderheiten in den Staaten der Region. Es gab ethnische Deutsche in Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien und Jugoslawien. Es kann argumentiert werden, dass in der Praxis die deutschsprachigen Minderheiten in Mittel- und Osteuropa, auch in denjenigen Regionen, in denen sie die Mehrheit darstellten, kein Selbstbestimmungsrecht genossen, was im damaligen politischen Kontext verständlich ist. Im Namen des Selbstbestimmungsrechts hätte z. B. die überwiegend von Deutschen bewohnte Sudetenregion an Deutschland oder Österreich angegliedert werden müssen. Die Autonomiebestrebungen der deutschen Minderheit in Rumänien erfolgten auch im Namen des Selbstbestimmungsprinzips. Die Nationalsozialisten, die die auf Wilsons Prinzip zurückgehende staatliche Neuordnung Mittel- und Osteuropas ablehnten, beriefen sich auf das Selbstbestimmungsrecht der ethnischen Deutschen. Die am Ende des Zweiten Weltkrieges erfolgten Vertreibungen der Deutschen werden von Vertretern ihrer Landsmannschaften als eine Maßnahme interpretiert, die dem Selbstbestimmungsprinzip widerspricht. Folglich wird das Selbstbestimmungsrecht in diesem Zusammenhang in Verbindung mit einem sogenannten "Recht auf Heimat" postuliert.

5. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Antonio Cassese: Self-determination of peoples. A legal reappraisal. Cambridge 1995 (Hersch Lauterpacht memorial lecture series 12).
  • Inis L. Claude, Jr: National minorities. An international problem. Cambridge, MS 1955.
  • Mária M. Kovács: Standards on self-determination and standards of minority rights in the post-communist era. A historical perspective. In: Nations and nationalism 9 (2003), S. 433–450.
  • Michla Pomerance: The United States and self-determination perspectives on the Wilsonian conception. In: The American Journal of International Law 70 (1976), S. 1–27.
  • Marc Weller: Escaping the self-determination trap. Leiden 2008.

Weblinks

Zitation

Cristian Cercel: Selbstbestimmungsrecht. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2012. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32664 (Stand 20.09.2021).

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(Stand: 19.01.2024)  | 
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