Kolonialismus

1. Begriff

Kolonialismus (lat. colonia: Niederlassung, Ansiedlung) bezeichnet eine auf den Erwerb und Ausbau von Kolonien gerichtete Politik.

2. Definition

Die Essenz des Begriffs "Kolonialismus" liegt in dem Leitmotiv der Expansion einer Gesellschaft über ihren bestehenden Siedlungsraum hinaus. Als Kolonialismus werden die Anstrengungen eines Kollektivs zur Errichtung und Stabilisierung einer Herrschaftsbeziehung über ein kulturell fremdes Kollektiv bezeichnet. Dem kolonisierten Kollektiv werden fundamentale Möglichkeiten einer selbstbestimmten Lebensführung genommen, wobei die Herrschaftsausübung typischerweise mit einer angenommenen kulturellen Überlegenheit und dem Gedanken einer zivilisatorischen Mission gerechtfertigt wird

3. Begriffserklärung

Der Historiker Jürgen Osterhammel nennt zwei entscheidende Merkmale zur Bestimmung des Kolonialismus: die Ausübung von Herrschaft über eine Gesellschaft und die mit ihr verbundene völlige Fremdsteuerung ihrer Entwicklung sowie die Konstruktion einer speziellen kulturellen Fremdheit zwischen Kolonisator und Kolonisierten. Ebenfalls von Bedeutung ist die Annahme einer Entwicklungsdifferenz zwischen Kolonisator und Kolonisierten, auf der die Kontrolle der kolonisierten Gesellschaft beruhen soll. Weitere Merkmale sind der Unwille der Kolonisatoren, sich an die Kultur der Kolonisierten anzupassen und die Forderung einer fast vollständigen Akkulturation der Kolonisierten an die kulturellen Normen des Kolonisators. Die Verknüpfung des Begriffs "Kolonialismus" mit dem der Herrschaft liegt nahe, birgt aber die Gefahr eines zu engen Verständnisses des Begriffs, das den vielfältigen kolonialen Realitäten nicht gerecht wird. Sebastian Conrad plädiert für ein weit gefasstes Verständnis des Begriffs, die Betonung der Konstruktion eines asymmetrischen Identitätsverhältnisses. Koloniale Verhältnisse in Grenzregionen oder Zwischenräumen treten neben die 'klassischen' kolonialen Beziehungen in den Fokus der Forschung. Kolonialismus hat demnach eine primäre und eine sekundäre Seite, zum einen die konkrete Ausübung von Herrschaft, zum anderen die Etablierung einer kolonialen Identität, beruhend auf der Produktion kolonialer Fremdheit.

Abgrenzung vom Imperialismus

Mit dem Begriff des "Imperialismus" werden alle Anstrengungen bezeichnet, die zum Aufbau transkontinentaler Imperien unternommen werden. Imperiales Handeln bedeutet insbesondere, die eigenen nationalstaatlichen Interessen im Kontext der internationalen Politik durchzusetzen. Kolonialismus ist demnach ein Spezialfall im Rahmen einer größer gefassten imperialen Weltpolitik.

Motive und Legitimation

Zu Beginn des modernen Kolonialismus dürften wirtschaftliche Interessen den Ausschlag für die koloniale Expansion gegeben haben. Der Bedarf der Europäer an Gewürzen, Farbstoffen, Gold und Sklaven ließ sich durch die Erschließung und Beherrschung neuer Bezugsquellen kostengünstig decken. Von Anfang an spielte der christliche Missionsgedanke eine wichtige Rolle im Prozess der kolonialen Expansion. Die Verbreitung des Christentums in der "heidnischen Welt" wurde im 19. Jahrhundert durch die "Zivilisierungsmission" abgelöst. Die "Hebung wilder Naturvölker" sollte dem Kolonialismus einen humanitären Anstrich verleihen; die "Rückständigkeit" der außereuropäischen Welt wurde als direkte Aufforderung zur Kolonisation verstanden. Ein weiteres Motiv für die koloniale Expansion stellte die Überbevölkerung Europas dar, die viele Menschen zur Auswanderung veranlasste und die Gründung von Siedlungskolonien zur Folge hatte. Zum Ende des 19. Jahrhunderts spielten imperialistische Rivalitäten der Kolonialmächte eine größer werdende Rolle für den kolonialen Expansionsprozess. Dies führte zu dem sogenannten Wettlauf um die Kolonisation der noch verbliebenen Weltgebiete. Koloniale Expansionsvorhaben bedurften des Zusammenwirkens mehrerer Triebfedern, um in die Tat umgesetzt zu werden.

4. Kolonialismus in Ostmitteleuropa

Die Abwendung der neueren Forschung von der "Salzwasser-These"[1] ermöglicht es, nach kolonialen Beziehungen in Europa zu fragen. Insbesondere die preußische Ostmarkenpolitik, der deutsche Osteuropadiskurs des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, das Verhältnis des habsburgischen Reichs zu seinen Ostgebieten sowie die nationalsozialistische Expansionspolitik während des Zweiten Weltkrieges sind als Thema der Kolonialgeschichte interessant geworden. Im deutschen Osteuropadiskurs finden sich Parallelen auf der Ebene der Rhetorik und der Vorstellung, die die Interpretation des Diskurses als kolonialen Diskurs ermöglichen. Als Beispiel kann die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts vollziehende Umdeutung des mittelalterlichen Landesausbaus zur kolonialen Mission des deutschen Volkes, die einer Legitimation der Germanisierungspolitik des Deutschen Reiches dienen sollte, angeführt werden. Ebenso kann die nationalsozialistische Besatzungspolitik als kolonial interpretiert werden. Hier finden sich Parallelen in Diskurs und Praxis, die für einen auf Osteuropa gerichteten Kolonialismus sprechen. Die Errichtung einer Herrschaft in den besetzten Gebieten zielte nicht auf eine temporäre Machtübernahme, sondern war darauf ausgerichtet, diese Gebiete auf unbegrenzte Zeit zu beherrschen und in den Dienst des Deutschen Reiches zu stellen. Koloniale Äußerungen Hitlers sind vor dem Hintergrund einer kolonialen Tradition im deutschen Raum nicht mehr nur als Ausdruck diktatorischen Größenwahns zu betrachten, sondern auch als Fortführung eines tief verwurzelten gesellschaftlichen Diskurses zu sehen.

5. Historischer Abriss

Als zeitlicher Rahmen des Phänomens eines modernen Kolonialismus gilt die Periode von der Ausdehnung des portugiesischen und spanischen Einflussbereiches auf Afrika und Südamerika bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Bei einer Zeitspanne, die knapp vier Jahrhunderte umfasst, kann nicht von einem einheitlichen und eindimensionalen historischen Prozess des Kolonialismus ausgegangen werden. Vielmehr handelt es sich bei der langen Geschichte des Kolonialismus um eine Geschichte einzelner "Kolonialismen", die sich hinsichtlich ihres Kerns ähneln, aber auch zentrale Unterschiede aufweisen.

6. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Sebastian Conrad: Deutsche Kolonialgeschichte. München 2008.
  • Johannes Feichtinger, Ursula Prutsch, Moritz Csáky (Hg.): Habsburg Postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis. Innsbruck u. a. 2003 (Gedächtnis, Erinnerung, Identität 2).
  • Jürgen Osterhammel: Kolonialismus. Geschichte – Formen – Folgen. 6. durchges. Aufl. München 2009.
  • Winfried Speitkamp: Deutsche Kolonialgeschichte. Stuttgart 2005.
  • David Spurr: The Rhetoric of Empire. Colonial Discourse in Journalism, Travel Writing and Imperial Administration. London 1993 (Post-Contemporary Interventions Series).

Anmerkungen

[1] Robert L. Nelson: Introduction. Colonialism in Europe? The Case against Salt Water. In: Ders: Germans, Poland and colonial expansion to the East. New York 2009, S. 1-10, hier S. 1.

Zitation

Christoph Kienemann: Kolonialismus. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2013. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32722 (Stand 31.01.2013).

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OME-Redaktion (Stand: 30.07.2024)  | 
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