Gedenktage

1. Definition

Die Setzung und Begehung von Gedenk- und Jahrestagen ist eines der ältesten mnemotechnischen Verfahren. Die Erinnerung an ein bestimmtes Ereignis wird durch die Bindung an ein im Jahreslauf immer wiederkehrendes Datum mit der zyklischen Zeit des Kalenders verknüpft. Die „Erinnerungsapparatur des Kalenders“[1] sorgt fortan automatisch für die periodische Wiederkehr eines spezifischen Erinnerungsimpulses. Zur Entfaltung seiner Erinnerungsfunktion bedarf der Gedenktag allerdings einer kontinuierlichen oder regelmäßig sich wiederholenden Relevanzzuschreibung durch Erinnerungsakteure. Zum Ausdruck kommt dies durch die organisierte Begehung des Gedenktages in meist ritualisierten Ablaufformen mit Reden, musikalischen Elementen, performativen Inszenierungen und symbolischen Handlungen. Gedenktage dienen der kollektiven Identitätsstiftung und -befestigung einer Gruppe, die unterschiedlich groß sein kann.

2. Gedenktage einzelner Vertriebenengruppen

Für die Vertriebenen aus einem gemeinsamen Herkunftsort können Gedenktage eine wichtige Erinnerungsfunktion einnehmen, indem sie das Gefühl der Zusammengehörigkeit aufrechterhalten. Nicht selten wird an den Heimatverlust an einem bestimmten Gedenktag erinnert. Für die Deutschen aus dem schlesischen Leobschütz/Głubczyce gilt zum Beispiel der 16. März als „Tag der Vertreibung“. 1945 erfolgten an diesem Tag die ersten sowjetischen Angriffe auf die Stadt, denen am Folgetag die Evakuierung durch die NS-Behörden folgte. Der Gedenktag besaß in den 1950er und 1960er Jahren eine über den Kreis der Leobschützer hinausgehende kommemorative Bedeutung. In der Patenstadt Oldenburg wurde an diesem Tag an das Schicksal der Leobschützer als pars pro toto für die Vertriebenen insgesamt öffentlich erinnert.

Auch einzelne Landsmannschaften begehen eigene Gedenktage, denen nicht nur gruppenbildende beziehungsweise -erhaltende Funktionen zukommen, sondern die darüber hinaus auch gesamtgesellschaftlich Aufmerksamkeit für das Schicksal der Deutschen aus dem Osten herstellen sollen. Nicht selten wird dabei an Gedenktage angeknüpft, die schon in der Zwischenkriegszeit existierten und die nach 1945 zusätzlich mit der Erinnerung an die Vertreibung verbunden wurden. Für die Oberschlesier zum Beispiel ist dies der 20. März, der als Jahrestag der Volksabstimmung von 1921 begangen wird, für die Sudetendeutschen der 4. März, an dem an die Niederschlagung von deutschböhmischen Demonstrationen für eine Separation von der Tschechoslowakei im Jahr 1919 erinnert wird.

In beiden Fällen wird auf Ereignisse rekurriert, denen eine besondere Relevanz für die Gruppenidentität zugesprochen wird und die zugleich als Symbole für das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen und das vermeintliche Unrecht der Versailler Friedensordnung gelten. Durch die Verknüpfung mit der Erinnerung an die erzwungene Migration nach dem Zweiten Weltkrieg suggerieren diese Gedenktage eine historische Kontinuität von Unrechtserfahrungen, als deren Höhepunkt die Vertreibung gilt.

3. Tag der Heimat als gemeinsamer Gedenktag der Vertriebenen

Schon im Gründungsjahr der Bundesrepublik beschlossen die beiden konkurrierenden Vorläuferorganisationen des Bundes der Vertriebenen (BdV), der Zentralverband der vertriebenen Deutschen (ZvD) und der Verband der ostdeutschen Landsmannschaften (VdL), am 20. November 1949 die jährliche Abhaltung eines gemeinsamen Gedenktages. Als erste öffentliche Umsetzung dieses Beschlusses gilt die Kundgebung der Charta der Heimatvertriebenen vor dem Stuttgarter Schloss am 6. August 1950. Bewusst wurde der Gedenktag auf den ersten Sonntag im August gelegt, um in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Jahrestag des Potsdamer Abkommens vom 2. August 1945 als „lebendiger Protest gegen Potsdam“ zu fungieren.[2]

Bereits 1955 verlegte man den Gedenktag auf Bitten der Bundesregierung auf den zweiten Sonntag im September, um eventuelle Störungen der im August stattfindenden Verhandlungen Konrad Adenauers (1876-1967) in Moskau/Moskva, bei denen es unter anderem um die Freilassung der letzten deutschen Kriegsgefangenen ging, zu vermeiden. Bei dem Termin im September blieb es nachfolgend bis heute.

Spezifisch für den Tag der Heimat ist seine dezentralisierte Ausrichtungsform, die auf einen möglichst hohen Mobilisierungsgrad abzielt. Nach einer zentralen Auftaktveranstaltung in Berlin am ersten Sonntag im September führen die Vertriebenenverbände in den darauf folgenden Wochen überall in der Bundesrepublik Gedenkveranstaltungen und Kundgebungen auf lokaler Ebene durch. Der BdV-Bundesverband gibt dazu ein jährlich wechselndes Leitwort sowie Richtlinien zur Durchführung heraus. Die lokalen Verbände kooperieren zudem eng mit den örtlichen Kommunen und den Landesregierungen. Die Veranstaltungen finden meist in größeren Sälen oder auf öffentlichen Plätzen statt und bestehen aus längeren Reden, folkloristischen Einlagen und Musikbeiträgen. Oft wird am Tag der Heimat auch ein Vertriebenendenkmal aufgesucht, an dem ein Totengedenken vorgenommen wird.

Bis 1990 galt der Tag der Heimat in erster Linie als politisches „Treuebekenntnis zu Gesamtdeutschland“,[3] wozu auch die ehemaligen deutschen Ostgebiete gezählt wurden. Nach der Wiedervereinigung rückten geschichtspolitische Aspekte in den Vordergrund, insbesondere die Forderung nach Anerkennung der Vertriebenen als einer zentralen Opfergruppe, sowie der Appell, Vertreibungen als Menschenrechtsverletzungen zu ächten und ein ‚Recht auf Heimat‘ zu etablieren.

4. Nationaler Gedenktag

Wird der Tag der Heimat bislang vom BdV durchgeführt, so bemühte sich dieser seit der Jahrtausendwende auch um die Installierung eines nationalen Gedenktages, der das jährliche Erinnern an die deutsche Zwangsmigration in staatliche Regie überführen würde. Die Fortführung der öffentlichen Erinnerungspraxis sollte damit auch zukünftig und unabhängig vom Bestehen des BdV garantiert und staatlich abgesichert sein. Der BdV wollte zudem mit einem nationalen Gedenktag die historische Bedeutung der Flucht und Vertreibung als ein Zentralereignis der deutschen Geschichte weiter untermauern und staatlich sanktionieren.

Die Politik reagierte darauf zunächst zurückhaltend. Vertreter verschiedener Parteien erklärten einen nationalen Gedenktag mit dem Hinweis auf das gemeinsame Gedenken an alle Opfer des Krieges am Volkstrauertag für überflüssig. Kritiker bemängelten, dass die Vertriebenen damit als einzige Gruppe neben den NS-Opfern, für die es seit 1996 einen eigenen Gedenktag am 27. Januar gibt, aus dem Kreis der Kriegsopfer besonders herausgehoben würden. Nach einem Bundesratsbeschluss im Jahr 2003 zur Einführung eines Gedenktages beschäftigte sich der Bundestag erst 2011 mit dem Thema. Kontrovers diskutiert wurde vor allem der vom BdV vorgeschlagene Termin am 5. August, nicht nur wegen des umstrittenen Charakters der Vertriebenencharta, deren Verkündigung sich an diesem Tag jährt, sondern auch wegen der zeitlichen Nähe zum Jahrestag des Potsdamer Abkommens. Im Juni 2013 beschloss die Koalition aus CDU/CSU und FDP schließlich eine Erweiterung des Weltflüchtlingstages am 20. Juni um das Gedenken an die deutschen Vertriebenen bei den Vereinten Nationen zu beantragen und nachfolgend an diesem Tag das Gedenken an die deutschen Vertriebenen auf nationaler Ebene zu begehen. Nach den Bundestagswahlen im September 2013 erklärte sich auch die SPD zur Einführung eines nationalen Gedenktages bereit und vereinbarte im Koalitionsvertrag mit der CDU/CSU, „die mahnende Erinnerung an Flucht und Vertreibung durch einen Gedenktag lebendig“ zu halten.[4] Am 27. August 2014 beschloss das Bundeskabinett daraufhin die Erweiterung des Weltflüchtlingstages am 20. Juni zum nationalen „Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung“, an dem ab 2015 insbesondere der deutschen Vertriebenen gedacht werden soll. In den Monaten zuvor hatten bereits die Bundesländer Bayern, Hessen und Sachsen die Einführung eines zentralen Gedenktages in staatlicher Regie für den zweiten Sonntag im September beschlossen, der erstmals am 14. September 2014 durchgeführt wurde.

Die öffentliche Erinnerung an die Zwangsmigration der Deutschen aus dem Osten wird zukünftig somit unabhängig von dem weiteren institutionellen Bestand der Vertriebenenverbände durch einen nationalen Gedenktag in staatlicher Regie weitergeführt. Dieser staatlich sanktionierte nationale Gedenktag bringt ein hohes Maß an Verbindlichkeit der Erinnerung für das gemeinsame und auch transgenerationelle Geschichtsbewusstsein der ganzen Nation und nicht nur der Vertriebenen als Teilgruppe zum Ausdruck. Der erste nationale Gedenktag wurde am 20. Juni 2015 in Berlin mit einer zentralen Gedenkveranstaltung im Schlüterhof des Deutschen Historischen Museums begangen, in deren Zentrum eine Rede des Bundespräsidenten Joachim Gauck stand.

5. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Aleida Assmann: Jahrestage – Denkmäler in der Zeit. In: Paul Münch (Hg.): Jubiläum, Jubiläum... Zur Geschichte öffentlicher und privater Erinnerung. Essen 2005, S. 305-314.
  • Klaus Bergmann: Gedenktage, Gedenkjahre und historische Vernunft. In: Sabine Horn, Michael Sauer (Hg.): Geschichte und Öffentlichkeit. Orte – Medien – Institutionen. Göttingen 2009, S. 24-31.
  • Karl Braun: Der 4. März 1919. Zur Herausbildung sudetendeutscher Identität. In: Bohemia 37 (1996), S. 353-380.
  • Marco Dräger: Ein Hoch auf Flucht und Vertreibung? Zur Einführung des neuen Gedenktages am 20. Juni. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 25 (2015), S. 49−54.
  • Jeffrey Luppes: The Commemorative Ceremonies of the Expellees: Tag der Heimat and Volkstrauertag. In: German Politics & Society 30 (2012), H. 2, S. 1-20.
  • Thomas Schmidt: Kalender und Gedächtnis. Erinnern im Rhythmus der Zeit. Göttingen 2000.
  • Stephan Scholz: Gedenktage. In: Ders., Maren Röger, Bill Niven (Hg.): Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung. Ein Handbuch der Medien und Praktiken. Paderborn 2015, S. 168−179.
  • Stephan Scholz: „Für die Opfer von Flucht und Vertreibung“. Genese und Gestaltung eines neuen nationalen Gedenktages. In: Historie. Jb. d. Zentrums für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften 10 (2016), S. 64–77 (online: http://www.cbh.pan.pl/sites/default/files/contents/Scholz.pdf).
  • David Zolldan: (Re-)Kapitulation. Der 20. Juni als Opfergedenktag und erinnerungskulturelles Instrument. In: Jahrbuch für Politik und Geschichte 7 (2016–2019), S. 189–202.

Anmerkungen

[1] Schmidt: Kalender und Gedächtnis, S. 9.

[2] So 1956 Jakob Kaiser, der Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen, hier zitiert nach Eva Hahn, Hans Henning Hahn: Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte. Paderborn u.a. 2010, S. 480.

[3] Gustl Huber: Tag der Heimat – Tag der Deutschen. Hrsg. v. Bund der Vertriebenen – Vereinigte Landsmannschaften und Landesverbände. 3., überarb. Aufl. Bonn 1998, S. 9.

[4] Deutschlands Zukunft gestalten. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. 18. Legislaturperiode, S. 113. URL: www.cdu.de/sites/default/files/media/dokumente/koalitionsvertrag.pdf (Abruf 21.07.2014).

Zitation

Stephan Scholz: Gedenktage. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2014. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32880 (Stand 01.12.2020).

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