Neubürger

1. Definition

Als „Neubürger“ werden neu in ein Gemeinwesen aufgenommene Mitglieder bezeichnet, die über bestimmte Rechte verfügen.

2. Historischer Abriss

Im Mittelalter wurden neu aufgenommene Stadtbürger „Neubürger“ genannt. Bürger konnte werden, wer Eigentümer einer Wohnimmobilie war, eine Geldzahlung leistete, ein bestimmtes Lebensalter erreicht hatte und persönlich frei war. Zum Bürgerrecht zählte auch die Zugehörigkeit zur städtischen Gerichtsgemeinde sowie deren Rechtsschutz. Nur Bürger hatten das Recht zur Wahl der Stadtregierung. Nachdem mit dem Ende des Alten Reiches (1806) das städtische Bürgerrecht an Bedeutung verloren hatte, wurde der Begriff „Bürger“ mit „Staatsbürger“ gleichgesetzt, und die Bezeichnung „Neubürger“ kam außer Gebrauch.

Wieder eingeführt und erstmals von behördlicher Seite verwendet wurde sie nach dem Zweiten Weltkrieg in Thüringen zur Bezeichnung der aufgenommenen Flüchtlinge und Vertriebenen.[1] In der Sowjetischen Besatzungszone wurde die auf Befehl der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland eingerichtete Flüchtlingsverwaltung „Zentralverwaltung für deutsche Umsiedler“ (ZVU) genannt. Dementsprechend bezeichnete man hier Flüchtlinge und Vertriebene amtlicherseits als „Umsiedler“.[2] Als weitere Bezeichnung kam in Thüringen der Begriff „Neubürger“ hinzu, als dort im Februar 1946 ein „Landesausschuss für Neubürger“ eingerichtet wurde.[3]

Größte Verbreitung fand der Begriff „Neubürger“ ebenfalls in Thüringen, er wurde aber auch in Sachsen und Mecklenburg sowie in Ländern der amerikanischen Besatzungszone gebraucht: Von Thüringen scheint die Bezeichnung nach Hessen gekommen zu sein und von dort nach Baden-Württemberg und Bayern. In der französischen und britischen Zone wurde sie dagegen kaum benutzt. In Thüringen wurde sie – wie auch der Begriff „Umsiedler“ – nach Auflösung des Landesamtes für Neubürger zum Jahreswechsel 1948/1949 als amtliche Bezeichnung kaum noch verwendet, weil die rasche Verschmelzung mit der einheimischen Bevölkerung diese Bezeichnungen überflüssig gemacht habe.[4] Im Gebiet der alten Bundesrepublik ging die Verwendung von „Neubürger“ in der Verwaltung mit dem Erlass des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) von 1953 zurück, in dem die Bezeichnungen „Vertriebene“, „Heimatvertriebene“ und „Flüchtlinge“ definiert wurden.

Im allgemeinen Sprachgebrauch wurde die Bezeichnung „Neubürger“ allerdings im Rahmen der steigenden Zuwanderung seit den 1990er Jahren und der damit verbundenen Integrationsangebote wieder häufiger gebraucht. Heute werden neu in eine Kommune zugezogene deutsche wie ausländische Zuwanderer als „Neubürger“ bezeichnet. So werden zum Beispiel in vielen Kommunen regelmäßig „Empfänge“ oder „Stadtführungen für Neubürger“ angeboten.

3. Diskurse/Kontroversen

Kritik am Begriff Neubürger übte die zuständige Abteilung des SED-Zentralsekretariats. Sie forderte im August 1947 vom thüringischen SED-Landesvorstand die Übernahme des zoneneinheitlich verordneten „Umsiedler“-Begriffs, da „die Umsiedler […] nach ihrer Einweisung Bürger und keine Neubürger“ seien und insofern der „Neubürger“-Begriff auch inhaltlich verfehlt sei. Durch seinen Alleingang habe Thüringen „faktisch drei Kategorien von Umsiedlern geschaffen, nämlich Umsiedler, Neubürger und Bürger“.[5]

Die SED-Zentrale konnte sich aber mit ihrer Kritik nicht vollständig durchsetzen: Die Bezeichnung Neubürger wurde gelegentlich selbst von zentralen Regierungsstellen weiterhin verwendet und hielt sich in der DDR „bis weit in die 1950er Jahre hinein“.[6]

Dass Thüringen zwischen dem 1. und 16. April 1945 zunächst von amerikanischen Truppen besetzt und hier der „Bund demokratischer Sozialisten“ (BdS) gegründet wurde, der mit einer eigenen Programmatik die Parteien SPD und KPD vereinigen wollte, mag zum Erfolg des Begriffs „Neubürger“ hier und in der amerikanischen Zone beigetragen haben. Untersucht wurde diese Frage bislang nicht, es spricht aber viel dafür, dass die Bezeichnung „Neubürger“ aus dem Kreis der Mitglieder des BdS stammt, der „einen neuen Typ der Demokratie wünschte, der sich nicht in einem leeren formelhaften Parlamentarismus erschöpft, sondern den breiten Massen in Stadt und Land eine effektive Bestätigung in Politik und Verwaltung ermöglicht.“[7] Inwieweit die Bezeichnung „Neubürger“ direkt auf Hermann Brill (1895–1959), die führende Persönlichkeit des BdS, zurückgeht, muss offen bleiben. Als Leiter der hessischen Staatskanzlei von Juli 1946 bis 1949 begleitete Brill nach seiner Flucht aus der SBZ die Gründung des hessischen „Landesamtes für Flüchtlinge (Neubürger)“. Dem zu gründenden Landesamt gab er in seiner Kabinettsvorlage den Titel „Landesamt für Neubürger“.[8]

In den Ländern der SBZ sollte der Begriff „Neusiedler“ helfen, den Begriff „Umsiedler“ zu vermeiden und so noch weniger darauf hinzuweisen, dass es in der SBZ Flüchtlinge und Vertriebene gab, die nicht in ihre Heimat zurück konnten; zudem gab es hier auch politische Kräfte, die hofften, mit den Flüchtlingen Menschen gefunden zu haben, die dem gewünschten „neuen Geist“ schon deshalb besonders nahestanden, weil sie ihre alten Bindungen verloren hatten. In der amerikanischen Zone dagegen spielte bei der häufigen Verwendung wohl auch eine psychologische Komponente mit hinein, nämlich Flüchtlingen wie Einheimischen zu zeigen, dass die Flüchtlinge, an deren dauerhaftem Bleiben es keinen Zweifel geben durfte, bereits den Weg zur erfolgreichen materiellen und mentalen Integration beschritten hatten.

4. Bibliographische Hinweise

Literatur

  • Michael Schwartz: „Vom Umsiedler zum Staatsbürger“. Totalitäres und Subversives in der Sprachpolitik der SBZ/DDR. In: Dierk Hoffmann, Marita Krauss, Michael Schwartz (Hg.): Vertriebene in Deutschland. Interdisziplinäre Ergebnisse und Forschungsperspektiven. München 2000, S. 135–166.

Anmerkungen

[1] Vgl. grundlegend dazu Schwartz: „Vom Umsiedler zum Staatsbürger“, hier besonders Abschnitt 3, S. 149–153.

[2] Exemplarisch dazu Paul Merker: Die nächsten Schritte zur Lösung des Umsiedlerproblems. Berlin 1947, S. 24. Vgl. auch Arnd Bauerkämper: Verwaltung und Gesellschaft. Ambivalenzen des Verhältnisses am Beispiel der ‚Umsiedler‘-Behörden in der SBZ/DDR 1945–1952. In: Jochen Oltmer (Hg.): Migration steuern und verwalten. Deutschland vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Göttingen 2003 (Schriften des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück 12), S. 227–251.

[3] Helga A. Welsh: Thüringen. In: Martin Broszat, Hermann Weber (Hg.): SBZ Handbuch. Staatliche Verwaltungen, Parteien, gesellschaftliche Organisationen und ihre Führungskräfte in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1945–1949. München 1990, S. 167–189, hier S. 183.

[4] Schwartz: „Vom Umsiedler zum Staatsbürger“, S. 153.

[5] Schwartz: „Vom Umsiedler zum Staatsbürger“, S. 151. Schwartz zitiert hier aus: SED-Zentralsekretariat, Abt. Arbeit und Sozialfürsorge, Weck/Belcke, an SED-Landesvorstand Thüringen, Abt. Arbeit und Sozialfürsorge, 12.08.1947. In: Bundesarchiv Berlin, DO 2/4 Bl. 150ff.

[6] Schwartz: „Vom Umsiedler zum Staatsbürger“, S. 152.

[7] Zitat aus dem Buchenwalder Manifest, abgedruckt in Hermann Brill: Gegen den Strom. Wege zum Sozialismus. Heft 1. Offenbach 1946, S. 96–102, hier S. 98.

[8] Vgl. Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Best. 502 Nr. (0) 7804: Kabinettsitzung am 29. Januar 1947 (Punkt 25: Landesamt für Neubürger). Das Kabinett änderte in seiner Sitzung vom 29. Januar 1947 zwar die von Brill vorgeschlagene Amtsbezeichnung „Landesamt für Neubürger“ in „Landesamt für Flüchtlinge (Neubürger)“, behielt aber den von Brill favorisierten Begriff „Neubürger“ als Ergänzung in Klammern bei.

Zitation

Bernhard Parisius: Neubürger. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2015. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32803 (Stand 03.12.2021).

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