Deutscher Osten
1. Genese
Begriff
„Deutscher Osten“ ist ein Begriff aus der deutschen politischen Publizistik des 20. Jahrhunderts, der einen nach Osten nur vage abgegrenzten imaginierten deutschen Kulturraum östlich der Elbe bezeichnete. Die ihm zugrunde liegende Denkfigur entstand bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts in den politischen Debatten um die Ostgrenze eines zukünftigen deutschen Nationalstaates, deren Verlauf angesichts der ethnischen Gemengelage in den Ostprovinzen Preußens und Österreichs und konkurrierender nationaler Ansprüche umstritten war.
Dem Begriff lag die Vorstellung zugrunde, dass der „Deutsche Osten“ im Zuge einer bis ins Mittelalter zurückreichenden west-östlichen Migrationsbewegung deutscher Siedler und Kolonisten entstanden sei – im Bunde mit sich parallel nach Osten ausbreitenden deutschen staatlichen und kirchlichen Strukturen. Historisch unstrittig ist das Zusammenspiel von mittelalterlichem Landesausbau und einer überwiegend deutschsprachigen Migrationsbewegung, die in mehreren Wellen vom 10. bis zum 18. Jahrhundert erfolgt war. Die dadurch ausgelösten komplexen Staatsbildungs-, Migrations-, Akkulturations- und Assimilierungsprozesse wurden erst im historischen Rückblick und in germanozentrischer Verengung zu einer deutschen Kolonisations- und Zivilisierungsleistung erklärt und ein über Jahrhunderte wirkender deutscher Kolonisationswille im Osten suggeriert, der gegenwärtige territoriale, zuweilen imperiale Ansprüche legitimieren sollte. Dabei waren höchst unterschiedliche Akteure involviert – neben Katholischer Kirche und Hanse auch polnische und russische Monarchen. Hinzu kam, dass die deutschsprachigen Migranten und Siedler eher individuellem als kollektivem Antrieb folgten, sich selten als Kolonisatoren und nicht einmal immer vornehmlich als Deutsche verstanden.
Bis zum Ersten Weltkrieg verbanden sich diese Vorstellungen im preußischen Kontext vor allem mit dem Begriff der deutschen „Ostmark“, im österreichischen Kontext mit dem der deutschen „Südmark“. Der in seiner Bedeutung schillernde und wandelbare Begriff des „Deutschen Ostens“ fand erst mit der Wende zum 20. Jahrhundert und verstärkt nach dem Ersten Weltkrieg weite Verbreitung. Seine Hochkonjunktur erlebte er in den 1930er und 1940er Jahren. In diesen Jahren verband er sich mit der nach Osten gerichteten Expansionspolitik des nationalsozialistischen Deutschlands und fand Eingang auch in das politisierte akademische Schrifttum. Mit dem Verlust der Ostgebiete des Deutschen Reiches am Ende des Zweiten Weltkriegs und der Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa fiel der Begriff des „Deutschen Ostens“ und die ihm zugrundeliegenden Vorstellungen in der DDR der Zensur zum Opfer, in der Bundesrepublik wurde er zum Erinnerungsort, der nicht mehr für deutsche imperiale Ansprüche im Osten, sondern den Heimatverlust der deutschen Vertriebenen und Flüchtlinge stand und sich entsprechend sentimental auflud. In den 1960er Jahren kam der Begriff aber auch in der Bundesrepublik immer mehr außer Gebrauch, ohne ganz zu verschwinden.
Eine einheitliche geographische Definition des „Deutschen Ostens“ bestand nie. In erster Linie umfasste er die ostelbischen Provinzen des Deutschen Reiches von 1871, insbesondere Brandenburg, Pommern, Schlesien, Ostpreußen, Westpreußen und die Provinz Posen. Da sich die Vorstellung von einem „Deutschen Osten“ aber weniger an staatsrechtlichen als an demographischen Gegebenheiten orientierte, wurden oft auch Kulturlandschaften jenseits der deutschen Reichsgrenzen zum „Deutschen Osten“ gezählt. Voraussetzung war die Existenz deutscher Minderheiten, denen wie im Baltikum, den Böhmischen Ländern oder Siebenbürgen ein prägender kultureller Einfluss auf die Region zugeschrieben werden konnte. Was man nun aber in der sprachlich und ethnisch heterogenen Welt des östlichen Europas als zumindest partiell deutsche Kulturlandschaft betrachten und dem „Deutschen Osten“ zuschlagen wollte, war immer eine Frage der Interpretation.
Fremdsprachige Entsprechungen
Der Terminus „Deutscher Osten“ wurde aufgrund seiner imperialen und germanozentrischen Konnotationen von den nicht-deutschen Gesellschaften des östlichen Europas abgelehnt und nicht in die eigene Sprache übernommen. Allerdings existierten dort vergleichbare imaginierte geographische Räume, die ebenfalls der historischen Legitimation von Ansprüchen auf politisch umstrittene Grenzregionen dienten. In Polen war das der Begriff des „Polnischen Westens“ (polski zachód, auch kresy zachodnie), der sich zum Teil auf dieselben Gebiete bezog, die im Deutschen als „Deutscher Osten“ galten. Das gilt auch für den 1945 entstehenden Begriff der „Wiedergewonnen Gebiete“ (ziemie odzyskane) zur Bezeichnung jener vormals reichsdeutschen Territorien, die Polen am Ende des Zweiten Weltkriegs von den Siegermächten zugesprochen wurden. Seit den 1960er Jahren verbreitete sich in der polnischen Wissenschaftssprache der politisch neutrale Alternativbegriff „West- und Nordgebiete“ (ziemie zachodnie i północnie), auch kurz „Westgebiete“ (ziemie zachodnie), der sich nach 1990 auch in der Alltagssprache durchsetzte.
Der polnische Begriff der „kresy wschodnie“ (etwa östliche Grenzländer), in der gebräuchlicheren Kurzform „Kresy“, weist die größten strukturellen Ähnlichkeiten mit dem Begriff des Deutschen Ostens auf, auch wenn sich die beiden Begriffe auf unterschiedliche Territorien bezogen. Auch der Kresy-Begriff etablierte sich bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Er diente zur Bezeichnung der östlichen Peripherie des einstigen Polen-Litauens, die durch die ethnische Heterogenität ihrer Bewohner und eine polnischsprachige Führungsschicht auf den adligen Landsitzen und in den größeren Städten geprägt war. Wie beim Begriff des „Deutschen Ostens“ schwangen auch beim Begriff der „Kresy“ imperiale Fantasien und die Vorstellung einer eigenen Zivilisierungsmission im Osten Europas mit. Allerdings überwogen im Falle des Kresy-Begriffs die Verlust- und Vertreibungserfahrungen infolge der Teilungen Polen-Litauens im 18. Jahrhundert und der territorialen Verluste Polens am Ende des Zweiten Weltkriegs. Er war daher eher sentimentaler Erinnerungsort als politisches Projekt.
Unmittelbar nach dem Auseinanderfallen der Sowjetunion entstand im politischen Diskurs der Russischen Föderation der Begriff „nahes Ausland“ (bližnee zarubež‘e). Er bezeichnet jene Territorien, die einst zum Staatsgebiet der Sowjetunion bzw. des Russischen Reiches gehört haben und mit Russland durch die Existenz russischsprachiger Bevölkerungsgruppen weiterhin verbunden seien. Insofern besteht eine Analogie zum „Deutschen Osten,“ als auch das „nahe Ausland“ Kampfbegriff eines territorialen Revisionismus ist, der sich auch im russischen Fall mit dem Angriff auf die Ukraine seit 2014 in politisches Handeln übersetzte.
2. Historischer Abriss
Die Denkfigur, die dem Begriff des „Deutschen Ostens“ zugrunde lag und sich mit politisch-territorialen Ansprüchen auf ein vermeintlich deutsches Kolonisationsgebiet mit ethnisch heterogener Bevölkerung verband, entstand bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Großen Einfluss übte dabei die publizistische Tätigkeit des liberalen Wirtschaftstheoretikers Friedrich List (1789–1846) aus. Ausgehend von seiner Amerika-Erfahrung in den 1820er Jahren plädierte List in den 1830er und 1840er Jahren für den Zusammenschluss aller deutscher Staaten einschließlich der Habsburgermonarchie zu einem großen mitteleuropäischen Wirtschaftsraum. Aufgrund seiner Größe und großen Bevölkerungszahl würde dieser eine ähnliche wirtschaftliche Dynamik entfalten wie die Vereinigten Staaten von Amerika. Dieser sollte Territorien ohne deutsche Bevölkerungsmehrheit, wie den südlichen österreichischen Donauraum einschließen. Deutsche Sprache und Kultur würden sich durch die Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Wirtschaftsraum allmählich verbreiten, idealerweise unterstützt durch die Umlenkung der deutschen Übersee-Auswanderung in den Donauraum.
Als die Abgeordneten der Deutschen Nationalversammlung 1848 in der Frankfurter Paulskirche zusammentraten und unter anderem über die Ostgrenze des zukünftigen deutschen Nationalstaates debattierten, waren Lists Vorstellungen bereits weit verbreitet. Hinzu kam die aus dem Kolonialdiskurs der Zeit stammende Vorstellung einer deutschen Zivilisierungsmission, der zufolge deutsche Sprache, Kultur und Staatlichkeit Träger der Modernisierung in den preußischen und österreichischen Ostprovinzen seien und deutsche Ansprüche auf Gebiete auch ohne deutschsprachige Bevölkerungsmehrheit rechtfertigten.
In diesem Kontext tauchte auch schon der Begriff der „Ostmark“ (zuweilen in der Pluralform „Ostmarken“) auf. Er diente in der Paulskirche zur Bezeichnung jener überwiegend polnischsprachigen Grenzregionen Preußens, gegen deren Einbeziehung in den zukünftigen deutschen Nationalstaat polnische Abgeordnete und ihre Unterstützer auf der Linken heftig protestierten. Verwiesen diese auf die historische Zugehörigkeit der Gebiete zu Polen und die polnische Bevölkerungsmehrheit, verband sich mit dem Begriff der „Ostmark“ die These, das mittelalterliche Reich sowie das frühneuzeitliche Preußen hätten an ihren Ostgrenzen eine Zivilisierungs- und Kolonisierungsmission betrieben, die Ödland in Kulturland verwandelte. Dadurch sei aus slawisch-baltischem Land im Laufe der Zeit rechtmäßiges preußisch-deutsches Land geworden.
Der Terminus „Ostmark“ war ein Neologismus des 19. Jahrhunderts, der allerdings den mittelalterlichen Markenbegriff reaktivierte. Im Fränkischen und im Heiligen Römischen Reich wurden jene Grenzprovinzen als „Mark“ (marc[hi]a) bezeichnet, die zur Erfüllung ihrer Aufgaben bei der Grenzsicherung und Integration neu eroberter Territorien mit einer besonderen Verwaltungsstruktur versehen und häufig einem mit weitreichenden Befugnissen ausgestatteten Markgrafen (marchio) unterstellt worden waren. Mit der territorialen Konsolidierung des Reiches im 12. Jahrhundert verloren die Marken ihre politische Bedeutung, auch wenn der Name in einigen Landesbezeichnungen wie Mark Brandenburg, Steiermark, oder Dänemark (Danmark) weiterlebte.
Die Wiederbelebung des Markenbegriffs im 19. Jahrhundert vollzog sich ohne Wiederaufnahme seiner administrativen Traditionen. Mit „Ostmark“ verband sich kein besonderer rechtlicher Status. Der Begriff, der nie in den amtlichen Sprachgebrauch einging, hatte ausschließlich propagandistischen Charakter. Als solcher entfaltete er jedoch beträchtliche Wirkung. In seinem viel gelesenen Roman Soll und Haben (1855) popularisierte Gustav Freytag (1816–1895) die dem Begriff zu Grunde liegende Vorstellung, dass die zivilisatorische Überlegenheit der Deutschen und die Leistungen der deutschen Ostkolonisation die Annexion einst slawischer Gebiete rechtfertige. Der konservative Historiker Heinrich von Treitschke (1834–1896) präsentierte wenige Jahre später den mittelalterlichen Ordensstaat als „verspätete Mark, nach karolingischer Weise auf Eroberung gerichtet“,[1] und rief in vermeintlicher Fortführung dieser Tradition zur schonungslosen Germanisierung der preußischen Ostprovinzen auf.
Wie später der Begriff des „Deutschen Ostens“ wurde auch die „Ostmark“ geographisch nie genauer definiert. Bis zum Ersten Weltkrieg waren mit der „Ostmark“ meist jene preußischen Ostprovinzen gemeint, in denen die territorialen Ansprüche des preußisch-deutschen Staates mit denen der polnischen Nationalbewegung kollidierten, also vor allem das Großherzogtum Posen, Westpreußen, ferner auch Oberschlesien und Ostpreußen. Die publizistischen Aktivitäten des 1894 in Posen/Poznań gegründeten Deutschen Ostmarkenvereins, der als deutschnationaler Agitationsverband die von der preußischen Regierung seit den 1880er Jahren in Westpreußen und Posen betriebene Ansiedlungs- und Germanisierungspolitik propagandistisch begleitete, spielten eine entscheidende Rolle bei der weiteren Verbreitung des Begriffs und der Identifizierung der „Ostmark“ mit den polnisch-preußischen Grenzgebieten. Allerdings war der Begriff auch für Definitionen offen, die die gesamte Ostgrenze deutscher Siedlung in den Blick nahmen.
Im frühen 20. Jahrhundert trat der demographisch-völkisch konnotierte Begriff des „Deutschen Ostens“ neben den der „Ostmark“. War letzterer auf den Staat und seine Grenzprovinzen bezogen, stand der „Deutsche Osten“ für ein geographisch offeneres Konzept, für eine von den Staatsgrenzen unabhängige, im Wesentlichen durch deutsche Siedlungstätigkeit geschaffene Kulturlandschaft. In der Terminologie des völkischen Denkens wurde daraus ein „deutscher Volks- und Kulturboden.“ Der Begriff des „Deutschen Ostens“ erlebte seinen Durchbruch nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und begann den der Ostmark zu verdrängen. Schließlich eignete er sich besser, um nach der Neuordnung der politischen Landkarte Mitteleuropas, insbesondere der Auflösung Österreich-Ungarns und der Gebietsverluste des Deutschen Reiches, die entlang der Ostgrenze am größten waren, auf die vermeintliche Existenz eines zusammenhängenden, von den neuen Staatsgrenzen zerschnittenen deutschen Siedlungs- und Kulturraumes in Mitteleuropa hinzuweisen. Er stand damit im engen Zusammenhang mit den Forderungen nach einer Revision der im Versailler Vertrag festgelegten deutschen Ostgrenze. In diesem Kontext etablierte sich auch die deutsche „Ostforschung“, die dem Grenzrevisionismus mit wissenschaftlichen Argumenten, Datenmaterial, und suggestiven Karten sekundierte. Die Unbestimmtheit des „Deutschen Ostens“ war dabei von Vorteil. Der „Deutsche Osten“ ließ sich je nach politischem Kontext und Absicht geographisch enger oder weiter fassen oder auch weitgehend „entgrenzen“.
Im nationalistischen Deutschland erlebte der Begriff des „Deutschen Ostens“ seine stärkste Verbreitung und ging nun auch in den amtlichen Sprachgebrauch ein. 1933 rief die Regierung den Bund Deutscher Osten (BDO) ins Leben, der als Nachfolgeorganisation des 1934 verbotenen Ostmarkenverbands und ähnlicher Agitationsverbände fungieren sollte. Die Popularisierung des Begriffs erfolgte auch durch zahlreiche staatlich geförderte Publikationen wie den Prachtband Der Deutsche Osten. Seine Geschichte, sein Wesen und seine Aufgabe (Berlin 1936) oder den sich an ein breites Lesepublikum richtenden Band Was weißt Du vom Deutschen Osten? Geschichte und Kultur des Deutschen Ostraums (Berlin 1940). In den Dienst der Lebensraumpolitik gestellt, begann der Begriff während des Zweiten Weltkrieges all jene Gebiete im Osten Europas zu bezeichnen, die durch das Wirken deutscher Siedler und eines noch weiter reichenden vermeintlichen deutschen Kultureinflusses zum Bestandteil des deutschen „Volks- und Kulturbodens“ geworden seien oder erst noch werden würden.
Der Begriff der „Ostmark“ erhielt nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich im Jahr 1938 eine völlige Neubestimmung: Er wurde zur amtlichen Bezeichnung für die einst zu Österreich gehörenden Reichsgebiete, obwohl diese ja nun eher den Süden des Reiches markierten. Nach dem Zweiten Weltkrieg verschwand „Ostmark“ sowohl in seiner ursprünglichen als auch in der abgewandelten Bedeutung aus dem Sprachgebrauch. Doch er erlebte in der Umgangssprache eine dritte Neubestimmung, die mit der ursprünglichen Bedeutung nichts mehr gemein hatte. Mit „Ostmark“ bezeichnete man nun die Währung der DDR, um diese von der Währung der Bundesrepublik zu unterscheiden. Schließlich hatten beide deutschen Staaten denselben Namen „Deutsche Mark“ für ihre unterschiedlichen Währungen gewählt.
Der Begriff „Deutscher Osten“ fiel in der DDR der Zensur zum Opfer. Mit Blick auf die sozialistischen Bruderländer war es politisch nicht mehr opportun, an die einstige Existenz deutschsprachiger Gebiete und Minderheiten auf dem Territorium Polens, der Tschechoslowakei oder der Sowjetunion zu erinnern. In der Bundesrepublik lebte der Begriff zunächst fort, nicht zuletzt durch die publizistische Tätigkeit der Vertriebenenverbände. Seiner völkischen Konnotationen mehr oder weniger entkleidet, diente „Deutscher Osten“ nun als Sammelbezeichnung für jene Gebiete in Nordost-, Ostmittel- und Südosteuropa, aus denen Deutsche im Zuge der von den Siegermächten beschlossenen Zwangsumsiedlungen nach dem Krieg vertrieben oder während des Zweiten Weltkrieges im Rahmen der von Hitler angeordneten Heim-ins-Reich-Aktion umgesiedelt worden waren. Er umfasste damit sowohl die einst zum Deutschen Reich gehörenden historischen Ostgebiete als auch Kulturlandschaften wie das Baltikum, die Böhmischen Länder, den südlichen Donauraum und Siebenbürgen, in denen größere deutschsprachige Minderheiten existiert hatten oder in wenigen Fällen weiterhin existierten.
Mit der geographischen Neudefinition vollzog sich auch ein Bedeutungswandel. In den Fokus trat nun der Heimatverlust, während die vermeintlichen Kolonisierungsleistungen in den Hintergrund rückten. Der „Deutsche Osten“ war nicht mehr frontier, Grenzkampfzone oder Eroberungsraum. Er stand stattdessen nun immer mehr für eine verlorene, hinter dem Eisernen Vorhang verschwundene Welt – mit der Tendenz zur nostalgischen Verklärung. Aus der Perspektive der Vertriebenen war es das Land der Kindheit oder eines früheren, oft als glücklicher erinnerten Lebens. Aber auch jenseits der Perspektive der Vertriebenen wurde der „Deutsche Osten“ nach 1945 zum Symbol für den Verlust einer ursprünglicheren, urwüchsigeren Welt, erinnert als ein Land der Wälder, Seen, Dünen und großen Ströme, weniger berührt von den sozialen Konflikten der modernen Industriegesellschaft, eine vormoderne Welt der Adelsgüter, Bauerndörfer und kleinen Städte, später mitunter auch als vermeintlich harmonischer Raum von Vielsprachigkeit und Multikulturalität. Es sind diese Motive, die die nach dem Krieg produzierten Bildbände zum „Deutschen Osten“ dominierten. Die rauchenden Schlote und Fördertürme Oberschlesiens, die modernen Hafenanlagen Stettins/Szczecins oder das großstädtische Treiben in Königsberg/Kaliningrad und Breslau/Wrocław waren im publizierten Bildmaterial zum „Deutschen Osten“ entsprechend weniger prominent vertreten. Der verlorene „Deutsche Osten“ war in der Vorstellung der Nachkriegszeit das nostalgische Gegenbild zur stark industrialisierten und kommerzialisierten Bundesrepublik. Daher wurde insbesondere Ostpreußen, die nordöstlichste, am wenigsten industrialisierte und durch einzigartige Naturlandschaften geprägte Provinz, zur bevorzugten Projektionsfläche dieser Vorstellungen. Die Nachkriegsliteratur mit Büchern wie So zärtlich war Suleyken (1955) von Siegfried Lenz oder Namen die keiner mehr nennt (1962) von Marion Gräfin Dönhoff hatte daran einen großen Anteil.
Aus dem westdeutschen akademischen Diskurs verschwand der politisch belastete Begriff „Deutscher Osten“ allmählich. Vereinzelte Versuche einer Neudefinition jenseits nationalistischer und rassistischer Zuschreibungen hatten es gegen die nationalsozialistischen Konnotationen des Begriffs schwer. Auch Alternativbegriffe für jene historische Grenzzone deutschsprachiger Siedlung im Osten, die sich durch ihre geographische Breite und ethnische Heterogenität von den anderen deutschen Grenzzonen unterschieden hatte, wurden nicht gefunden. Die Einführung des Begriffes „Germania Slavica“ durch den Berliner Mediävisten Wolfgang H. Fritze in den 1970er Jahren hatte einen gewissen Erfolg. Er bot der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der historischen Übergangszone germanisch-slavischer Siedlung einen Terminus, der frei war von ethnozentrischen und nationalistischen Zuschreibungen und damit auch das grenzüberschreitende wissenschaftliche Gespräch ermöglichte. Allerdings war der so beschriebene Raum nicht geeignet, auch die baltisch-deutschen, deutsch-ungarischen oder deutsch-rumänischen Übergangszonen zu erfassen.
Bis heute steht daher kein allgemein akzeptierter Terminus zur Verfügung, um das historische Phänomen eines sprachlich und kulturell konstituierten deutschen Kommunikationsraums jenseits der Staatsgrenzen in Mitteleuropa zu fassen. Dabei gehörten partiell deutschsprachige Stadtgesellschaften von Reval/Tallinn bis Kronstadt/Brașov/Brassó und deutschsprachige Universitäten wie in Dorpat/Tartu, Prag/Praha oder Czernowitz/Černivci/Cernăuţi bis ins 20. Jahrhundert hinein zur Realität der ostmitteleuropäischen Lebenswelt. Ähnliches ließe sich für polnische oder ungarische Kommunikationsräume sagen, und auch die Verbreitung der russischen Sprache und Kultur hat einen Kommunikationsraum geschaffen, der sich nicht mit den Grenzen russischer Staatlichkeit deckt. In der englischsprachigen Wissenschaft hat sich der unpolitische Begriff der „borderlands“ (Grenzländer) etabliert. Er eignet sich zur Beschreibung der ethnischen Gemengelage Ostmitteleuropas und lässt sich in Verbindung etwa mit „deutsch,“ „polnisch“ oder „tschechisch“ auf einen spezifischen Kultur- und Kommunikationsraum beziehen. Allerdings ist der Begriff in seiner deutschen Übersetzung als „Grenzland“ nicht frei von älteren, ungewünschten Konnotationen. Denn auch „Grenzland“ war ein zentraler Terminus der deutschen völkischen Wissenschaften.
3. Bibliographische Hinweise
Literatur
- Stefan Dyroff: Preußische Ostmark. Nationales Konkurrenzgebaren. In: Hans Henning Hahn, Robert Traba (Hg.): Deutsch-Polnische Erinnerungsorte. Bd. 1. Paderborn 2015, S. 157–175.
- Hans Henning Hahn, Eva Hahn: Der „deutsche Osten“ – Mythos? Realität? Verlorenes Traumland. In: Izabela Surynt, Marek Zybura (Hg.): Narrative des Nationalen. Deutsche und polnische Nationsdiskurse im 19. und 20. Jahrhundert. Osnabrück 2010, S. 379–396.
- Christoph Kleßmann, Robert Traba: Kresy und Deutscher Osten. Vom Glauben an die historische Mission – oder wo liegt Arkadien? In: Hans Henning Hahn, Robert Traba (Hg.): Deutsch-Polnische Erinnerungsorte. Bd. 3. Paderborn 2012, S. 37–70.
- Kristin Kopp: Germany's Wild East. Constructing Poland as Colonial Space. Ann Arbor 2012, S. 124–-149.
- Niels Werber: Die Geburt des ‚Deutschen Ostens‘ aus der geopolitischen Katastrophe des Ersten Weltkriegs. In: Claude De Conter, Oliver Jahraus, Christian Kirchmeier (Hg.): Der Erste Weltkrieg als Katastrophe. Deutungsmuster im literarischen Diskurs. Würzburg 2014, S. 87–-110.
- Vejas Gabriel Liulevicius: The German Myth of the East: 1800 to the Present. Oxford 2009.
- Hans-Christian Petersen: Deutsche Antworten auf die ‚slavische Frage‘. Das östliche Europa als kolonialer Raum in den Debatten der Frankfurter Paulskirche. In: Michael Fahlbusch, Ingo Haar, Anja Lobenstein-Reichmann, Julien Reitzenstein (Hg.): Völkische Wissenschaften. Ursprünge, Ideologien, Nachwirkungen. Berlin, Boston 2020, S. 54–-76.
- Izabela Surynt: Das „ferne“, „unheimliche“ Land. Gustav Freytags Polen. Dresden 2004.
- Gregor Thum: Mythische Landschaften: Das Bild vom „deutschen Osten“ und die Zäsuren des 20. Jahrhunderts. In: Ders. (Hg.): Traumland Osten. Deutsche Bilder vom östlichen Europa im 20. Jahrhundert. Göttingen 2006, S. 181–211.
- Gregor Thum: Seapower and Frontier Settlement. Friedrich List’s American Vision for Germany. In: Janne Lahti (Hg.): German and United States Colonialism in a Connected World. Entangled Empires. Cham 2021, S. 17–-39.
- Tobias Weger: Wie weit reicht der ‚Deutsche Osten‘? Kartographische Entgrenzungsstrategien. In: Andrew Demshuk, Tobias Weger (Hg.): Cultural Landscapes. Transatlantische Perspektiven auf Wirkungen und Auswirkungen deutscher Kultur und Geschichte im östlichen Europa. München 2015, S. 99–121.
- Günter Wollstein: Das „Großdeutschland“ der Paulskirche. Nationale Ziele in der Bürgerlichen Revolution von 1848/1849. Düsseldorf 1977.
Anmerkung
[1] Heinrich von Treitschke: Das Deutsche Ordensland Preußen. In: Preußische Jahrbücher 10 (1862), S. 95–151, hier S. 108.
Zitation
Gregor Thum: Deutscher Osten. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa. 2025. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32837 (Stand 05.06.2025).
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