Erinnerungsort

1. Genese

Begriffsgeschichte

Der Begriff Erinnerungsort ist ein Neologismus, der auf das von Pierre Nora (*1931) konzipierte und herausgegebene Werk „Les lieux de mémoire“ (1984-1992) zurückgeht. Noras Ausgangspunkt ist die Annahme, dass sich das individuelle ebenso wie das kollektive Gedächtnis an bestimmten „Orten“ orientiert, an denen nach allgemeiner Meinung etwas Wichtiges geschehen ist, an denen sich die „Erinnerungen bündeln“ und die dadurch zu „Kristallisationspunkten kollektiver Erinnerung und Identität“ (E. François 2001) werden. Noras Anliegen ist es, zu einer Geschichtsbetrachtung auf „höherer Ebene“ (Erinnerungsgeschichte) zu gelangen, die er als „Geschichte zweiten Grades“ bezeichnet. Ausgehend von der Geschichte Frankreichs unterscheidet Nora grundsätzlich zwischen materiellen Erinnerungsorten (z. B. Regionen, Städte, Gebäude) und Erinnerungsorten im übertragenen Sinne (z. B. historische Ereignisse, Persönlichkeiten, Institutionen, Bücher, Kunstwerke, Daten). Die Auseinandersetzung mit dem Konzept der Erinnerungsorte und vor allem seine Anwendung waren zunächst primär in westeuropäischen nationalen Zusammenhängen festzumachen und werden zunehmend auch auf Ostmitteleuropa übertragen. Der Begriff fand aber vereinzelt auch bei anderen Erinnerungskollektiven (z. B. Region, Konfession) Anwendung.

Fremdsprachige Entsprechungen

lat. loca memoriae; it. I luoghi della memoria; engl. places of memory, realms of memory, sites of memory, memory sites. Die slawische Entsprechung von Erinnerungsort (poln. Miejsca pamięci; tsch. místa pamětí; slow. místa pamäti) bedeutet „Gedenkstätte“ oder „Erinnerungsstätte“, so dass jeweils eine definitorische Klärung notwendig ist.

2. Definition

In Ostmitteleuropa lassen sich zahlreiche Erinnerungsorte mehreren ethnischen Gruppen zuordnen, von denen sie jeweils unterschiedlich wahrgenommen werden. Beispiele hierfür sind kulturell mehrfach codierte Städte wie Breslau/Wrocław, Pressburg/Bratislava/Pozsony oder Hermannstadt/Sibiu/Nagyszeben, historische Ereignisse (z. B. Schlacht bei Tannenberg, Zweiter Weltkrieg, Vertreibungen), Persönlichkeiten (z.B. Nikolaus Kopernikus) oder bestimmte Daten der älteren und neueren Geschichte mit national und regional übergreifender Bedeutung (z.B. 1945, 1956, 1968, 1989), die zugleich in unterschiedlichen Kontexten erinnert werden. Hier kann von „geteilten“ Erinnerungsorten gesprochen werden, weil mit ihnen jeweils eigene Inhalte und Wahrnehmungen verbunden werden. Zusätzlich werden noch „geteilte europäische Erinnerungsorte“ (François) unterschieden (z. B. Versailles), in denen sich europäische Bezüge verdichten. Die Anwendbarkeit des Konzepts der Erinnerungsorte auf die Vergangenheit Ostmitteleuropas und auf die historisch-ostdeutschen Regionen und Siedlungsgebiete von Deutschen im östlichen Europa ist verschiedentlich erprobt worden (z.B. „Schlesische Erinnerungsorte“). Herausgehobene methodische und historiographische Bedeutung hat das von Hans Henning Hahn und Robert Traba 2012-2015 herausgegebene fünfbändige Werk „Deutsch-polnische Erinnerungsorte“.

Im Mittelpunkt des Konzepts Erinnerungsort steht die subjektive Wahrnehmung der Vergangenheit in individuellen oder in Gruppenkontexten. Dabei bietet das Erinnerungsort-Konzept den Grundkonsens an, dass die Art und Weise dieser Wahrnehmung jeweils a priori subjektiv und von den Umständen der jeweiligen Gegenwart determiniert ist. Es ist der Konsens, dass jede Gruppe (ebenso wie Individuen) eigene Erinnerungen und Geschichtsbilder besitzen und dass sich diese unterscheiden können sowie Veränderungen und Entwicklungen unterworfen sind bzw. durch Agenten der Erinnerung (Geschichtspolitik) aktiv gestaltet werden. Aus diesem Konsens resultiert eine offene Herangehensweise an die Vergangenheit, die eine Auseinandersetzung mit der Geschichte jenseits von nationalen oder anderen interessenpolitischen Aspekten erlaubt. Insofern kann die Befassung mit und die Analyse von Erinnerungsorten, die Nora ursprünglich im Hinblick auf die französische Nationalgeschichte inventarisiert hatte, gerade in multiethnischen und multikonfessionellen Kontexten der Geschichte der Deutschen im östlichen Europa zu einem „Abgleichen“ von Geschichtsbildern (Dan Diner) beitragen. Hierdurch kann der Respekt vor jeweils anderen nationalen oder anderweitigen historischen Gruppenidentitäten gestärkt und können auch Wege einer transnationalen Geschichtsschreibung geebnet werden.

3. Diskurse/Kontroversen

Das Konzept der Erinnerungsorte wurde nicht abschließend definiert. Die ursprünglich ausschließliche Anwendung auf die Nationalgeschichte Frankreichs und die französische Nation durch Nora wurde inzwischen auf in nationaler Hinsicht „geteilte europäische Erinnerungsorte" (François) erweitert, also Erinnerungsorte die zugleich für mehrere Nationen von (unterschiedlicher) Bedeutung sind. M. Csáky fordert die Betrachtung spezifisch „europäischer Erinnerungsorte“ als Kristallisationspunkte europäischer Identitätsstiftung.

4. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Marek Czapliński u. a. (Hg.): Schlesische Erinnerungsorte. Gedächtnis und Identität einer mitteleuropäischen Region. Görlitz 2005.
  • Hans Henning Hahn, Robert Traba (Hg.): Deutsch-polnische Erinnerungsorte. Paderborn, München Wien, 2012-2015. Bd. 1: Geteilt/Gemeinsam; Bd. 2: Geteilt / Gemeinsam; Bd. 3: Parallelen; Bd. 4: Reflexionen; Bd. 5: Erinnerungen auf Polnisch. Texte zu Theorie und Praxis des sozialen Gedächtnisses.
  • Étienne François: Geteilte Erinnerungsorte, europäische Erinnerungsorte. In: Robert Born (Hg.): Visuelle Erinnerungskulturen und Geschichtskonstruktionen in Deutschland und Polen 1800–1939 (Wizualne konstrukcje historii i pamięci historycznej w Niemczech i w Polsce 1800–1939). Warzawa 2006, S. 17-32 .
  • Étienne François, Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, Bde. 1-3. München 2001.
  • Jacques Le Rider, Moritz Csáky, Monika Sommer (Hg.): Transnationale Gedächtnisorte in Zentraleuropa (Gedächtnis, Erinnerung, Identität 1). Innsbruck u. a. 2002.
  • Pierre Nora (Hg.): Les lieux de mémoire. Bde 1-3. Paris 1984-1992.
  • Matthias Weber u. a. (Hg.): Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Erfahrungen der Vergangenheit und Perspektiven (Schriften des BKGE 42). München 2011.

Weblinks

Robert Traba u. a.: „Deutsch-Polnische Erinnerungsorte - Polsko-niemieckie miejsca pamięci“. Reader für Autoren, im Internet unter: www.cbh.pan.pl/index.php?option=com_content&view=article&id=46&catid=21&lang=de

Zitation

Matthias Weber: Erinnerungsort. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2011. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32733 (Stand 29.11.2011).

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(Stand: 19.01.2024)  | 
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