Flüchtlingssiedlungen
1. Definition
Als Flüchtlingssiedlungen werden Siedlungen bezeichnet, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zur Behebung der durch den Krieg und seine Folgen bedingten Wohnungsnot gebaut und auch oder überwiegend von Flüchtlingen und Vertriebenen aus den ehemals deutschen Reichs- und Siedlungsgebieten im östlichen Europa bewohnt wurden.
2. Historischer Abriss
Die Unterbringung der Flüchtlinge und Vertriebenen stellte die Besatzungsmächte und die deutschen Behörden angesichts der großen Zahl von Menschen und der Zerstörungen von Wohnraum[1] durch Kriegshandlungen vor immense Probleme. Der vorübergehenden Aufnahme dienten daher neben Einquartierungen bei Einheimischen Flüchtlingslager, die nur teilweise neu errichtet wurden, zumeist aber vormalige Sammelunterkünfte von NS-Organisationen oder des Militärs, Kriegsgefangenen-, Zwangsarbeiter- und sogar Konzentrationslager waren. Dabei handelte es sich überwiegend um Barackenlager an der Peripherie von Städten und Dörfern. Fast immer vergingen mehrere Jahre, bis die Flüchtlinge und Vertriebenen in eigenen, nicht behelfsmäßigen Wohnraum umziehen konnten.[2] Dieser entstand auch durch die Errichtung von Siedlungen seit Ende der 1940er Jahre, verstärkt Mitte der 1950er bis in die 1960er Jahre. Wichtige Voraussetzungen dafür schufen in Westdeutschland das allgemeine Wirtschaftswachstum nach der Währungsreform und staatliche sowie kommunale Finanzhilfen, wie sie mit dem ersten Wohnungsbaugesetz aus dem Jahr 1950 und zahlreichen daran anschließenden kommunalpolitischen Fördermaßnahmen für einen sozialen Wohnungsbau auf den Weg gebracht wurden. Bauträger waren neben den Kommunen oftmals gemeinnützige Genossenschaften, zu deren Bestand zahlreiche Siedlungen bis heute gehören. Auch verschiedene Formen der Siedler-Selbsthilfe (Gründung eigener Genossenschaften, Eigenleistung beim Bau) wurden praktiziert.
Auch in der SBZ/DDR gab es Bestrebungen, den Mangel an Wohnraum zu beseitigen, so im Kontext der Bodenreform durch staatliche Hilfen für die Errichtung von Wohn- und Wirtschaftsgebäuden von Neubauern, unter denen sich ca. 43 % Flüchtlinge und Vertriebene befanden. Die Neubauernhöfe entstanden meist dort, wo die sogenannten Umsiedler zuvor bereits provisorisch untergebracht waren, z. B. auf Gutshöfen, oder als Ausbau bestehender Dörfer, um deren Infrastruktur zu nutzen.
3. Größe, Lage und Struktur
Zu unterscheiden sind 1. kleinere Flüchtlingssiedlungen innerhalb bestehender Stadt- bzw. Ortsteile von 2. Siedlungen, die selbst einen neuen Ortsteil bildeten und deren größere über eigene Einkaufsmöglichkeiten, öffentliche Infrastruktur (Schulen, Bäder, Bibliotheken etc.) und Kirchen verfügten sowie 3. selbständige Gemeinden (s. u.). Unselbständige Siedlungen entstanden vor allem an den Rändern größerer Städte sowie in Kleinstädten und Dörfern, von denen aus man zur Arbeit in die Städte pendeln konnte. In abgelegenen ländlichen Gebieten dagegen findet man, abgesehen von den o. g. Neubauern-Siedlungen, kaum geschlossene Flüchtlingssiedlungen.
Einen Sonderfall unter den Flüchtlingssiedlungen stellen die sogenannten Flüchtlingsgemeinden dar, also ganze Orte, die durch die Ansiedlung von Flüchtlingen und Vertriebenen meist auf zuvor militärischen Zwecken dienenden Liegenschaften gegründet wurden. So entstanden Waldkraiburg, Geretsried, Neugablonz, Traunreut und - als einzige städtische Neusiedlung in Norddeutschland - Espelkamp-Mittwaldjeweils auf dem Gelände von Munitionsfabriken mit zugehörigen (Zwangs-)Arbeiterlagern. Mit der Neugründung bzw. der Weiterentwicklung dieser außerhalb bestehender Ortschaften entstandenen Siedlungen ging die Ansiedlung von Industrie und Gewerbe einher, oftmals im Rückgriff auf industrielle und gewerbliche Traditionen der Herkunftsgebiete, so griff z. B. die Glasherstellung und -veredelung in Neugablonz die Tradition aus dem böhmischen Gablonz/Jablonec nad Nisou auf. Zudem nutzte man die vorhandenen Industriegebäude und -anlagen und führte ehemalige Belegschaften am neuen Wohnort zusammen, um alte Betriebe wieder aufzubauen.
4. Architektur
Mehrfamilienhaus der Gemeinnützigen Baugenossen-
schaft der Ostvertriebenen zu Oldenburg (Olbg.),
Goten- Ecke Widukindstraße, Fertigstellung zwischen
1952 und 1955 [Foto: 2013, privat].
Nicht nur im Hinblick auf die Finanzierung durch staatliche Hilfen und die Errichtung durch gemeinnützige Bauträger, sondern auch architektonisch folgten die Siedlungen in Westdeutschland nach 1945 Vorbildern, die im Kontext der Wohnungsnot der frühen 1920er Jahre entwickelt und in der NS-Zeit wieder aufgegriffen wurden. Angelehnt an den auf wenige Stilelemente (Satteldach, Gauben u. a.) reduzierten sogenannten Heimatstil und zur Kosteneinsparung als Typenhäuser geplant und gefertigt, entstanden Einfamilien- und Mehrfamilienhäuser mit höchstens drei Geschossen. Die Grundrisse folgten den Minimallösungen, die im sozialen Wohnungsbau der Weimarer Republik entwickelt worden waren. Bei Einfamilienhäusern waren oftmals Möglichkeiten zur (teilweisen) Selbstversorgung durch Gärten und Kleinviehhaltung vorgesehen, zudem galten Eigenheime als besonders geeignet um die Menschen an den neuen Wohnort zu binden. Seltener und bevorzugt in Großstädten wurden auch Bauformen der Moderne aus der Zwischenkriegszeit aufgegriffen, so in der Siedlung Stuttgart-Rot durch Hochhausentwürfe der Architekten Hans Scharoun und Wilhelm Frank.
5. Soziale Aspekte/Integration
Da der Erhalt von Wohnungsbaudarlehen bzw. von Wohnungen in den mit staatlichen Mitteln neuangelegten Siedlungen in der Bundesrepublik nicht allein an den Flüchtlingsstatus gebunden war,[3] lebten dort auch Alteingesessene, Zugezogene aus anderen Teilen der BRD sowie DDR-Flüchtlinge, wobei die Flüchtlinge und Vertriebenen oft eine große Gruppe, selten aber die absolute Mehrheit stellten.[4] Aussagen zum Verlauf der Integration ihrer Bewohner sind aufgrund der "Vielseitigkeit, Verschiedenartigkeit, Vielschichtigkeit und Verflochtenheit der sozialen Beziehungen[5] innerhalb der Siedlungen und über diese hinaus in verkürzter Form nicht möglich. Aus Zeitzeugenaussagen geht jedoch übereinstimmend hervor, dass der Umzug in eine "eigene", "richtige", d. h. allein bewohnte, nicht behelfsmäßige (Siedlungs-)Wohnung einen wesentlichen Schritt zur Integration darstellte.
6. Benennung
Viele ehemalige Flüchtlingssiedlungen erkennt man noch heute an den nach Orten in der "alten Heimat" gewählten Straßennamen wie Gleiwitzer oder Danziger Straße. In einigen Fällen kam es zwischen Behörden und Bewohnern zu Konflikten um die Namensgebung.[6] Die Benennung ganzer Siedlungen erfolgte bevorzugt unter Rückgriff auf lokale Gegebenheiten wie alte Flurnamen. Auch Spottnamen wie "Paprikasiedlung" oder "Kittelweiberdorf" sind überliefert, die sich in diskriminierender oder selbst-ironisierender Weise auf die Herkunft der Bewohner und ihre Gewohnheiten bezogen.
7. Bibliographische Hinweise
Literatur
- Hermann Bausinger, Markus Braun, Herbert Schwedt: Neue Siedlungen. Volkskundlich-soziologische Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts Tübingen. Stuttgart 1959.
- Andreas Dix: "Freies Land". Siedlungsplanung im ländlichen Raum der SBZ und frühen DDR 1945–1955. Köln u. a. 2002.
- Elisabeth Fendl: Aufbaugeschichten. Eine Biographie der Vertriebenengemeinde Neutraubling. (Schriftenreihe der Kommission für Deutsche und Osteuropäische Volkskunde in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde e.V. 91) Marburg 2006.
- Alfred Karasek-Langer: Neusiedlung in Bayern nach 1945. Einschnitt in unserer Volksgeschichte. In: Jahrbuch für Volkskunde der Heimatvertriebenen 2 (1956), S. 24-102.
- Elisabeth Pfeil: Städtische Neugründungen. In: Friedrich Edding, Eugen Lemberg (Hg.): Die Vertriebenen in Westdeutschland. Bd. 1. Kiel 1959, S. 500-520.
- Günther Schulz: Wiederaufbau in Deutschland. Die Wohnungsbaupolitik in den Westzonen und in der Bundesrepublik von 1945 bis 1957. Düsseldorf 1994.
Anmerkungen
[1] In Westdeutschland fehlten 21 % der 1939 vorhandenen Wohneinheiten, vgl. Günter Schmölders: Finanzierungsprobleme im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Eingliederung der Heimatvertriebenen. Berlin 1955 (Schriften des Vereins für Sozialpolitik, NF 6/II), S. 41, in der SBZ/DDR war der Verlust mit 10 % des Vorkriegsbestands zwar geringer, es fehlten dennoch 1,9 Mio. Wohnungen (ohne Berlin, Stand 01.10.1946), vgl. Alexander von Plato, Wolfgang Meinicke: Alte Heimat - neue Zeit. Flüchtlinge, Umgesiedelte, Vertriebene in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR. Berlin 1991, S. 47.
[2] Viele Lager bestanden - mit abnehmender Belegung - bis weit in die 1960er Jahre hinein, einzelne bis Anfang der 1970er Jahre, z. B. das Kieler Lager Julienlust, dessen letzte Bewohner 1972 auszogen. Vgl. Uwe Carstens: Die Flüchtlingslager der Stadt Kiel. Sammelunterkünfte als desintegrierender Faktor der Flüchtlingspolitik. Marburg 1992, S. 199ff.
[3] Das Erste Wohnungsbaugesetz von 1950 diente laut § 1 dem "soziale[n] Wohnungsbau" und sollte Wohnraum schaffen "für die Heimatvertriebenen und die übrigen Bevölkerungsgruppen […], die ihre Wohnungen durch Kriegsfolgen verloren haben". Bundesgesetzblatt I, Nr. 16, vom 26. April 1950, S. 83.
[4] Der Anteil der Flüchtlinge und Vertriebenen, die bis 1953 in der Bundesrepublik in mit Mitteln aus dem Soforthilfegesetz (SHG) erstellten Wohnungen lebten, wird auf 60 % geschätzt. Vgl. Schmölders (wie Anm. 1), S. 44.
[5] Bausinger, Braun, Schwedt: Neue Siedlungen, S. 141.
[6] In Stuttgart-Giebel wehrten sich beispielsweise die Bewohner gegen Straßennamen mit Amphibien-Bezeichnungen. Bausinger, Braun, Schwedt: Neue Siedlungen, S. 153.
Zitation
Heinke M. Kalinke: Flüchtlingssiedlungen. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2013. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32810 (Stand 19.08.2013).
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