Flüchtlinge und Vertriebene in der Republik Österreich

1. Begriff

Flüchtlinge und Vertriebene mit deutscher Muttersprache, die sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der Republik Österreich aufhielten, wurden dort als „Volksdeutsche“ (ethnic Germans) bezeichnet, vor allem in Abgrenzung zu „Reichsdeutschen“, aber auch den deutschsprachigen Österreichern und Südtirolern.[1] Die Begrifflichkeit schließt damit an Traditionen aus der Zwischenkriegs- und NS-Zeit an. Eine gewisse Sonderstellung nehmen dabei die böhmischen und mährischen Deutschen (Sudetendeutsche) ein, die seit 1938 die deutsche Reichsbürgerschaft besaßen.

2. Diskurse

Während die Bezeichnung „Volksdeutsche“ im zeitgenössischen amtlichen und öffentlichen Diskurs des Jahres 1945 gängig war, ist sie heute selbst im Vertriebenen-Milieu kaum noch geläufig. Wie etwa die Umbenennung des österreichischen Dachverbands der Landsmannschaften von „Verband volksdeutscher Landsmannschaften in Österreich (VLÖ)“ in „Verband der deutschen altösterreichischen Landsmannschaften in Österreich“ im November 2014 zeigt, wird sie zunehmend durch die Bezeichnung „Altösterreicher“ abgelöst.[2] Diese der politischen Belastung geschuldete neue Begrifflichkeit führt jedoch zu neuen Unschärfen, die in einer zum Teil widersprüchlichen Verwendung in Politik und Publizistik ihren Niederschlag finden. So galten im legistischen Sinne nach 1945 nur jene Angehörigen muttersprachlich deutscher Minderheiten auf dem Gebiet der Habsburgermonarchie, die bereits 1937 die österreichische Staatsbürgerschaft besessen hatten, als „Altösterreicher“. Dagegen werden im engeren, ethnografisch-regionalen Sinne die (ober-)österreichischen Protestanten („Landler“) als „Altösterreicher“ bezeichnet, die im 18. Jahrhundert nach Siebenbürgen umgesiedelt wurden. Auch für die eng mit Niederösterreich verbundenen deutschen Südmährer wurde und wird der Begriff verwendet. Daneben kann „Altösterreicher“ aber auch alle ehemaligen Einwohner des „alten Österreich“, das heißt der österreichischen Reichshälfte der Habsburgermonarchie, bedeuten.

Von den Angehörigen der deutschsprachigen Minderheiten auf dem Gebiet der ehemaligen Habsburgermonarchie besaßen zwar 100.000 bereits 1937 die österreichische Staatsbürgerschaft (waren also „Altösterreicher“ im legistischen Sinn), jedoch hatten an die 80.000 davon in den Jahren 1938–1945 Handlungen (etwa die Verehelichung mit einem „Reichsdeutschen“) getätigt, durch die sie dieser verlustig gingen und nun um Wiederverleihung ersuchen mussten. Dagegen wohnten etwa 20.000 Sudetendeutsche bereits vor 1938 in Österreich, ohne jedoch die österreichische Staatsbürgerschaft erlangt zu haben, und galten damit 1945 ebenso wie die anderen „Volksdeutschen“ als staatenlos, nachdem die „reichsdeutschen“ Einbürgerungen der Jahre davor von der Republik Österreich nicht anerkannt wurden.

3. Historischer Abriss

1945 befanden sich etwa 1,6 Millionen Displaced Persons (DPs) auf dem Gebiet der Republik Österreich (bei 6,5 Millionen österreichischen Staatsangehörigen). Davon waren ca. 1 Million Menschen fremd- und 660.000 deutschsprachig. Die Deutschsprachigen wurden zeitgenössisch in 260.000 „Reichsdeutsche“ und etwa 400.000 „Volksdeutsche“ unterteilt.[3] Während die Mehrheit der fremdsprachigen DPs sowie der „Reichsdeutschen“ bis Juni 1946 repatriiert wurden,[4] stellte sich für die sogenannten „Volksdeutschen“ die Frage nach der Eingliederung in die Aufnahmegesellschaft.

Nach Herkunftsstaaten teilten sich die nicht eingebürgerten „Volksdeutschen“ zum 21. Februar 1948 folgendermaßen auf: Jugoslawien: 139.539 (Donauschwaben, Gottscheer Deutsche, Südsteirer etc.), Tschechoslowakei: 113.648 (Sudetendeutsche, Karpatendeutsche), Rumänien: 56.601 (Siebenbürger Sachsen, Donauschwaben), Ungarn: 12.718, Polen: 9.530, Sonstige: 5.650.

Davon lebten 53.872 in Flüchtlingslagern. Dem gegenüber standen 139.352 fremdsprachige Ausländer, 51.594 Südtiroler und 24.791 ausländische Juden. 44.887 DPs hatten im Laufe des Jahres 1947 das Land verlassen.[5]

Den vielfältigen Verbindungen der Republik Österreich zu den deutschen Minderheiten auf dem Gebiet der ehemaligen Habsburgermonarchie zum Trotz verhielt sich die österreichische Politik in den Jahren 1945–1946 den Flüchtlingen und Vertriebenen gegenüber weitgehend ablehnend. Ihr Handlungsspielraum war jedoch durch die Letztverantwortung der alliierten Besatzungsmächte eingeschränkt, die etwa trotz Interventionen von Seiten der österreichischen Regierung die von tschechoslowakischer Seite nach Kriegsende gestarteten „wilden Vertreibungen“ der deutschen Südmährer und Südböhmen in die Bundesländer Nieder- und Oberösterreich nicht stoppten. Allerdings sollten die Bestimmungen des Potsdamer Abkommens auch auf Österreich angewandt und die aus der Tschechoslowakei, Ungarn und Polen gekommenen „Volksdeutschen“ in das besetzte Deutschland „repatriiert“ werden. Dies entsprach auch den Intentionen der österreichischen Regierung, die sich durch die Flüchtlinge materiell völlig überfordert sah, aber auch eine scharfe Trennlinie zu den eigenen großdeutschen Traditionen der Vorkriegszeit ziehen wollte.[6] Der österreichische Außenminister Karl Gruber (1909–1995, Österreichische Volkspartei) bemerkte etwa in Bezug auf die Sudetendeutschen in einem Gespräch mit seinem tschechoslowakischen Amtskollegen Jan Masaryk (1886–1948), dass dies Leute gewesen seien, „die Ihnen immer Schwierigkeiten bereitet haben und die sie jedem bereiten würden.“[7]

Insgesamt wurden so 1946 an die 160.000 „Volksdeutsche“ vor allem aus der sowjetischen Besatzungszone Österreichs in die US-amerikanische Besatzungszone Deutschlands abgeschoben. Das waren weniger als von der österreichischen Politik erwartet. Dazu kam, dass 1947 eine neue Flüchtlingswelle aus Jugoslawien einsetzte, die Aussiedelung der „repatriierbaren“ Personen nach Deutschland aber mit Jahresende 1946 de facto (nicht die jure) von den Alliierten eingestellt wurde. 1951 befanden sich so etwa 383.000 „Volksdeutsche“ im Land, davon etwa ein Drittel im Bundesland Oberösterreich. Zu diesem Zeitpunkt waren 145.000 bereits eingebürgert,[8] 238.000 ohne österreichische Staatsbürgerschaft.[9] 1953 standen 329.471 „Volksdeutschen“ (davon 147.612 eingebürgerten) 76.690 fremdsprachige DPs, 83.895 „Reichsdeutsche“ und 76.960 Südtiroler gegenüber.[10]

Integrationsbemühungen wurden seitens der Regierung und Verwaltung, auch im Hinblick auf die eingeschränkte Souveränität des Landes, anfangs nur schleppend unternommen. Die Gewährung des Bleiberechts und die (nach Antrag jeweils individuelle) Verleihung der Staatsbürgerschaft erfolgten zunächst nach Kriterien der Verwendbarkeit am Arbeitsmarkt, aber auch die regionale und kulturelle Nähe spielte eine Rolle. Bevorzugt behandelt wurden die Bewohner der unmittelbar an Österreich angrenzenden Regionen, vor allem Südböhmens und -mährens, aber auch Westungarns (Ödenburg/Sopron), der ehemaligen Südsteiermark und des Kanaltals. So waren 1951 bereits 60 % aller Sudetendeutschen, aber nur 10 % der Siebenbürger Sachsen eingebürgert.[11] Ähnlich variierte auch die Aufnahmebereitschaft der Bevölkerung in Abhängigkeit von Nähe und Ferne sowie von dem möglichen Nutzen der betroffenen Menschen für die Aufnahmegesellschaft. So wurden vor allem in der Landwirtschaft Arbeitskräfte als Ersatz für die Zwangsarbeiter der Kriegszeit gebraucht.

Erst seit 1951 war die Arbeitsberechtigung auch in den nichtlandwirtschaftlichen Berufen nicht mehr an die österreichische Staatsbürgerschaft gebunden. In sieben „Gleichstellungsgesetzen“ wurden die Grundlagen für die wirtschaftliche und soziale Eingliederung geschaffen. Finanzielle Hilfen kamen aus den Mitteln des „Marshall-Plans“, des nach Gilbert Jäger, Mitarbeiter des UN-Flüchtlingshochkommissariats, benannten „Jäger-Plans“ und des „Österreich-Programms“ der Bundesregierung. Schließlich erlangten mit dem „Optionsgesetz“ 1954 die bis dahin nicht eingebürgerten „Volksdeutschen“ durch Abgabe einer einfachen Erklärung die Staatsbürgerschaft. Aus den „Volksdeutschen“ wurden damit auch de jure Österreicher.

4. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Tony Radspieler: The ethnic german refugee in Austria 1945–1954. The Hague 1955 (Studies in social life 2).
  • Oliver Rathkolb: Verdrängung und Instrumentalisierung. Die Vertreibung der Sudetendeutschen und ihre verspätete Rezeption in Österreich. In: Barbara Coudenhove-Kalergi, Oliver Rathkolb (Hg.): Die Beneš-Dekrete. Wien 2002, S. 138–151.
  • Brunhilde Scheuringer: Dreißig Jahre danach – Die Eingliederung der volksdeutschen Flüchtlinge und Vertriebenen in Österreich. Wien 1983 (Abhandlungen zu Flüchtlingsfragen 13).
  • Eduard Stanek: Verfolgt – verjagt – vertrieben. Flüchtlinge in Österreich von 1945–1984. Wien, München, Zürich 1985.
  • Stickler, Matthias: Vertriebenenintegration in Österreich und Deutschland – ein Vergleich. In: Verschiedene europäische Wege im Vergleich. Österreich und die Bundesrepublik Deutschland 1945/49 bis zur Gegenwart. Festschrift für Rolf Steininger zum 65. Geburtstag. Hg. von Michael Gehler und Ingrid Böhler. Innsbruck 2007, S. 416-435

Anmerkungen

[1] Radspieler: The ethnic german refugee, S. 5f.

[2] Verband der deutschen altösterreichischen Landsmannschaften in Österreich: www.vloe.at/dervloe.html (Abruf 12.01.2015).

[3] Die statistischen Angaben differieren stark und können bis zur ersten amtlichen Erfassung 1948 nur als Schätzwerte betrachtet werden. Neben der starken Fluktuation müssen auch die Probleme bei Erfassung und Zuordnung in Betracht gezogen werden. Die an dieser Stelle verwendeten Angaben entstammen Radspieler: The ethnic german refugee, S. 37–43. Radspieler bezieht sich auf Zahlenmaterial aus dem Bundesministerium für Inneres sowie dem Österreichischen Statistischen Zentralamt.

[4] Im Juli 1946 befanden sich nur mehr etwa 76.000 „Reichsdeutsche“ sowie 173.000 nichtdeutschsprachige Flüchtlinge im Land. Vgl. Radspieler: The ethnic german refugee, S. 62.

[5] Stand vom 28. Februar 1948, nach: Österreichisches Jahrbuch 1948. Hg. vom Bundespressedienst. Wien 1948, S. 104–105.

[6] Dazu Oliver Rathkolb: Verdrängung und Instrumentalisierung. Die Vertreibung der Sudetendeutschen und ihre verspätete Rezeption in Österreich. In: Coudenhove-Kalergie/Rathkolb (Hg.): Die Beneš-Dekrete, S. 138–151, hier S. 139–141.

[7] Zitiert bei Rathkolb: Verdrängung und Instrumentalisierung (Anm. 6), S. 140.

[8] Davon betraf die Hälfte Wiedereinbürgerungen von Personen, die die bis 1937 besessene österreichische Staatsbürgerschaft zwischenzeitlich verloren hatten.

[9] Die Zahlen entstammen hier Scheuringer: Eingliederung, S. 57f. Die Autorin verweist auf Datenmaterial des Bundesministeriums für Inneres.

[10] Stand vom 1. Oktober 1953, nach Radspieler: The ethnic german refugee, S. 62f.

[11] Vgl. Scheuringer: Eingliederung, S. 57.

Zitation

Niklas Perzi: Flüchtlinge und Vertriebene in der Republik Österreich. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2015. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32875 (Stand 16.04.2015).

Nutzungsbedingungen für diesen Artikel

Copyright © Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (BKGE), alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk entstand im Rahmen des Projekts „Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa“ und darf vervielfältigt und veröffentlicht werden, sofern die Einwilligung der Rechteinhaber vorliegt. Bitte kontaktieren Sie:

Wenn Sie fachliche Hinweise oder Ergänzungen zum Text haben, wenden Sie sich bitte unter Angabe von Literatur- und Quellenbelegen an die Redaktion.

(Stand: 19.01.2024)  | 
Zum Seitananfang scrollen Scroll to the top of the page